Russ Harris

ACT der Liebe


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einer erfundenen Filmfigur nachempfinden können, den sehr realen Schmerz der Menschen, die wir lieben, aber häufig vollkommen vergessen?

      Menschen sind soziale Tiere. Wenn es um Herzensangelegenheiten geht, sind wir uns fast alle ziemlich ähnlich. Wir wollen geliebt, respektiert und umsorgt werden. Wir wollen uns mit anderen verstehen und die Zeit mit ihnen generell genießen. Wenn wir mit den Menschen, die wir lieben, kämpfen, wenn wir sie zurückweisen oder uns von ihnen distanzieren, fühlen wir uns nicht gut. Und wenn sie mit uns kämpfen, uns zurückweisen oder sich von uns distanzieren, fühlen wir uns noch schlimmer. Wenn Sie also mit Ihrem Partner kämpfen, leiden Sie beide.

      Vielleicht zeigt Ihr Partner Ihnen seinen Schmerz nicht; vielleicht wird er einfach wütend oder stürmt aus dem Haus oder stellt still den Fernseher an und beginnt zu trinken, aber tief im Inneren leidet er genauso wie Sie. Vielleicht weigert sich Ihre Partnerin, mit Ihnen zu reden, vielleicht kritisiert sie Sie in scharfem Ton oder geht mit ihren Freundinnen aus, aber tief im Inneren leidet sie genauso wie Sie. Es ist so wichtig, dies zu erkennen und im Gedächtnis zu behalten. Wir neigen dazu, uns so sehr in unserem eigenen Leiden zu verfangen, dass wir leicht vergessen: Unser Partner sitzt im selben Boot wie wir.

      Angenommen, Ihr Partner hat tief sitzende Verlassensängste: befürchtet, dass Sie ihn für jemand „Besseres“ verlassen werden. Oder angenommen, er hat Angst davor, sich gefangen zu fühlen, kontrolliert oder „erstickt“ zu werden. Wenn Sie dann kämpfen, werden diese Ängste in ihm aufsteigen; möglicherweise ist er sich ihrer nicht einmal bewusst, weil sie sehr schnell unter Schuldzuweisungen oder Groll begraben werden. Oder angenommen, tief in seinem Inneren fühlt Ihr Partner sich zutiefst wertlos: hält sich für unzulänglich, nicht liebenswert, nicht gut genug. Das an sich ist schon schmerzhaft, doch zeigen Menschen, die sich in ihrem Inneren so fühlen, zudem häufig ein Verhalten, das die Beziehung belastet. Möglicherweise sucht Ihr Partner dauernd nach Bestätigung, fordert Anerkennung für das, was er erreicht oder beiträgt, bittet Sie ständig um Beteuerung Ihrer Liebe oder Bewunderung für ihn oder wird ziemlich eifersüchtig und besitzergreifend. Wenn Sie dann mit Frustration, Verachtung, Kritik, Ungeduld oder Langeweile reagieren, verstärken Sie sein tief sitzendes Gefühl der Wertlosigkeit. Und das gibt dann Anlass zu noch mehr Schmerz.

      Wie Ihre Beziehung begann

      Zu erkennen, dass Sie beide seelische Schmerzen haben, ist ein wichtiger Schritt hin zum Neuaufbau Ihrer Beziehung. Wenn Paare das erste Mal in meine Praxis kommen, beginne ich die Sitzung deshalb immer mit einer kleinen Einleitung. Ich sage so etwas wie: „Offensichtlich sind Sie hergekommen, um über die Probleme in Ihrer Beziehung zu reden und darüber, wie sie sich lösen lassen. Bevor wir das aber tun, möchte ich etwas darüber wissen, wie Sie sich kennen gelernt haben und wie Ihre Beziehung war, bevor die Probleme anfingen.“ Dann bitte ich jeden Einzelnen, die folgenden Fragen zu beantworten:

      • Wie haben Sie sich kennen gelernt?

      • Was fanden Sie, abgesehen vom Aussehen, am attraktivsten an ihm/ihr?

      • Welche persönlichen Eigenschaften bewunderten Sie am meisten an ihm/ihr?

      • Was haben Sie gerne gemeinsam getan?

      • Was tat Ihr Partner, das diese Unternehmungen angenehm machte?

      • Beschreiben Sie einen der schönsten Tage, den Sie je miteinander verbracht haben. Wo waren Sie? Was taten Sie? Wie verhielten Sie sich zueinander? Was sagten Sie einander und was taten Sie miteinander? Wie war Ihre Körpersprache?

      • Was aus der Anfangszeit Ihrer Beziehung vermissen Sie am meisten?

      • Was sehen Sie als die größten Stärken Ihres Partners?

      Dahinter steckt eine bewusste Strategie. Wenn sie zu mir kommen, befinden sich beide Partner in einem konflikt- und spannungsgeladenen Zustand. Beide haben sich in einer Geschichte darüber verfangen, was an dem anderen nicht stimmt. Beide leiden so sehr, dass sie wahrscheinlich den Bezug zu vielen der Dinge verloren haben, die ursprünglich Gründe dafür waren, warum sie sich zueinander hingezogen fühlten. Diese Fragen verbinden sie vorübergehend mit wärmeren, weicheren Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen. Wenn sie zu antworten beginnen, kann man deutlich sehen, wie sie sich entspannen. Zusammengebissene Zähne lockern sich. Düstere Blicke verschwinden. Sie machen es sich auf ihren Stühlen bequem. Gesichter werden weich. Statt sich gegenseitig wütend anzustarren oder sich bewusst wegzudrehen, beginnen sie einander anzublicken und zuzuhören. Einer oder beide können sogar lächeln oder feuchte Augen bekommen. Dies zu sehen, ist herzerwärmend. Sie haben spontan ein Gefühl der Verbundenheit wiederentdeckt.

      Leider ist das nicht immer der Fall. Manchmal antwortet ein Partner auf wenig hilfreiche Art: „Ich kann mich nicht erinnern“, „Ich weiß nicht, ob wir wirklich jemals gerne zusammen waren“ oder „Wir haben nie einen schönen Tag miteinander verbracht. Selbst an unserem Hochzeitstag haben wir uns gestritten“. In anderen Fällen spricht ein Partner warmherzig und liebevoll, der andere aber starrt vollkommen desinteressiert in die Luft, lächelt zynisch oder langweilt sich ganz offensichtlich. Diese einfachen Fragen und ihre Antworten liefern deshalb einen Reichtum an Information.

      Nehmen Sie sich nun also einen Moment Zeit und beantworten Sie diese Fragen selbst. Schauen Sie sie sich noch einmal an und denken Sie still ein paar Minuten über sie nach. Oder, noch besser, schreiben Sie Ihre Antworten in Ihr Tagebuch und achten Sie dabei darauf, was Sie fühlen:

      • Können Sie Kontakt zu einem warmherzigen Gefühl oder zu Wertschätzung für Ihren Partner herstellen? Oder sehen Sie ihn lediglich als eine Last, ein Hindernis, eine Plage?

      • Was geschieht, wenn Sie sich die Zeit nehmen, über seine Stärken und positiven Eigenschaften nachzudenken? Sehen Sie ihn dann irgendwie anders?

      • Fällt es Ihnen schwer, seine positiven Eigenschaften wahrzunehmen und anzuerkennen, weil Sie sich so sehr auf seine Fehler und Schwächen konzentrieren?

      Ihre Antworten geben Ihnen wichtige Informationen. Wenn Sie keinen Kontakt zu irgendeinem Empfinden von Warmherzigkeit, Zärtlichkeit oder Wertschätzung für Ihren Partner herstellen können, haben Sie wahrscheinlich große Schmerzen und sind Ihre Warmherzigkeit und Ihre Zuneigung unter Schichten des Grolls, des Schmerzes, der Wut, Furcht oder Enttäuschung begraben. Machen Sie sich dann keine Vorwürfe. Selbstgeißelung erhöht lediglich den bereits vorhandenen Schmerz. Nehmen Sie sich stattdessen einen Moment Zeit, um zu erkennen, dass Sie leiden. Und sagen Sie sich etwas Freundliches und Fürsorgliches: etwas in der Art, wie Sie es Ihrem besten Freund oder Ihrer besten Freundin sagen würden, wenn er oder sie so große Schmerzen hätte wie Sie.

      Wenn diese Übung Sie hingegen wieder mit etwas Warmherzigkeit und Zärtlichkeit für Ihren Partner verbindet, achten Sie darauf, wie sich das anfühlt. Wie ist es, Ihren Partner aus einer positiven Perspektive zu betrachten, statt ihn als „ein Problem“ zu sehen, das „gelöst werden muss“?

      Nächste Schritte

      Als Nächstes frage ich in dieser ersten Sitzung jeden Partner, warum er gekommen ist, was er zu erreichen hofft und was er als das größte Problem bzw. die größten Probleme in der Beziehung ansieht. Ich bitte beide, zu versuchen, die Probleme so wertfrei wie möglich zu beschreiben – zum Beispiel nicht zu sagen: „Er ist ein fauler Putzmuffel“, sondern vielmehr „Ich habe sehr viel höhere Ansprüche an Sauberkeit als er“. Das ist ein wichtiger erster Schritt: zu beginnen, sachliche Beschreibungen vorzunehmen, statt scharfe Urteile zu fällen. Und es fällt den meisten von uns nicht leicht. Allzu oft muss ich einschreiten. Hier ist ein Beispiel aus meiner ersten Sitzung mit Juan und Claire:

JUAN:Sie ist so eine Nervensäge.
RUSS:Was meinen Sie damit?
JUAN:Sie macht mir immer Stress. Mach dies. Mach das. Mach jenes. Russ: Worum bittet sie Sie?
JUAN:Meistens darum, sauberzumachen. Aufzuräumen und sauberzumachen. Derlei Mist.
RUSS:Claire bittet Sie also häufig mehrfach, aufzuräumen und sauberzumachen?
JUAN:Und ob sie das tut.

      Beachten