Christian Herwartz

Brücke sein


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ganz kleine Schritte in diese Richtung aussehen können, davon handelt dieses Buch.

      Die Freundschaft zwischen Klaus und mir ist ein Beispiel für eine solche Grenzüberschreitung.

      Sie begann in einer Zeit harter Auseinandersetzungen. Ende der 80er-Jahre suchte unsere kleine Jesuitengemeinschaft in Berlin-Kreuzberg den Kontakt zu Gefangenen der Roten Armee Fraktion. Als sie 1989 in den Hungerstreik traten, begann eine intensive Beziehung zu ihren Angehörigen. Mit ihnen bin ich auf der großen Demonstration während des Hungerstreiks in Bonn gewesen und habe im Auftrag unserer Gruppe vor 10 000 Teilnehmern gesprochen. Dann wurden wir auch von den Gefangenen selbst eingeladen, sie zu besuchen. Diesen Schritt konnten damals nicht alle Mitbrüder leichten Herzens mitansehen. Besonders nicht jene, deren Familien zu den Angriffszielen der RAF gehört hatten, wie die von Klaus. Sein Vater war Mitglied der Regierung gewesen, weshalb ein Anschlag auf ihn hatte verübt werden sollen. Diese angedrohte Ermordung seines Vaters und der Menschen, die dann zufällig in seiner Nähe sein würden, hat Klaus traumatisiert.

      Als wir uns 1994 besser kennenlernten, war diese Gefahr zwar lange vorbei – die Gefangenen aus der RAF waren fast alle entlassen –, doch für Klaus bedeutete die Begegnung mit mir eine erneute Konfrontation mit seinen Erlebnissen.

      Niemand im Orden und in unserer Umgebung hätte damals geglaubt, dass wir in engeren Kontakt treten würden. Nicht nur wegen unseres unterschiedlichen Umgangs mit der RAF-Vergangenheit. Wir sind einfach Teil verschiedener Welten: Klaus kommt aus einer Diplomatenfamilie, hat einen sehr konservativen Hintergrund und ist bis heute als Schulrektor Vertreter einer Institution und insofern mit Macht ausgestattet. Ich ging damals noch als Arbeiterpriester in die Fabrik und lebe bis heute ohne Amt oder Posten in unserer Wohngemeinschaft zusammen mit Menschen am Rand der Gesellschaft. Meine Mitbewohner haben mich teilweise auch gefragt: Wieso hast du Umgang mit so jemandem?

      Als Klaus damals in die Naunynstraße kam, hatte ich eine spontane Abwehr, denn ich war gegenüber Lehrern aufgrund eigener traumatisierender Schulerfahrungen nicht sehr positiv gestimmt. Doch ich hatte seit meiner Schulzeit auch Anstrengungen unternommen, dieses Trauma zu überwinden, und so war für mich klar, dass ich mich der Begegnung mit Klaus stellen wollte, trotz unserer unterschiedlichen Positionen im Orden und in der Gesellschaft. Entscheidend für das Gelingen unseres Treffens war Klaus’ Fähigkeit, sich als Mensch nicht von der Machtposition, die er als Schulrektor innehat, mitreißen zu lassen. In unseren Gesprächen kann er das beiseitelassen und mir auf Augenhöhe begegnen – für mich ist er nicht vorrangig der Rektor.

      Nähergebracht haben uns vor allem gemeinsame Interessen: Klaus ist Mitglied der Härtefallkommission geworden, die letzte Chance für abgelehnte Flüchtlinge, doch noch einen gesicherten Aufenthalt zu bekommen. Er hat die Konflikte in seiner Kommunität mit Homosexuellen angenommen und ist dafür beschimpft worden. Er hat eine Schülerin, die in einer Notlage war, geradezu als Kind angenommen. Nicht formal, aber er hat sie in die Kommunität aufgenommen, weil sie von ihrer Mutter verstoßen worden war und der Vater sie verleugnete. Später kam Klaus auch mit in die Gruppe »Ordensleute gegen Ausgrenzung«. Gemeinsam stehen wir mindestens vier Mal im Jahr vor der Abschiebehaft, also vor Mauern, die uns an die Mauern um Europa erinnern. Wir gedenken der Tausenden von Menschen, die jedes Jahr bei dem Versuch, sie zu überwinden, sterben.

      2005 hat Klaus mir zum ersten Mal erzählt, dass er von dem etwa 30 Jahre zurückliegenden sexuellen Missbrauch an Jugendlichen in der Schule gehört hat. Er konnte damals nichts machen, weil ihm alles im Vertrauen gesagt worden war und er es höchstens anonymisiert weitergeben durfte. Die beiden Haupttäter waren schon lange aus dem Orden ausgetreten. Doch 2010 wurde er von drei ehemaligen Schülern offen auf die entsetzlichen Ereignisse angesprochen. Sie fragten ihn, ob er ihnen die Adressen ihrer Schulkameraden geben könnte. Die drei wollten sich mit ihnen in Verbindung setzen, um von ihren eigenen Missbrauchserfahrungen zu erzählen und von den anderen zu erfahren, wie es ihnen ergangen war. Dieses Anliegen wollte er unterstützen, und so schrieb er an die ihm verfügbaren Adressen der ehemaligen Schüler der potenziell betroffenen Jahrgänge. In diesem Brief forderte er sie unter anderem auf, sich an ihn oder die Beauftragte für die Prüfung sexuellen Missbrauchs zu wenden und von ihren Erfahrungen zu erzählen. Der Brief gelangte dann eine Woche später durch einen der Adressaten an die Berliner Morgenpost.

      Als Klaus diesen Brief an die ehemaligen Schüler schrieb, fragte er mich wie andere Mitbrüder auch, ob das jetzt der richtige Schritt sei. Wir wussten ja, dass dieser Brief, an viele Hundert ehemalige Schüler verschickt, ganz sicher an die Presse weitergegeben werden würde. Im weiteren Prozess kam Klaus häufig zu uns, wenn seine eigene Kommunität überfordert war. Sie hat sehr hinter ihm gestanden, aber bei bestimmten Themen haben seine Mitbrüder ihm gesagt: Geh mal in die Naunynstraße und sprich mit den Leuten. Denn in seiner Kommunität gab es keine Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch, und hier in der Naunynstraße waren immer Leute da, die eigene Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch hatten.

      Dafür, dass wir beide unsere Grenzen überschritten haben und eine Freundschaft wachsen lassen konnten, war wesentlich, dass wir beide in unsere Abgründe des Ausgegrenztseins geblickt und sie auch einander gezeigt haben. Das ist ein wechselseitiger Prozess: Indem er offen geworden ist für seine eigenen Verletzungen – dazu gehört die nachhaltige Erschütterung, den Vater unter Umständen durch einen Anschlag der RAF verlieren zu können – konnte ich auch für meine eigenen Wunden offen werden. Dazu gehörten mein Schultrauma, aber auch verächtliche Ausgrenzungen auf der Arbeit und im Orden. Genau darin liegt ja das Heilende der Liebe.

      Erstaunlicherweise ist es mir dann, als ich selbst Gesprächspartner für Missbrauchsopfer wurde und ich mich in die persönliche Begegnung mit diesen Menschen begeben habe, um eine ganz ähnliche Haltung gegangen. Mir war am wichtigsten, den Opfern zuzuhören und nach einer Chance zu suchen, dass sie nicht nur Opfer sind. Das gilt natürlich für die Täter genauso. Auch sie brauchen die Chance, aus dieser Erstarrung, den anderen zu missbrauchen, herauskommen zu können. Das gelingt nicht einfach so. Ich habe mich gefragt, welche Vorgaben ich machen kann, damit ich mich wenigstens auf den Weg begebe.

      Ein erster Schritt ist, mich nicht als der Bessere darzustellen, und ganz besonders, mich nicht rauszuhalten. Dieses Raushalten ist der Beginn der Distanzierung, also die Verweigerung des Bekehrungsschrittes, mir selbst einzugestehen, dass ich damit etwas zu tun habe, auch wenn ich damals nicht dabei war und vielleicht ganz woanders gelebt habe. Bekehrung findet in dem Moment statt, in dem ich mich nicht herausziehen will aus dieser menschlichen Beziehung, die zu den Opfern, aber auch zu den Tätern besteht und die mich nicht auf einer Seite festhält. Und die mir zeigt, dass ich beide Seiten in mir habe, dass ich Täter sein kann und dass ich von Machthabern oft genug missbraucht worden bin. Darüber habe ich bei Gefängnisbesuchen von lebenslänglich Verurteilten oft nachgedacht. Diese Dinge weiter wirken zu lassen und darüber offen zu werden für das, was jetzt dran ist, empfinde ich als Herausforderung. Denn es kann sein, dass für das Opfer etwas ganz anderes dran ist als für den Täter. Aber die Versöhnung, auf die ich hoffe, ist die Begegnung von beiden.

      Wie dieser Prozess abläuft, in dem wir herausfinden, was jetzt dran ist, ist von zwei Schritten geprägt: Als Erstes geht es darum, wirklich zuzuhören, ohne etwas zu sagen und ohne zu verurteilen. Und der zweite Schritt besteht darin, zu spüren, was angemessen ist, wie sie als Opfer auf ihre Erlebnisse reagieren können und ob es für sie dran ist, auch etwas zu fordern. Ich als Zuhörer setze mich damit auseinander und spüre nach, was ich davon verstehen und bejahen kann. Beispielsweise habe ich von Menschen die Forderung gehört, dass alle Jesuiten, die von dem Missbrauch gewusst haben, »eliminiert« werden sollen. Damit war gemeint, dass sie von ihrer Position entbunden, aus dem Orden ausgeschlossen und auch nicht christlich beerdigt werden sollen. Für mich sind das überdrehte Forderungen, die ich nicht verstehen kann. Für die Fordernden ist es wiederum schwer verständlich, dass diese Menschen meine Mitbrüder und Jesuiten bleiben. Wir als Orden sind eine kranke Familie, die sich von dem Missbrauch distanzieren muss, aber nicht von dem Menschen, der einen anderen missbraucht hat.

      Ich möchte die Opfer dabei unterstützen, auch zu ihren Forderungen zu stehen. Mein Wunsch ist, dass Heilung passiert, aber ich kann sie nicht machen, und ich muss aufpassen, dass ich nicht aus dem Prozess aussteige, wenn er nicht schnell genug geht und Heilung nicht sichtbar passiert.

      Etwas