Christian Herwartz

Brücke sein


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habe oder einer Illusion von Kirche als dem heiligen Ort auf der Erde? Und zu merken, dass er nicht so heilig ist, wie ich ihn in meiner Vorstellung und meiner Identitätssuche gesehen habe. Das ist eine Umkehr, die Bekehrung zu einem neuen Bild von Kirche und von mir selbst darin.

      SW: Und das erfordert Mut.

      CH: Ja, Mut, dass dieses ewig Richtige eben nicht ewig richtig ist. Also dass das Leben weitergeht und – wie soll ich das sagen? – ich das nicht erzwingen kann beim andern. Das ist wahnsinnig schwer. In der Gesellschaft werden dann die Geschütze aufgefahren und die Juristerei wird bemüht, aber das ist ja alles äußerlich. Entscheidend ist doch: Wie weit geht es innerlich? Da geht es oft gar nicht mit Vorwürfen. Es ist eine Frage des Vertrauens, ob ich mit dem anderen so reden kann, dass er sich öffnet und dass ich mich öffne und dann vielleicht auch eine Furcht spüre, die mir vorher gar nicht bewusst war, aber die Tarnung fallen lasse, die Schuhe ausziehe. Ich denke, diesen Weg zu gehen, ist allgemein menschlich, das hat nichts mit einer Religion zu tun.

      SW: Ja. Aber die katholische Kirche ist gezwungen worden, aktiv zu werden, weil sich die Opfer zu Wort gemeldet haben – zum Teil ja schon viel früher – und die Bereitschaft da war, zu hören.

      CH: Die Frauen haben das in den 80er-Jahren sehr oft gesagt und viele Artikel geschrieben und so, und sie sind auch ganz überwiegend die Leidtragenden von sexuellem Missbrauch. Man rechnet damit, dass in Deutschland jede dritte oder vierte Frau solche Erfahrungen in ihrer Jugend gemacht hat. Das ist ein Krebsgeschwür für mich.

      Diesmal waren es Männer. Männern wird gesellschaftlich irgendwie schneller zugehört. Und man hat einen Sündenbock gehabt, in diesem Fall die Kirche, das hat es auch leichter gemacht. Aber es ist ein ganz kleiner Prozentsatz in der Gesellschaft, in der das unter diesem Vorzeichen passiert, und den entscheidenden Sprung haben wir noch lange nicht gemacht. Aber ich bin der Meinung, dass wir vor der eigenen Haustür zu fegen haben, und die Erfahrung, die wir gemacht haben, einmal festzuhalten. Das war der Grund für dieses Buch, Unheilige Macht, das ein Anfang ist, endlich hinzugucken und nicht mehr wegzugucken. Ich habe gelernt, dass die schwierigste Geschichte in dem ganzen Missbrauchsthema ist, dass die Betroffenen ihren Vertrauenspersonen sofort davon erzählt haben, sieben Mal im Durchschnitt, und es erst, wenn die darauf nicht hören, zu dieser Verdrängung über Jahre kommt. Der Kern des Missbrauchs ist für mich das Nichthören, und damit sind wir wieder bei unserem Thema. Damit sind wir auch beim Grundthema der Juden: »Höre Israel!« Oder bei anderen Religionen. Es geht darum, wieder ins Hören zu kommen. Deshalb gibt es in diesem Buch auch ein zusätzliches Kapitel unter dem Titel »Bekehrung lässt sich nicht eingrenzen: Wohin wir noch schauen wollen«. Wie reagiere ich denn dann darauf? Habe ich aus diesem Unglück gelernt oder höre ich auch hier wieder weg? Das ist für mich die spannende Frage. Wir haben am Ende des Buches eine ganze Reihe Themen aufgelistet, wo wir noch gar nicht hinhören, wo wir noch nicht die Kraft dazu haben.

      SW: Kannst du sagen, wie das bei dir persönlich ist? Was hat sich bei dir verändert, dein Bild von Kirche oder deine Identität als Jesuit?

      CH: Das ist eine sehr gute Frage. Ich kann vielleicht noch gar nicht alles sagen, weil ich noch mitten in dem Prozess stecke. Aber ich weiß, ich kann die Kirche und den Orden nicht mehr ohne diese Verbrechen sehen. Das bremst mich, glorifizierende Aussagen zu machen. Wenn ich von Kirche rede, kann ich das nicht mehr in der gleichen Weise wie vor 30 Jahren. Ich kann das noch nicht genauer benennen, ich weiß nur, das geht nicht mehr. Zum Glück hat mir das Vertrauen von Menschen, die durch solche Schmerzen gegangen sind, einen Zugang erhalten zu dieser Wirklichkeit, die ich noch nicht auf den Punkt bringen kann.

      SW: Du hast gesagt, dass du früher von Kirche anders sprechen konntest als jetzt?

      CH: Ich habe mich früher ein bisschen ferngehalten von den ganzen sexuellen Fragen, weil ich das als Ablenkung gesehen habe von der sozialen Frage, vor die ich gestellt war und auch weiter gestellt bin. Aber jetzt ist mir klar, dass diese Fragen auch wichtig sind, dieser Teil der Kirche, den ich für furchtbar zerstörerisch halte. Jetzt haben sich die Fragen vor die Tür gelegt, und ich kann nicht mehr so tun, als wenn ich sie nicht anschauen müsste.

      SW: Um es noch stärker einzukreisen: Geht es dir um die Haltung zu Sexualität – es muss ja gar nicht nur Missbrauch sein, sondern auch zum Beispiel die Haltung zu Homosexualität?

      CH: Vielleicht sollte man besser sagen: Wie wird mit Liebe umgegangen, die in der Kirche so hochgehalten wird und zugleich in der Gesellschaft in konkreten Formen gelebt wird und gerade in so einer Umbruchszeit wie der unseren sehr vielfältige Formen angenommen hat? Wenn ich in diesem Bekehrungsprozess aufwache, merke ich, dass ich mit all diesen verschiedenen Formen der Liebe schon Kontakt gehabt habe. Als ich nach Berlin kam, wurde ich von Homosexuellen angesprochen, ob ich nicht ihr Seelsorger werden könnte. Und ich habe Kontakt zu Menschen, die ihre Geschlechtswelt umgewandelt haben. Eine Mutter zum Beispiel, die einen Sohn geboren hat und heute ein Mann ist. Oder lesbische Beziehungen. Wenn ich da hingucke, merke ich, wie ich mich selbst in diesem Prozess verändert habe. Zu dieser Veränderung auch Ja zu sagen ist ein Teil dieses Bekehrungsprozesses.

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      Sabine Wollowski und Christian Herwartz

      SW: Aber gibt es da nicht einen Unterschied? Wenn du als Seelsorger oder Priester angefragt wirst, kannst du das in deinem Alltag einfach tun oder auch nicht, je nachdem, wie es dir in den Kram passt. Aber was du in deinem eigenen Leben erfährst, betrifft dich ganz anders, genauso wie die Frage, was davon auch in einem größeren Rahmen öffentlich werden kann, oder?

      CH: Ich wollte in meinem Leben nie vorrangig professionell, distanziert als Helfer oder Seelsorger tätig sein. Deshalb wurden die Fragen der anderen auch oft zentral meine eigenen.

      Es gibt Situationen, die von außen so drängen, dass ich mich ihnen nicht entziehen kann. Und diese Anfragen der Missbrauchten, ihnen zuzuhören, sind so ein Fall, wo ich mich nicht entziehen konnte. Da sind Menschen und auch die Gemeinschaft schuldig geworden. Und angesichts dieser Schuld eine Bekehrung und wieder eine Lebensperspektive zu finden … das ist eine besondere Art von Bekehrung, die nicht so oft vorkommt. Obwohl Bekehrung wohl immer etwas mit Gewalt zu tun hat – entweder auf Gewalt reagiert oder Gewalt auslöst. Also das Vorstoßen zur Wahrheit, auch zur eigenen Wahrheit, ist so umwerfend, ist meine Erfahrung, dass das nicht nebenbei passiert.

      SW: Es stellt die Dinge auf den Kopf.

      CH: Ja klar. Zum Beispiel ist es für mich atemberaubend, wenn ein Mensch sagt: Ich bin nicht von dem Geschlecht, mit dem ich gesehen werde, sondern ich habe ein anderes, und ich will dazu stehen. Aber genauso: Ich habe Gott verleugnet, aber ich weiß jetzt, dass er der Lebensspender ist. Es sind ganz krasse Lebensumbrüche. Dieses Hinhören und Sich-dadurch-Verändern, das ist das Leben, und es ist immer wieder ganz neu, welche Früchte das trägt.

      SW: Gibt es ein Bild oder eine Geschichte aus der Bibel, das dir in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist?

      CH: Der beste Freund von Jesus war ja Petrus. Und der hat Jesus eine Liebeserklärung gemacht und ihn Christus genannt. Kurz darauf, in diesem Vertrauen, erkannt zu sein, weiht Jesus die Jünger ein und kündigt an, dass er nach Jerusalem gehen und dort umgebracht werden wird. Da sagt sein Freund Petrus: Das darf nicht geschehen. Und daraufhin nennt Jesus ihn Satan. Das ist dieser Schritt hin zur Wahrheit: Jesus sieht, wie Petrus ihn von seinem Weg, den er gehen muss, abhalten will, und erkennt dessen Reden als Versuchung. In die Wahrheit zu treten kann also auch heißen, den eigenen Freund als Satan zu sehen und ihn als Versucher zu erkennen. Das ist auch mein Erlebnis jetzt, dass ich manche Dinge als Versuchung erkenne, die in diesem Missbrauchsskandal auftauchen. Für mich ist es ein unheimliches Geschenk, ein paar Mitbrüder zu finden, die das genauso sehen. Insofern ist es bis jetzt sogar eine größere Eingliederung in den Orden gewesen.

      SW: Warum?

      CH: Weil ich Mitbrüder gefunden habe, denen es genauso geht wie mir und die auch nach einem Weg suchen, jetzt nicht in ein Vergessen zu gehen, sondern mit dieser Wunde weiterzusuchen, wohin der Weg führt. Das sind die beiden, mit denen ich das Buch herausgegeben habe, aber auch Klaus Mertes und andere. Das macht mich sehr froh. Also Bekehrung ist Offenheit leben, auch wenn das im ersten Moment