Lassen Sie mich zu dem zweiten Gipfel noch ein paar Worte sagen. Zunächst zu Max Schelers ‚Die Stellung des Menschen im Kosmos’. Allein der Titel macht deutlich, dass Scheler den Menschen im Kosmos verortet sieht und sich fragt, was die Besonderheit des Menschen in diesem gesamten Kosmos ausmacht. Scheler geht aus von einer scala naturae, einer Skala der natürlichen Dinge, und er sieht den Menschen in einer Stufenfolge von Pflanzen, Tieren und schließlich eben dem Menschen.
Auf dieser scala naturae gibt es an der untersten Stelle etwas, was Scheler den Gefühlsdrang nennt. Psychische Kräfte, sagt Scheler, sind es, die er beschreibt, und Pflanzen haben als psychische Kraft nur diesen Gefühlsdrang. Tiere verfügen über mehr. Sie verfügen über Instinkt, über ein assoziatives Gedächtnis und, das ist bei Scheler interessant, über eine organisch gebundene praktische Intelligenz. Wir wissen von höherstufigen Tieren, dass sie über eine praktische Intelligenz verfügen, dass sie z. B. etwas lernen und dass sie Aufgaben lösen können. Diese praktische Intelligenz ist bei Tieren organisch gebunden. Bei Menschen, und da wird Scheler schwierig und spekulativ, ist das anders. Der Mensch zeichnet sich bei Scheler dadurch aus, dass er Geist, dass er ein geistiges Wesen ist. Unter Geist versteht Scheler zum einen so etwas wie die Sachlichkeit des Menschen. Der Mensch kann Dinge als richtig erkennen, unabhängig von seinen eigenen Interessen, die er damit verfolgt. Er kann ferner über sich selbst nachdenken, etwas, was den Tieren fehlt. Tiere können nicht über sich als Lebewesen oder spezifisch als Tier nachdenken. Das ist etwas, was nur dem Menschen zukommt. Als geistige Wesen sind wir nicht triebgebunden. Wir sind auch nicht umweltgebunden, sondern wir sind offen für neue Erfahrungen, offen für die Welt. „Weltoffenheit“ ist das Stichwort, das Scheler in diesem Zusammenhang verwendet. Man könnte noch viel über Max Scheler sagen, insbesondere über den Begriff des Geistes, den ich hier nur umrissen habe und der eine breite philosophische Tradition bis in die Antike hat.
Stattdessen möchte ich mich aber den anderen beiden Philosophen zuwenden. Zunächst Helmuth Plessner: Helmuth Plessner hat eines mit Arnold Gehlen gemeinsam: Beide sind dezidiert antimetaphysisch, d. h., sie wenden sich gegen die Art und Weise, den Menschen zu verstehen, wie sie Max Scheler betreibt. Beide sind wesentlich weniger spekulativ. Plessners Titel, ‚Die Stufen des Organischen und der Mensch’, ist Programm und Sie können schon vom Titel her erahnen, worum es ihm in seinem Werk geht. Im Zentrum seiner Überlegungen steht das, was er die „exzentrische Positionalität“ des Menschen genannt hat. Unter Positionalität versteht Plessner die Fähigkeit eines Lebewesens, Grenzen zu ziehen, sich selber abzugrenzen. Wir sprechen z. B. davon, dass jemand Position bezieht, und Position zu beziehen heißt, sich von anderen zu unterscheiden, sich abzugrenzen. Tiere sind, so Plessner, zentrisch. Sie können sich nicht selbst zum Gegenstand machen, sie können sich nicht vergegenständlichen, quasi von Außen anschauen und dadurch Distanz zu sich selbst gewinnen. Das ist etwas, was nur dem Menschen möglich ist.
Im Zentrum von Arnold Gehlens Überlegungen steht das Verhältnis von Mensch und Institution. Der Mensch ist, mit einem berühmten Wort von Gehlen, ein „Mängelwesen“. Es mangelt ihm an Instinkten und darum weiß er nicht, wie er sich verhalten soll. In dieser Situation, die den Menschen eigentlich heillos überfordert, kommen ihm nun Institutionen entgegen. Institutionen sind keine großen Gebäude, in die der Mensch hinein gehen kann, sondern soziale Konstrukte, wie zum Beispiel Ehe, Familie, bestimmte Staatsformen, Gruppenzugehörigkeit usw., soziale Konstrukte also, die eine bestimmte Kultur hervorgebracht hat. Gehlens Kampfansage gilt denen, die die Institutionen aufheben wollen. Für Gehlen ist es besser, in einer ungerechten Institution zu leben als in gar keiner. Und wenn Sie ein wenig mit der Philosophie von Jürgen Habermas vertraut sind, können Sie sich natürlich sehr schnell denken, dass Habermas diese These völlig inakzeptabel findet.
Sie sehen, dass alle drei Anthropologen, Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner, trotz ihrer Abgrenzungen gegenüber den Naturwissenschaften und der Metaphysik immer wieder auf Gesprächspartner aus diesen Disziplinen angewiesen sind. Bei Scheler ist das ganz deutlich gewesen: Wenn er davon spricht, dass der Mensch Geist ist, stellt er sich in die metaphysische Tradition. Bei Gehlen, der den Menschen als Mängelwesen begreift, sind die Gesprächspartner die empirischen Wissenschaften, insbesondere die Biologie und die Verhaltensforschung. Ergebnisse dieser Wissenschaften werden fruchtbar gemacht für die philosophische Anthropologie, d. h. für die spezifische Aufgabe, das Wesen des Menschen zu bestimmen.
Insofern kommt auch heute eine philosophische Anthropologie nicht umhin, in den engen Dialog mit anderen philosophischen, aber auch naturwissenschaftlichen oder humanwissenschaftlichen Disziplinen zu treten. Sie werden sehen, dass wir auch in dieser Vorlesungsreihe immer wieder in andere Gebiete der Philosophie hineinschauen werden, z. B. in die Metaphysik oder die Religionsphilosophie. Wir werden aber auch Ergebnisse empirischer Studien mit aufnehmen, z. B. da, wo wir uns mit der Frage beschäftigen, was es eigentlich heißt, eine menschliche Identität auszubilden, oder wo wir uns mit dem Problem der Arbeit auseinandersetzen. Die philosophische Anthropologie geht also einen Mittelweg: Sie möchte etwas über das Wesen des Menschen sagen, ohne diese Antworten auf andere philosophische oder empirische Disziplinen zu reduzieren, aber sie muss zugleich im Dialog mit diesen anderen Wissenschaften bleiben.
Damit die folgenden Überlegungen einen klareren Rahmen bekommen, möchte ich damit beginnen, Ihnen ein bestimmtes Modell des Menschen vorzustellen. Es handelt sich dabei nicht um eine ausdifferenzierte Theorie, sondern lediglich ein Handwerkszeug, mit dem wir in dieser Vorlesungsreihe immer wieder arbeiten werden. Es geht dabei um die Unterscheidung zwischen dem Leben, das wir Leben und der Einstellung, die wir zu diesem Leben haben. Ich möchte von zwei Ebenen sprechen, und zwar zum einen von der Ebene des gelebten Lebens, zum anderen von der Ebene des Menschen, der sein Leben lebt. Das mag etwas kompliziert klingen, ist aber der Sache nach ganz einfach.
Das gelebte Leben
Die Ebene des gelebten Lebens ist die Ebene der dritten Person, d. h. sie beschreibt das, was eine dritte Person beobachten könnte, wenn sie sähe, was in unserem Leben passiert, wie wir die 24 Stunden füllen, die wir jeden Tag vor uns haben. Aber aus dieser Perspektive wird der Mensch nur ungenügend beschrieben. Es reicht nicht, dass man sagt, er schläft, steht auf, kocht sich einen Kaffee, fährt zur Arbeit, macht Feierabend, fährt wieder nach Hause, schaltet den Fernseher an, trinkt ein Glas Wein, geht zu Bett um wieder aufzustehen, usw. Der Mensch wird ungenügend beschrieben, wenn wir nur verstehen, was faktisch mit ihm auf der Ebene des gelebten Lebens passiert.
Viel wichtiger für uns Menschen ist, dass wir uns zu dem, was mit uns passiert, was in unserem Leben geschieht, verhalten. Wir haben eine innere Einstellung gegenüber den Dingen, die uns passieren. Und diese Einstellung kann von zweifacher Art sein: Wir haben zum einem eine kognitive, zum anderen eine emotionale Einstellung zu unserem gelebten Leben. Wir werden zwar später, wenn wir uns mit Emotionen beschäftigen, noch sehen, dass man diese beiden Einstellungen nicht so klar voneinander unterscheiden kann, aber um des Modells und der Einfachheit willen, wollen wir an dieser Stelle annehmen, dass es diese beiden Einstellungen tatsächlich gibt.
Zunächst sind diese beiden Einstellungen ganz deutlich voneinander zu unterscheiden. Bestimmte Dinge, die uns in unserem Leben passieren, gefallen uns oder sie gefallen uns nicht, wir sind froh oder traurig darüber, dass sie passieren und das ist unsere innere Haltung oder Einstellung, die wir diesen äußeren Ereignissen gegenüber haben. Und zum anderen denken wir über das, was in unserem Leben passiert, nach. Wir machen uns unsere Gedanken und bewerten es. Wir finden es gut oder schlecht.
Man kann diese Unterscheidung zwischen der affektiven bzw. emotionalen und der kognitiven Einstellung unserem Leben gegenüber sogar noch ein bisschen weitertreiben. Man könnte zum Beispiel darauf hinweisen, dass wir auch so etwas wie eine kognitive Einstellung unserer affektiven Einstellung gegenüber haben. Sie könnten sich z. B. vorstellen, dass jemand, nennen wir ihn Max, eigentlich ein ganz ausgeglichener Mensch ist, der jedoch bei einer Sache innerlich sofort an die Decke geht: Und zwar, wenn er jemanden sieht, der sich die Nase geschnäuzt hat und nun das Taschentuch öffnet, um zu schauen, was er produziert hat. Max kann gar nicht anders, es ekelt ihn einfach an. Die Vorstellung, mit einem solchen Menschen, wenn er erkältet ist, Zeit zu verbringen, findet er grauenvoll. Andererseits denkt sich Max jedoch