Johann Wolfgang von Goethe

Dichtung und Wahrheit


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in ei­nem For­mat vor uns ste­hen, als ein Gan­zes zu be­trach­ten, und man möch­te sich dar­aus gern ein Bild des Au­tors und sei­nes Tal­ents ent­wer­fen. Nun ist nicht zu leug­nen, dass für die Leb­haf­tig­keit, wo­mit der­sel­be sei­ne schrift­stel­le­ri­sche Lauf­bahn be­gon­nen, für die lan­ge Zeit, die seit­dem ver­flos­sen, ein Dut­zend Bänd­chen zu we­nig schei­nen müs­sen. Eben­so kann man sich bei den ein­zel­nen Ar­bei­ten nicht ver­heh­len, dass meis­tens be­son­de­re Ver­an­las­sun­gen die­sel­ben her­vor­ge­bracht und so­wohl äu­ße­re be­stimm­te Ge­gen­stän­de als in­ne­re ent­schie­de­ne Bil­dungs­stu­fen dar­aus her­vor­schei­nen, nicht min­der auch ge­wis­se tem­po­rä­re mo­ra­li­sche und äs­the­ti­sche Ma­xi­men und Über­zeu­gun­gen dar­in ob­wal­ten. Im gan­zen aber blei­ben die­se Pro­duk­tio­nen im­mer un­zu­sam­men­hän­gend; ja oft soll­te man kaum glau­ben, dass sie von dem­sel­ben Schrift­stel­ler ent­sprun­gen sei­en.

      Ihre Freun­de ha­ben in­des­sen die Nach­for­schung nicht auf­ge­ge­ben und su­chen, als nä­her be­kannt mit Ih­rer Le­bens- und Denk­wei­se, man­ches Rät­sel zu er­ra­ten, man­ches Pro­blem auf­zu­lö­sen; ja sie fin­den, da eine alte Nei­gung und ein ver­jähr­tes Ver­hält­nis ih­nen bei­steht, selbst in den vor­kom­men­den Schwie­rig­kei­ten ei­ni­gen Reiz. Doch wür­de uns hie und da eine Nach­hil­fe nicht un­an­ge­nehm sein, wel­che Sie un­sern freund­schaft­li­chen Ge­sin­nun­gen nicht wohl ver­sa­gen dür­fen.

      Das ers­te also, warum wir Sie er­su­chen, ist, dass Sie uns Ihre, bei der neu­en Aus­ga­be nach ge­wis­sen in­nern Be­zie­hun­gen ge­ord­ne­ten Dicht­wer­ke in ei­ner chro­no­lo­gi­schen Fol­ge auf­füh­ren und so­wohl die Le­bens- und Ge­müts­zu­stän­de, die den Stoff dazu her­ge­ge­ben, als auch die Bei­spie­le, wel­che auf Sie ge­wirkt, nicht we­ni­ger die theo­re­ti­schen Grund­sät­ze, de­nen Sie ge­folgt, in ei­nem ge­wis­sen Zu­sam­men­hange ver­trau­en möch­ten. Wid­men Sie die­se Be­mü­hung ei­nem en­gern Krei­se, viel­leicht ent­springt dar­aus et­was, was auch ei­nem grö­ßern an­ge­nehm und nütz­lich wer­den kann. Der Schrift­stel­ler soll bis in sein höchs­tes Al­ter den Vor­teil nicht auf­ge­ben, sich mit de­nen, die eine Nei­gung zu ihm ge­fasst, auch in die Fer­ne zu un­ter­hal­ten; und wenn es nicht ei­nem je­den ver­lie­hen sein möch­te, in ge­wis­sen Jah­ren mit un­er­war­te­ten, mäch­tig wirk­sa­men Er­zeug­nis­sen von Neu­em auf­zu­tre­ten, so soll­te doch ge­ra­de zu der Zeit, wo die Er­kennt­nis voll­stän­di­ger, das Be­wusst­sein deut­li­cher wird, das Ge­schäft sehr un­ter­hal­tend und neu­be­le­bend sein, je­nes Her­vor­ge­brach­te wie­der als Stoff zu be­han­deln und zu ei­nem Letz­ten zu be­ar­bei­ten, wel­ches de­nen aber­mals zur Bil­dung ge­rei­che, die sich frü­her mit und an dem Künst­ler ge­bil­det ha­ben.

      Die­ses so freund­lich ge­äu­ßer­te Ver­lan­gen er­weck­te bei mir un­mit­tel­bar die Lust, es zu be­fol­gen. Denn wenn wir in frü­he­rer Zeit lei­den­schaft­lich un­sern ei­ge­nen Weg ge­hen und, um nicht irre zu wer­den, die An­for­de­run­gen an­de­rer un­ge­dul­dig ab­leh­nen, so ist es uns in spä­tern Ta­gen höchst er­wünscht, wenn ir­gend eine Teil­nah­me uns auf­re­gen und zu ei­ner neu­en Tä­tig­keit lie­be­voll be­stim­men mag. Ich un­ter­zog mich da­her so­gleich der vor­läu­fi­gen Ar­beit, die grö­ße­ren und klei­ne­ren Dicht­wer­ke mei­ner zwölf Bän­de aus­zu­zeich­nen und den Jah­ren nach zu ord­nen. Ich such­te mir Zeit und Um­stän­de zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, un­ter wel­chen ich sie her­vor­ge­bracht. Al­lein das Ge­schäft ward bald be­schwer­li­cher, weil aus­führ­li­che An­zei­gen und Er­klä­run­gen nö­tig wur­den, um die Lücken zwi­schen dem be­reits Be­kannt­ge­mach­ten aus­zu­fül­len. Denn zu­vör­derst fehlt al­les, wor­an ich mich zu­erst ge­übt, es fehlt man­ches An­ge­fan­ge­ne und nicht Vol­len­de­te; ja so­gar ist die äu­ße­re Ge­stalt man­ches Vol­len­de­ten völ­lig ver­schwun­den, in­dem es in der Fol­ge gänz­lich um­ge­ar­bei­tet und in eine an­de­re Form ge­gos­sen wor­den. Au­ßer die­sem blieb mir auch noch zu ge­den­ken, wie ich mich in Wis­sen­schaf­ten und an­de­ren Küns­ten be­müht, und was ich in sol­chen fremd schei­nen­den Fä­chern, so­wohl ein­zeln als in Ver­bin­dung mit Freun­den, teils im Stil­len ge­übt, teils öf­fent­lich be­kannt ge­macht.

      Al­les die­ses wünsch­te ich nach und nach zu Be­frie­di­gung mei­ner Wohl­wol­len­den ein­zu­schal­ten; al­lein die­se Be­mü­hun­gen und Be­trach­tun­gen führ­ten mich im­mer wei­ter. Denn in­dem ich je­ner sehr wohl­über­dach­ten For­de­rung zu ent­spre­chen wünsch­te und mich be­müh­te, die in­nern Re­gun­gen, die äu­ßern Ein­flüs­se, die theo­re­tisch und prak­tisch von mir be­tre­te­nen Stu­fen der Rei­he nach dar­zu­stel­len, so ward ich aus mei­nem en­gen Pri­vat­le­ben in die wei­te Welt ge­rückt: die Ge­stal­ten von hun­dert be­deu­ten­den Men­schen, wel­che nä­her oder ent­fern­ter auf mich ein­ge­wirkt, tra­ten her­vor, ja die un­ge­heu­ren Be­we­gun­gen des all­ge­mei­nen po­li­ti­schen Welt­laufs, die auf mich wie auf die gan­ze Mas­se der Gleich­zei­ti­gen den größ­ten Ein­fluss ge­habt, muss­ten vor­züg­lich be­ach­tet wer­den. Denn die­ses scheint die Haupt­auf­ga­be der Bio­gra­fie zu sein, den Men­schen in sei­nen Zeit­ver­hält­nis­sen dar­zu­stel­len und zu zei­gen, in­wie­fern ihm das Gan­ze wi­der­strebt, in­wie­fern es ihn be­güns­tigt, wie er sich eine Welt- und Men­schen­an­sicht dar­aus ge­bil­det und wie er sie, wenn er Künst­ler, Dich­ter, Schrift­stel­ler ist, wie­der nach au­ßen ab­ge­spie­gelt. Hier­zu wird aber ein kaum Er­reich­ba­res ge­for­dert, dass näm­lich das In­di­vi­du­um sich und sein Jahr­hun­dert ken­ne, sich, in­wie­fern es un­ter al­len Um­stän­den das­sel­be ge­blie­ben, das Jahr­hun­dert, als wel­ches so­wohl den Wil­li­gen als Un­wil­li­gen mit sich fort­reißt, be­stimmt und bil­det, der­ge­stalt dass man wohl sa­gen kann, ein je­der, nur zehn Jah­re frü­her oder spä­ter ge­bo­ren, dürf­te, was sei­ne ei­ge­ne Bil­dung und die Wir­kung nach au­ßen be­trifft, ein ganz an­de­rer ge­wor­den sein.

      Auf die­sem Wege, aus der­glei­chen Be­trach­tun­gen und Ver­su­chen, aus sol­chen Erin­ne­run­gen und Über­le­gun­gen ent­sprang die ge­gen­wär­ti­ge Schil­de­rung, und aus die­sem Ge­sichts­punkt ih­res Ent­ste­hens wird sie am bes­ten ge­nos­sen, ge­nutzt und am bil­ligs­ten be­ur­teilt wer­den kön­nen. Was aber sonst noch, be­son­ders über die halb poe­ti­sche, halb his­to­ri­sche Be­hand­lung etwa zu sa­gen sein möch­te, dazu fin­det sich wohl im Lau­fe der Er­zäh­lung mehr­mals Ge­le­gen­heit.

      Am 28s­ten Au­gust 1749, Mit­tags mit dem Glo­cken­schla­ge zwölf, kam ich in Frank­furt am Main auf die Welt. Die Kon­stel­la­ti­on war glück­lich: die Son­ne stand im Zei­chen der Jung­frau und kul­mi­nier­te für den Tag; Ju­pi­ter und Ve­nus blick­ten sie freund­lich an, Mer­kur nicht wi­der­wär­tig, Sa­turn und Mars ver­hiel­ten sich gleich­gül­tig; nur der Mond, der so­eben voll ward, übte die Kraft sei­nes Ge­gen­scheins umso mehr, als zu­gleich sei­ne Pla­ne­ten­stun­de ein­ge­tre­ten war. Er wi­der­setz­te sich da­her mei­ner Ge­burt, die nicht eher er­fol­gen konn­te, als bis die­se Stun­de vor­über­ge­gan­gen.

      Die­se gu­ten Aspek­ten, wel­che mir die Astro­lo­gen in der Fol­ge­zeit sehr hoch an­zu­rech­nen wuss­ten, mö­gen wohl Ur­sa­che an mei­ner Er­hal­tung ge­we­sen sein: denn durch Un­ge­schick­lich­keit der Heb­am­me kam ich für tot auf die Welt, und nur durch viel­fa­che Be­mü­hun­gen