Johann Wolfgang von Goethe

Dichtung und Wahrheit


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dar­stel­len soll­ten: ei­ni­ge da­von wur­den aus­ge­führt.

      Nach die­sen, für einen Kna­ben al­ler­dings löb­li­chen Ver­rich­tun­gen, will ich auch ei­ner klei­nen Be­schä­mung, die mir in­ner­halb die­ses Künst­ler­krei­ses be­geg­ne­te, Er­wäh­nung tun. Ich war näm­lich mir al­len Bil­dern wohl be­kannt, wel­che man nach und nach in je­nes Zim­mer ge­bracht hat­te. Mei­ne ju­gend­li­che Neu­gier­de ließ nichts un­ge­se­hen und un­un­ter­sucht. Einst fand ich hin­ter dem Ofen ein schwar­zes Käst­chen: ich er­man­gel­te nicht, zu for­schen, was dar­in ver­bor­gen sei, und ohne mich lan­ge zu be­sin­nen, zog ich den Schie­ber weg. Das dar­in ent­hal­te­ne Ge­mäl­de war frei­lich von der Art, die man den Au­gen nicht aus­zu­stel­len pflegt, und ob ich es gleich al­so­bald wie­der zu­zu­schie­ben An­stalt mach­te, so konn­te ich doch nicht ge­schwind ge­nug da­mit fer­tig wer­den. Der Graf trat her­ein und er­tapp­te mich. – »Wer hat Euch er­laubt, die­ses Käst­chen zu er­öff­nen?« sag­te er mit sei­ner Kö­nigs­leut­nants-Mie­ne. Ich hat­te nicht viel dar­auf zu ant­wor­ten, und er sprach so­gleich die Stra­fe sehr ernst­haft aus: »Ihr wer­det in acht Ta­gen«, sag­te er, »die­ses Zim­mer nicht be­tre­ten«. – Ich mach­te eine Ver­beu­gung und ging hin­aus. Auch ge­horch­te ich die­sem Ge­bot aufs pünkt­lichs­te, so­dass es dem gu­ten See­katz, der eben in dem Zim­mer ar­bei­te­te, sehr ver­drieß­lich war – denn er hat­te mich gern um sich –, und ich trieb aus ei­ner klei­nen Tücke den Ge­hor­sam so weit, dass ich See­kat­zen sei­nen Kaf­fee, den ich ihm ge­wöhn­lich brach­te, auf die Schwel­le setz­te; da er denn von sei­ner Ar­beit auf­ste­hen und ihn ho­len muss­te, wel­ches er so übel emp­fand, dass er mir fast gram ge­wor­den wäre.

      Nun aber scheint es nö­tig, um­ständ­li­cher an­zu­zei­gen und be­greif­lich zu ma­chen, wie ich mir in sol­chen Fäl­len in der fran­zö­si­schen Spra­che, die ich doch nicht ge­lernt, mit mehr oder we­ni­ger Be­quem­lich­keit durch­ge­hol­fen. Auch hier kam mir die an­ge­bor­ne Gabe zu stat­ten, dass ich leicht den Schall und Klang ei­ner Spra­che, ihre Be­we­gung, ih­ren Ak­zent, den Ton und was sonst von äu­ßern Ei­gen­tüm­lich­kei­ten fas­sen konn­te. Aus dem La­tei­ni­schen wa­ren mir vie­le Wor­te be­kannt; das Ita­liä­ni­sche ver­mit­tel­te noch mehr, und so horch­te ich in kur­z­er Zeit von Be­dien­ten und Sol­da­ten, Schild­wa­chen und Be­su­chen so viel her­aus, dass ich mich, wo nicht ins Ge­spräch mi­schen, doch we­nigs­tens ein­zel­ne Fra­gen und Ant­wor­ten be­ste­hen konn­te. Aber die­ses war al­les nur we­nig ge­gen den Vor­teil, den mir das Thea­ter brach­te. Von mei­nem Groß­va­ter hat­te ich ein Frei­bil­let er­hal­ten, des­sen ich mich, mit Wi­der­wil­len mei­nes Va­ters, un­ter dem Bei­stand mei­ner Mut­ter, täg­lich be­dien­te. Hier saß ich nun im Par­terre vor ei­ner frem­den Büh­ne und pass­te umso mehr auf Be­we­gung, mi­mi­schen und Rede-Aus­druck, als ich we­nig oder nichts von dem ver­stand, was da oben ge­spro­chen wur­de, und also mei­ne Un­ter­hal­tung nur vom Ge­bär­den­spiel und Sprachton neh­men konn­te. Von der Ko­mö­die ver­stand ich am we­nigs­ten, weil sie ge­schwind ge­spro­chen wur­de und sich auf Din­ge des ge­mei­nen Le­bens be­zog, de­ren Aus­drücke mir gar nicht be­kannt wa­ren. Die Tra­gö­die kam selt­ner vor, und der ge­mes­se­ne Schritt, das Takt­ar­ti­ge der Alex­an­dri­ner, das All­ge­mei­ne des Aus­drucks mach­ten sie mir in je­dem Sin­ne fass­li­cher. Es dau­er­te nicht lan­ge, so nahm ich den Ra­ci­ne, den ich in mei­nes Va­ters Biblio­thek an­traf, zur Hand und de­kla­mier­te mir die Stücke nach thea­tra­li­scher Art und Wei­se, wie sie das Or­gan mei­nes Ohrs und das ihm so ge­nau ver­wand­te Spra­ch­or­gan ge­fasst hat­te, mit großer Leb­haf­tig­keit, ohne dass ich noch eine gan­ze Rede im Zu­sam­men­hang hät­te ver­ste­hen kön­nen. Ja ich lern­te gan­ze Stel­len aus­wen­dig und re­zi­tier­te sie, wie ein ein­ge­lern­ter Sprach­vo­gel; wel­ches mir umso leich­ter ward, als ich frü­her die für ein Kind meist un­ver­ständ­li­chen bib­li­schen Stel­len aus­wen­dig ge­lernt und sie in dem Ton der pro­tes­tan­ti­schen Pre­di­ger zu re­zi­tie­ren mich ge­wöhnt hat­te. Das ver­si­fi­zier­te fran­zö­si­sche Lust­spiel war da­mals sehr be­liebt: die Stücke von De­stou­ches, Ma­ri­vaux, La Chaus­sée ka­men häu­fig vor, und ich er­in­ne­re mich noch deut­lich man­cher cha­rak­te­ris­ti­schen Fi­gu­ren. Von den Mo­lièri­schen ist mir we­ni­ger im Sinn ge­blie­ben. Was am meis­ten Ein­druck auf mich mach­te, war die »Hy­per­m­ne­stra« von Le­mier­re, die als ein neu­es Stück mit Sorg­falt auf­ge­führt und wie­der­holt ge­ge­ben wur­de. Höchst an­mu­tig war der Ein­druck, den der »De­vin du Vil­la­ge«, »Rose et Calas«, »An­net­te et Lu­bin« auf mich mach­ten. Ich kann mir die be­bän­der­ten Bu­ben und Mäd­chen und ihre Be­we­gun­gen noch jetzt zu­rück­ru­fen. Es dau­er­te nicht lan­ge, so reg­te sich der Wunsch bei mir, mich auf dem Thea­ter selbst um­zu­se­hen, wozu sich mir so man­cher­lei Ge­le­gen­heit dar­bot. Denn da ich nicht im­mer die gan­zen Stücke aus­zu­hö­ren Ge­duld hat­te und man­che Zeit in den Kor­ri­dors, auch wohl bei ge­lin­de­rer Jahrs­zeit vor der Tür, mit an­de­ren Kin­dern mei­nes Al­ters al­ler­lei Spie­le trieb, so ge­sell­te sich ein schö­ner mun­te­rer Kna­be zu uns, der zum Thea­ter ge­hör­te und den ich in man­chen klei­nen Rol­len, ob­wohl nur bei­läu­fig, ge­se­hen hat­te. Mit mir konn­te er sich am bes­ten ver­stän­di­gen, in­dem ich mein Fran­zö­sisch bei ihm gel­tend zu ma­chen wuss­te; und er knüpf­te sich umso mehr an mich, als kein Kna­be sei­nes Al­ters und sei­ner Na­ti­on beim Thea­ter oder sonst in der Nähe war. Wir gin­gen auch au­ßer der Thea­ter­zeit zu­sam­men, und selbst wäh­rend der Vor­stel­lun­gen ließ er mich sel­ten in Ruhe. Er war ein al­ler­liebs­ter klei­ner Auf­schnei­der, schwätz­te schar­mant und un­auf­hör­lich und wuss­te so viel von sei­nen Aben­teu­ern, Hän­deln und an­de­ren Son­der­bar­kei­ten zu er­zäh­len, dass er mich au­ßer­or­dent­lich un­ter­hielt und ich von ihm, was Spra­che und Mit­tei­lung durch die­sel­be be­trifft, in vier Wo­chen mehr lern­te, als man sich hät­te vor­stel­len kön­nen; so­dass nie­mand wuss­te, wie ich auf ein­mal, gleich­sam durch In­spi­ra­ti­on, zu der frem­den Spra­che ge­langt war.

      Gleich in den ers­ten Ta­gen un­se­rer Be­kannt­schaft zog er mich mit sich aufs Thea­ter und führ­te mich be­son­ders in die Foy­ers, wo die Schau­spie­ler und Schau­spie­le­rin­nen in der Zwi­schen­zeit sich auf­hiel­ten und sich an- und aus­klei­de­ten. Das Lo­kal war we­der güns­tig noch be­quem, in­dem man das Thea­ter in einen Kon­zert­saal hin­ein­ge­zwängt hat­te, so­dass für die Schau­spie­ler hin­ter der Büh­ne kei­ne be­son­de­ren Ab­tei­lun­gen statt­fan­den. In ei­nem ziem­lich großen Ne­ben­zim­mer, das ehe­dem zu Spiel­par­ti­en ge­dient hat­te, wa­ren nun bei­de Ge­schlech­ter meist bei­sam­men und schie­nen sich so we­nig un­ter ein­an­der selbst als vor uns Kin­dern zu scheu­en, wenn es beim An­le­gen oder Verän­dern der Klei­dungs­stücke nicht im­mer zum an­stän­digs­ten her­ging. Mir war der­glei­chen nie­mals vor­ge­kom­men, und doch fand ich es bald durch Ge­wohn­heit, bei wie­der­hol­tem Be­such, ganz na­tür­lich.

      Es währ­te nicht lan­ge, so ent­spann sich aber für mich ein eig­nes und be­sondres In­ter­es­se. Der jun­ge De­ro­nes, so will ich den Kna­ben nen­nen, mir dem ich mein Ver­hält­nis im­mer fort­setz­te, war au­ßer sei­nen Auf­schnei­de­rei­en ein Kna­be von gu­ten Sit­ten und recht ar­ti­gem Be­tra­gen. Er mach­te mich mit sei­ner Schwes­ter be­kannt, die ein paar Jah­re äl­ter als wir und ein gar an­ge­neh­mes Mäd­chen war, gut ge­wach­sen, von ei­ner re­gel­mä­ßi­gen Bil­dung, brau­ner Far­be, schwar­zen Haa­ren und Au­gen; ihr gan­zes Be­tra­gen hat­te et­was Stil­les, ja Trau­ri­ges.