Johann Wolfgang von Goethe

Dichtung und Wahrheit


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ge­ach­tet hät­te. End­lich glaub­te ich ihr Ge­heim­nis zu ent­de­cken. Der Kna­be zeig­te mir hin­ter dem Bet­te sei­ner Mut­ter, das mit ele­gan­ten seid­nen Vor­hän­gen auf­ge­putzt war, ein Pas­tell­bild, das Por­trät ei­nes schö­nen Man­nes, und be­merk­te zu­gleich mit schlau­er Mie­ne: das sei ei­gent­lich nicht der Papa, aber eben so gut wie der Papa; und in­dem er die­sen Mann rühm­te und nach sei­ner Art um­ständ­lich und prah­le­risch man­ches er­zähl­te, so glaub­te ich her­aus­zu­fin­den, dass die Toch­ter wohl dem Va­ter, die bei­den an­de­ren Kin­der aber dem Haus­freund an­ge­hö­ren moch­ten. Ich er­klär­te mir nun ihr trau­ri­ges An­se­hen und hat­te sie nur um de­sto lie­ber. Die Nei­gung zu die­sem Mäd­chen half mir die Schwin­de­lei­en des Bru­ders über­tra­gen, der nicht im­mer in sei­nen Gren­zen blieb. Ich hat­te oft die weit­läuf­ti­gen Er­zäh­lun­gen sei­ner Groß­ta­ten aus­zu­hal­ten, wie er sich schon öf­ter ge­schla­gen, ohne je­doch dem an­de­ren scha­den zu wol­len: es sei al­les bloß der Ehre we­gen ge­sche­hen. Stets habe er ge­wusst, sei­nen Wi­der­sa­cher zu ent­waff­nen, und ihm als­dann ver­zie­hen: ja er ver­ste­he sich aufs Li­gie­ren so gut, dass er einst selbst in große Ver­le­gen­heit ge­ra­ten, als er den De­gen sei­nes Geg­ners auf einen ho­hen Baum ge­schleu­dert, so­dass man ihn nicht leicht wie­der hab­haft wer­den kön­nen.

      Was mir mei­ne Be­su­che auf dem Thea­ter sehr er­leich­ter­te, war, dass mir mein Frei­bil­let, als aus den Hän­den des Schult­hei­ßen, den Weg zu al­len Plät­zen er­öff­ne­te und also auch zu den Sit­zen im Pro­sze­ni­um.

      Die­ses war nach fran­zö­si­scher Art sehr tief und an bei­den Sei­ten mit Sit­zen ein­ge­fasst, die durch eine nied­ri­ge Bar­rie­re be­schränkt, sich in meh­re­ren Rei­hen hin­ter ein­an­der auf­bau­ten und zwar der­ge­stalt, dass die ers­ten Sit­ze nur we­nig über die Büh­ne er­ho­ben wa­ren. Das Gan­ze galt für einen be­son­dern Ehren­platz; nur Of­fi­zie­re be­dien­ten sich ge­wöhn­lich des­sel­ben, ob­gleich die Nähe der Schau­spie­ler, ich will nicht sa­gen jede Il­lu­si­on, son­dern ge­wis­ser­ma­ßen je­des Ge­fal­len auf­hob. So­gar je­nen Ge­brauch oder Miss­brauch, über den sich Vol­taire so sehr be­schwert, habe ich noch er­lebt und mit Au­gen ge­se­hen: Wenn bei sehr vol­lem Hau­se, und etwa zur­zeit von Durch­mär­schen, an­ge­se­he­ne Of­fi­zie­re nach je­nem Ehren­platz streb­ten, der aber ge­wöhn­lich schon be­setzt war, so stell­te man noch ei­ni­ge Rei­hen Bän­ke und Stüh­le ins Pro­sze­ni­um auf die Büh­ne selbst, und es blieb den Hel­den und Hel­din­nen nichts üb­rig, als in ei­nem sehr mä­ßi­gen Rau­me zwi­schen den Uni­for­men und Or­den ihre Ge­heim­nis­se zu ent­hül­len. Ich habe die »Hy­per­m­ne­stra« selbst un­ter sol­chen Um­stän­den auf­füh­ren se­hen.

      Der Vor­hang fiel nicht zwi­schen den Ak­ten; und ich er­wäh­ne noch ei­nes selt­sa­men Ge­brauchs, den ich sehr auf­fal­lend fin­den muss­te, da mir, als ei­nem gu­tem deut­schen Kna­ben, das kunst­wid­ri­ge dar­an ganz un­er­träg­lich war. Das Thea­ter näm­lich ward als das größ­te Hei­lig­tum be­trach­tet, und eine vor­fal­len­de Stö­rung auf dem­sel­ben hät­te als das größ­te Ver­bre­chen ge­gen die Ma­je­stät des Pub­li­kums so­gleich müs­sen ge­rügt wer­den. Zwei Gre­na­die­re, das Ge­wehr beim Fuß, stan­den da­her in al­len Lust­spie­len ganz öf­fent­lich zu bei­den Sei­ten des hin­ters­ten Vor­hangs und wa­ren Zeu­gen von al­lem, was im In­ners­ten der Fa­mi­lie vor­ging. Da, wie ge­sagt, zwi­schen den Ak­ten der Vor­hang nicht nie­der­ge­las­sen wur­de, so lös­ten bei ein­fal­len­der Mu­sik zwei an­de­re der­ge­stalt ab, dass sie aus den Ku­lis­sen ganz strack vor jene hin­tra­ten, wel­che sich dann eben­so ge­mes­sent­lich zu­rück­zo­gen. Wenn nun eine sol­che An­stalt recht dazu ge­eig­net war, al­les, was man beim Thea­ter Il­lu­si­on nennt, auf­zu­he­ben, so fällt es umso mehr auf, dass die­ses zu ei­ner Zeit ge­sch­ah, wo nach Di­de­rots Grund­sät­zen und Bei­spie­len die na­tür­lichs­te Na­tür­lich­keit auf der Büh­ne ge­for­dert und eine voll­kom­me­ne Täu­schung als das ei­gent­li­che Ziel der thea­tra­li­schen Kunst an­ge­ge­ben wur­de. Von ei­ner sol­chen mi­li­tä­ri­schen Po­li­zei­an­stalt war je­doch die Tra­gö­die ent­bun­den, und die Hel­den des Al­ter­tums hat­ten das Recht, sich selbst zu be­wa­chen; die ge­dach­ten Gre­na­die­re stan­den in­des nahe ge­nug hin­ter den Ku­lis­sen.

      So will ich denn auch noch an­füh­ren, dass ich Di­de­rots »Haus­va­ter« und die »Phi­lo­so­phen« von Pa­lis­sot ge­se­hen habe und mich im letz­tern Stück der Fi­gur des Phi­lo­so­phen, der auf al­len Vie­ren geht und in ein ro­hes Salat­haupt beißt, noch wohl er­inn­re.

      Alle die­se thea­tra­li­sche Man­nig­fal­tig­keit konn­te je­doch uns Kin­der nicht im­mer im Schau­spiel­hau­se fest­hal­ten. Wir spiel­ten bei schö­nem Wet­ter vor dem­sel­ben und in der Nähe und be­gin­gen al­ler­lei Tor­hei­ten, wel­che be­son­ders an Sonn- und Fest­ta­gen kei­nes­wegs zu uns­rem Äu­ße­ren pass­ten: denn ich und mei­nes­glei­chen er­schie­nen als­dann, an­ge­zo­gen, wie man mich in je­nem Mär­chen ge­se­hen, den Hut un­term Arm, mit ei­nem klei­nen De­gen, des­sen Bü­gel mit ei­ner großen sei­de­nen Band­schlei­fe ge­ziert war. Einst, als wir eine gan­ze Zeit un­ser We­sen ge­trie­ben und De­ro­nes sich un­ter uns ge­mischt hat­te, fiel es die­sem ein, mir zu be­teu­ern, ich hät­te ihn be­lei­digt und müs­se ihm Sa­tis­fak­ti­on ge­ben. Ich be­griff zwar nicht, was ihm An­lass ge­ben konn­te, ließ mir aber sei­ne Aus­for­de­rung ge­fal­len und woll­te zie­hen. Er ver­si­cher­te mir aber, es sei in sol­chen Fäl­len ge­bräuch­lich, dass man an ein­sa­me Ör­ter gehe, um die Sa­che de­sto be­que­mer aus­ma­chen zu kön­nen. Wir ver­füg­ten uns des­halb hin­ter ei­ni­ge Scheu­nen und stell­ten uns in ge­hö­ri­ge Po­si­tur. Der Zwei­kampf er­folg­te auf eine et­was thea­tra­li­sche Wei­se, die Klin­gen klirr­ten, und die Stö­ße gin­gen ne­ben­aus; doch im Feu­er der Ak­ti­on blieb er mit der Spit­ze sei­nes De­gens an der Band­schlei­fe mei­nes Bü­gels han­gen. Sie ward durch­bohrt, und er ver­si­cher­te mir, dass er nun die voll­kom­mens­te Sa­tis­fak­ti­on habe, um­arm­te mich so­dann, gleich­falls recht thea­tra­lisch, und wir gin­gen in das nächs­te Kaf­fee­haus, um uns mit ei­nem Gla­se Man­del­milch von un­se­rer Ge­müts­be­we­gung zu er­ho­len und den al­ten Freund­schafts­bund nur de­sto fes­ter zu schlie­ßen.

      Ein andres Aben­teu­er, das mir auch im Schau­spiel­hau­se, ob­gleich spä­ter, be­geg­net, will ich bei die­ser Ge­le­gen­heit er­zäh­len. Ich saß näm­lich mit ei­nem mei­ner Ge­spie­len ganz ru­hig im Par­terre, und wir sa­hen mit Ver­gnü­gen ei­nem So­lo­tan­ze zu, den ein hüb­scher Kna­be, un­ge­fähr von un­serm Al­ter, der Sohn ei­nes durch­rei­sen­den fran­zö­si­schen Tanz­meis­ters, mit vie­ler Ge­wandt­heit und An­mut auf­führ­te. Nach Art der Tän­zer war er mit ei­nem knap­pen Wämschen von ro­ter Sei­de be­klei­det, wel­ches, in einen kur­z­en Reif­rock aus­ge­hend, gleich den Lau­fer­schür­zen, bis über die Knie schweb­te. Wir hat­ten die­sem an­ge­hen­den Künst­ler mit dem gan­zen Pub­li­kum un­sern Bei­fall ge­zollt, als mir, ich weiß nicht wie, ein­fiel, eine mo­ra­li­sche Re­fle­xi­on zu ma­chen. Ich sag­te zu mei­nem Beglei­ter: »Wie schön war die­ser Kna­be ge­putzt, und wie gut nahm er sich aus; wer weiß, in was für ei­nem zer­ris­se­nen Jäck­chen er heu­te Nacht schla­fen mag!« – Al­les war schon auf­ge­stan­den, nur ließ uns die Men­ge noch nicht vor­wärts. Eine Frau, die ne­ben mir ge­ses­sen hat­te und nun hart an mir stand, war zu­fäl­li­ger­wei­se die Mut­ter die­ses jun­gen Künst­lers, die sich durch mei­ne Re­fle­xi­on sehr be­lei­digt