Reitstiefeln zeichneten sich deutlich ab. Die Schatten wurden immer länger.
„Onkel Ben“, fragte Tonto leise, „warum sind diese Männer meine Feinde? Seit ich mich erinnern kann, lebe ich mit dir hier in den Bergen von Arizona. Wir haben Wildpferde gefangen und unten in Tucson verkauft. Die meiste Zeit des Jahres haben wir keine Menschenseele zu Gesicht bekommen. Ich frage dich, warum sind diese Banditen darauf aus, mich umzubringen, Onkel Ben?“
Smolett lag reglos auf dem Boden und starrte erschöpft zur Decke hoch. Tonto blickte zu ihm hin. Er biss sich auf die Unterlippe, als er sah, wie blutverschmiert Smoletts Hemd war. Schatten lagen unter den Augen des alten Mustangjägers.
„Ich muss dich verbinden!“, sagte Tonto rau. „Ich kann das nicht mit ansehen, wie du …“
„Nein, Tonto! Sinnlos, glaube mir doch! Du musst jetzt hart sein, hart wie nie zuvor!“
Tonto schluckte. „Und meine Frage, Onkel Ben?“
„Nenne mich nicht mehr so, mein Junge!“, raunte Smolett matt. „Ich bin nicht dein Onkel!“
*
Tonto stand sekundenlang wie versteinert. Dann wollte er den Platz neben der Fensterluke verlassen und auf Smolett zueilen.
„Bleib, wo du bist!“, krächzte Smolett. „Ich werde dir alles erzählen!“
Tonto atmete tief ein und lehnte sich an die Balken zurück. Seine Hände umkrampften den Schaft des Henry Gewehrs. Langsam verdämmerte das Licht im Blockhaus. Die Sonne stand als glutroter Ball über der dunklen Kante der Tonto Mesa, dieses gewaltigen Tafelberges, auf dessen von Schluchten und Tälern zerfurchtem Plateau Hunderte von Wildpferden lebten.
„Du hast schon richtig gehört, mein Junge“, sagte Ben Smolett mit einem Unterton von Bitterkeit. „Ich bin keine Spur mit dir verwandt. Zwanzig Jahre lang habe ich es dir verheimlicht. Jetzt bleibt mir wohl keine andere Wahl, als die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. Ich hoffe, Tonto, du wirst mich verstehen!“
„Ich höre!“, murmelte Tonto heiser. Sein Herz klopfte in harten Stößen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Die Ahnung beschlich ihn, dass etwas Großes, Überwältigendes auf ihn zukam. Von dieser Stunde an würde sein Leben in völlig anderen Bahnen verlaufen – wenn er überhaupt mit dem Leben davonkam.
Jahre hindurch hatte er an der Seite von Ben Smolett in tiefstem Frieden gelebt, abgeschieden von allem rauen Geschehen in den Städten und auf dem Weideland jenseits der Berge. Und nun lauerten da draußen drei gefährliche Mordbanditen, und hier drinnen lag ein Sterbender einige Schritte von einem toten Banditen entfernt und schickte sich an, Tontos bisherige Überzeugungen mit einem Schlag wegzufegen.
„Ich werde es kurz machen, Junge“, sagte Smolett mühsam. „Ich fürchte, mir bleibt nicht mehr viel Zeit!“ Er holte tief Atem und fuhr fort: „Dein wirklicher Name ist Jim Trafford. Ich habe dich Tonto genannt, weil deine Heimat hier am Fuß der Tonto Mesa lag. Es liegt alles zwanzig Jahre zurück, zwanzig lange Jahre! Damals warst du vier …“ Smolett seufzte. „Und ich war noch kein Wildpferdjäger – ich war Revolvermann!“
Er drehte mühsam den Kopf, um Tontos Reaktion zu erkennen. Der junge Mann schwieg. Die Schatten, die sich im Blockhaus breitmachten, verdunkelten sein Gesicht.
„Ja“, flüsterte Smolett, und in der bleiernen Stille war jedes Wort deutlich zu verstehen.
„Ich war ein rauer Bursche damals, ziemlich schnell mit dem Eisen zur Hand und für klingende Dollars jederzeit zum Kämpfen entschlossen. Es war in Colorado, da wurde ich von einem Mann namens Elmer Monroe angeheuert. Elmer Monroe! Merk dir den Namen, Tonto. Es ist der Mann, der auch Henshaw und seine Kumpane losschickte, um dich zu töten. Irgendwie muss er herausgefunden haben, dass du noch am Leben bist …“
„Wieso? Warum sollte ich nicht …“
„Tonto, weißt du, warum ich damals vor zwanzig Jahren meinen Job aufgab und Mustangjäger wurde? Nein, du kannst es ja nicht wissen! Ich erhielt einen Auftrag, den ich nicht ausführen konnte – den schmutzigsten Auftrag, den ein Mann nur bekommen konnte! Ich sollte ein Kind ermorden, ein unschuldiges, kleines, vierjähriges Kind …“
„Du … du meinst …“
„Dich, Tonto!“, sagte Smolett dumpf. Eine Weile war es so still im Blockhaus, dass man eine Nadel hätte zu Boden fallen hören.
„Ich weiß nicht, was du am Schluss dieser Geschichte von mir denken wirst, Junge“, murmelte Smolett, „aber du sollst die Wahrheit hören, die reine Wahrheit!“
Seine Hände fielen kraftlos auf die Bodenbretter. Smolett sprach jetzt schneller, wie um jede Sekunde, die ihm noch blieb, auszunutzen.
„Elmer Monroe gab mir diesen Auftrag. Und das Kind, der kleine Jim Trafford, war der einzige Sohn von Monroes Partner. Dein Vater, Tonto, hieß Allan Trafford. Zusammen mit Monroe entdeckte er droben in Colorado, in den Elk Mountains, ein reiches Silbervorkommen. Sie gründeten eine Minengesellschaft, um das Silber abzubauen. Eine Stadt wuchs empor, Silverrock. Monroe und dein Vater hatten vollen Erfolg. Und da kam der Teufel über Elmer Monroe!“
Wieder seufzte der Sterbende.
„Dein Vater hatte das meiste Geld ins Unternehmen gesteckt und besaß deshalb die größten Anteile. Und Monroe fasste den Plan, alles für sich allein zu bekommen. Die Aussicht auf Reichtum nahm ihm alle Skrupel. Monroe warb Banditen an, die Allan Trafford, deinen Vater, durch einen angeblichen Unfall aus dem Weg räumen sollten. Du lebtest damals noch bei deiner Mutter. Sie starb, und dein Vater wollte dich zu sich nach Silverrock kommen lassen. Monroe schickte mich aus, dich abzufangen und ebenfalls durch einen vorgetäuschten Unfall …“
Smolett schluckte schwer. Er schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an jene fernen Tage wühlte seine Miene auf.
„Monroe war damals schon ziemlich mächtig. Wenn ich einfach abgelehnt hätte, wäre das mein sicherer Tod gewesen. Also ritt ich los. Aber ich war von Anfang an entschlossen, diesen Auftrag nicht auszuführen. Ich überfiel die Kutsche, in der dich eine Bekannte deiner verstorbenen Mutter nach Silverrock bringen sollte, entführte dich – und floh! Ich floh nicht nur vor den Sheriffs und Marshals – am meisten fürchtete ich Elmer Monroe! Ich schrieb ihm, der Auftrag sei erledigt, und ließ mich nicht mehr bei ihm blicken. Ich zog mit dir hierher nach Arizona, hängte den Colt an den Nagel und fing die Arbeit als Wildpferdjäger an. Von Monroe hörte ich nichts mehr – bis heute!“
Er starrte Tonto aus brennenden Augen an.
„Er hat die Wahrheit herausgefunden, dieser Schuft. Und dass er Henshaw und seine Komplizen geschickt hat, beweist, dass er noch immer das Ruder in der Hand hält – droben in Silverrock in Colorado. Du bist Allan Traffords rechtmäßiger Erbe, dir gehört über die Hälfte von Monroes Besitz. Deshalb will er dich tot wissen. Ich wollte, du hättest nie davon erfahren. Aber jetzt …“
„Mein Vater ist also tot!“, murmelte Tonto erstickt. „Ermordet von den Banditen, die dieser Elmer Monroe gedungen hat.“
„Du musst es annehmen, mein Junge!“, bestätigte Smolett schwach.
In Tontos graugrünen Augen blitzte es.
„Aber wenn er ähnliches Glück hatte wie ich? Wenn er …“
„Die Leute, die ihn ermorden sollten, kannten keine Skrupel wie ich, das ist alles, was ich dir dazu sagen kann, mein Junge! Und bedenke, es ist zwanzig Jahre her! Wenn er noch lebte, hätte er sicher etwas gegen seinen früheren Partner unternommen!“
Das Feuer in Tontos Augen erlosch. Er ließ den Kopf sinken.
„Ich weiß, was du denkst!“, flüsterte Smolett.
„Du denkst daran, nach Colorado zu reiten, nach Silverrock.“
„Yeah!“
„Das ist es, was ich befürchtete. Deshalb habe ich zwanzig Jahre lang geschwiegen. Aber ich begreife, dass du es tun musst. Es ist nur … du musst auf die Hölle gefasst sein, Tonto!