Manfred Hutter

Religionsgeschichte Anatoliens


Скачать книгу

zeigen aber dennoch, dass manche Vorstellungen der Hethiter schon vor der Zeit der hethitischen Texte und vor der ersten hethitischen »Staatsgründung« fassbar sind. Von größerer Bedeutung für die frühe Religionsgeschichte Zentralanatoliens sind die Texte in Hattisch, d. h. in der Sprache jener Bevölkerung, die bereits in der Zeit vor der hethitischen Staatsgründung innerhalb des Halysbogens wohnte. Allerdings stammen alle diese Texte aus der Überlieferung der Hethiter. Da Elemente des hattischen Kultes von den Hethitern rezipiert wurden, tradierte man diese Texte – manche auch als hattisch-hethitische Bilinguen – in Bereichen der Religion bis in die Großreichszeit.15 Dadurch beschränkt sich das inhaltliche Spektrum der Texte jedoch auf Rituale und Beschwörungen, Zeremonien und Festbeschreibungen im Tempel bzw. auf Anrufungen von Gottheiten sowie auf mythologische Texte.

      Einen größeren Umfang haben die hurritischen Texte, die ab der Mitte des 2. Jahrtausends aufgrund der Zunahme des hurritischen Bevölkerungsanteils im Südosten des Hethiterreiches den Quellenbestand für die Rekonstruktion der religiösen Verhältnisse in Kleinasien bereichern. Ursprünglich waren die Hurriter in Nordsyrien und Obermesopotamien verbreitet, wobei hurritische Texte die Beziehungen zu diesem Raum mit seinen religiösen Vorstellungen noch erkennen lassen.16 In Kleinasien selbst war der hurritische Anteil der Bevölkerung im Südosten des Landes größer als in Zentralanatolien. Gegenüber dem Hattischen sind die in Ḫattuša und Šapinuwa gefundenen hurritischen Texte vielfältiger: Den Großteil machen Beschwörungs- und Reinigungsrituale aus, dazu kommen Festliturgien (v. a. für den Wettergott Teššub und seine Gattin Ḫebat), mythologische Texte verschiedener Art und wenige Fragmente historischen Inhalts. Auch Omentexte sind in hurritischer Sprache erhalten geblieben; allerdings handelt es sich dabei um Übersetzungen bzw. Bearbeitungen von akkadischen Vorlagen. Für die Erschließung der hurritischen Sprache bedeutsam ist ein umfangreicher epischer Text über den Wettergott sowie eine Sammlung von Parabeln, da diese Texte als Bilinguen mit einer hethitischen Übersetzung überliefert wurden.17 Mit dem Hurritischen verwandt – allerdings nicht als direkte Weiterentwicklung – ist das v. a. vom 9. bis 7. Jahrhundert überlieferte Urartäische im Bereich der heutigen Osttürkei und angrenzender Gebiete im Süden Armeniens und Nordwesten Irans.18 Die verschiedenen Texte behandeln inhaltlich vor allem zwei Themenbereiche, nämlich militärische Aktivitäten bzw. Bautätigkeiten der urartäischen Könige, daneben in einigen Texten enthaltene Opferlisten. Die Inschriften wurden meist auf Felswänden, Stelen und Mauern angebracht, im Unterschied zu den Textfunden der anderen bisher genannten Sprachen jedoch kaum auf Tontafeln.

      Eine weitere mit dem Hethitischen verwandte Sprache ist das Palaische, das im Nord(west)en Anatoliens bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts in Verwendung war, danach aber weitgehend geschwunden ist. Davon sind jedoch nur ganz wenige Texte erhalten geblieben, deren Verständnis noch sehr unvollständig ist.19

      Im so genannten Keilschrift-Luwischen gibt es vor allem Ritualtexte und Beschreibungen von Festliturgien.20 Die älteste Überlieferung dieser Texte setzt bereits im 16. Jahrhundert ein, wobei der luwische Sprachraum sich zunächst über den Süden und Südwesten Anatoliens erstreckte. Das Nebeneinander des Luwischen und des Hurritischen in Kizzuwatna im Süden Anatoliens führte dazu, dass der luwische Wortschatz Wörter aus dem Hurritischen aufgenommen hat. Die erhalten gebliebenen Texte (der Großteil davon ist ins 13. Jahrhundert zu datieren) stammen aus der hethitischen Hauptstadt, wobei von der luwischen Sprache auch sprachliche Einflüsse auf das Hethitische gewirkt haben. Neben dem Keilschrift-Luwischen gibt es – aus dem 2. Jahrtausend – ein kleineres Corpus luwischer Texte, die mit einem hieroglyphischen Schriftsystem geschrieben sind, das – im Unterschied zur aus Nordsyrien importierten Keilschrift – eine genuin anatolische Erfindung ist.21 Dieses so genannte Hieroglyphen-Luwische hat dabei als Schrifttradition Kleinasiens den politischen Untergang des Hethiterreiches zu Beginn des 12. Jahrhunderts überdauert. Die hieroglyphen-luwischen Texte des 1. Jahrtausends zeigen eine – wenngleich gewandelte – kulturelle Kontinuität altkleinasiatischer Vorstellungen v. a. südlich des Halys, in Kappadokien, im Süden und Südosten der heutigen Türkei sowie in Nordsyrien bis ins 8. Jahrhundert v.u.Z. Die Texte aus der Zeit nach dem Untergang liegen in zwei Editionen leicht zugänglich vor: Halet Çambel hat 1999 die Bilingue in hieroglyphen-luwischer und phönizischer Sprache von Karatepe vorgelegt und J. David Hawkins im darauffolgenden Jahr alle weiteren damals bekannten eisenzeitlichen Inschriften – jeweils mit Einleitung, Übersetzung, sprachlichem Kommentar, Fotos und Umzeichnung der Texte.22 Inhaltlich handelt es sich – im Unterschied zum keilschrift-luwischen Corpus – um keine Texte explizit religiösen Inhalts, sondern es sind v. a. Bau-, Grab- und Memorativinschriften. Es lassen sich aus den Texten dennoch Aussagen über die Kontinuität mancher luwischer Götter vom 2. zum 1. Jahrtausend und ein Einblick in Opferpraktiken und Jenseitsvorstellungen gewinnen.23

      Neben dem Hieroglyphen-Luwischen erweitern noch andere Sprachen mit ihrer schriftlichen Hinterlassenschaft die Quellensituation für eine Religionsgeschichte Anatoliens bis zur Mitte des 1. Jahrtausends, v. a. lykische, lydische, phrygische und urartäische Dokumente. Das Lykische ist mit den beiden vorhin genannten luwischen Sprachen eng verwandt. Es ist in einem vom Griechischen abhängigen Alphabet geschrieben und liegt in zwei Sprachformen vor – die Mehrheit der Texte im so genannten Lykisch A und wenige Texte in Lykisch B.24 Die rund 200 lykischen Inschriften (v. a. auf Grabfassaden und Stelen) stammen aus dem Südwesten der heutigen Türkei und wurden zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert v.u.Z. verfasst.25 Hauptsächlich handelt es sich dabei um Grab- sowie um einige Bauinschriften. Für die Erschließung der religiösen Vorstellungen der Lyker geben diese Inschriften v. a. im Hinblick auf den Totenkult Aufschluss, während mythologische Überlieferungen und weitere Hinweise auf religiöse Praktiken aus griechischen »Fremdberichten« stammen.

      Das Lydische gehört ebenfalls zu den anatolischen Sprachen, wobei das exakte Verwandtschaftsverhältnis zum Hethitischen, Luwischen oder Lykischen noch nicht ganz geklärt ist. Dies liegt vor allem daran, dass von den etwas über 100 lydischen Inschriften nur rund 30 einen größeren Umfang aufweisen und dass die Erschließung des Lydischen – im Vergleich mit den anderen anatolischen Sprachen – noch große Schwierigkeiten bereitet. Die Inschriften sind in einem vom Griechischen abhängigen eigenen Alphabet geschrieben, die Mehrheit der Texte sind wiederum Grabinschriften, daneben gibt es einige Erlasstexte. Die meisten Inschriften stammen aus der lydischen Hauptstadt Sardes im Westen der Türkei. Die Überlieferung dieser Inschriften dauert vom späten 7. bis zum 4. Jahrhundert. Auch für die lydische Kultur im Allgemeinen sind neben diesen Inschriften die Informationen, die v. a. aus der griechischen Überlieferung stammen, höchst relevant.26

      Eine ebenfalls indogermanische, aber nicht dem Zweig der indogermanisch-altanatolischen Sprachen zugehörige Sprache des 1. Jahrtausends in Zentralanatolien ist das Phrygische. Die Phryger sind etwas vor 1200 vom Balkan kommend in den Nordwesten Anatoliens eingewandert und nach dem Zusammenbruch des Hethiterreiches bis in den Halysbogen vorgedrungen. Zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert sind rund 340 so genannte altphrygische Inschriften aus den phrygischen Zentren erhalten, wobei fast drei Viertel der Texte aus Gordion stammen.27 Manche der Inschriften beziehen sich auf den Kult, andere auf politische Inhalte. Da die meisten Inschriften recht kurz sind, bleibt das Textverständnis manchmal noch unklar. Neben den phrygischen Inschriften liefern auch – wie im Fall der Lyker und Lyder – griechische literarische Texte weitere Kenntnisse zur phrygischen Religion und Mythologie.

      In all diesen Sprachen sind – in unterschiedlichem Ausmaß und in sehr verschiedenen Gattungen – Texte erhalten geblieben, die gemeinsam mit Erkenntnissen aufgrund archäologischer Feldforschungen Einblick in die pluralistische Kultur Anatolien vom Ende des 3. bis zur Mitte des 1. Jahrtausends geben. Durch die Auswertung dieser Dokumente kann die Darstellung der kleinasiatischen Religionsgeschichte sowohl Kontinuitäten als auch lokale oder chronologische Veränderungen berücksichtigen.

      2 Bemerkungen zum Forschungsstand

      Bereits im Jahr 1922 hat der Leipziger Altorientalist Heinrich Zimmern Übersetzungen hethitischer Texte für die zweite Auflage des »Textbuches zur Religionsgeschichte« (Leipzig) beigetragen, wozu Edvard Lehmann und Hans Haas, die beiden Herausgeber des Textbuches, im Vorwort Folgendes vermerkten:28