Manfred Hutter

Religionsgeschichte Anatoliens


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Abschnitten werden die religiösen Vorstellungen der Zeit der assyrischen Handelskolonien in Kleinasien, die althethitische und mittelhethitische Epoche sowie die Großreichszeit behandelt; dass dabei letztere am umfangreichsten behandelt wird, liegt an der reichhaltigeren Quellensituation. Besonders hervorzuheben sind folgende Unterabschnitte, die den religiösen Pluralismus in Kleinasien deutlich zu machen vermögen. Wichtig sind innerhalb der mittelhethitischen Periode die Abschnitte »Changes in Hittite Religion« sowie »Beliefs of the Luwians« und »Beliefs of the Hurrians in Anatolia«36 oder auch die Überlegungen zu »Syncretism« in der Großreichszeit.37 Damit ist Popkos Zugang deutlich systematischer ausgerichtet und trägt der Vielfalt religiöser Konzepte in Kleinasien besser Rechnung als das umfangreiche Werk von Haas.

      Wenig rezipiert ist die georgische Monographie zur hethitischen Religion von Irene Tatišvili, obwohl das Buch auch eine umfangreiche deutsche Zusammenfassung enthält.38 Die Verfasserin legt in ihrer Rekonstruktion der hethitischen Religion ein besonderes Augenmerk auf die »Reform des Anitta, da Anitta die hattischen Götter als religiöse und politische Konzepte übernommen und die ›hethitisch‹ genannte Religion formiert« hat.39 Daher werden in der Arbeit im Folgenden auch die hattischen Götter ausführlich behandelt. Genauso wird gezeigt, dass das Pantheon der Großreichszeit durch die Übernahme fremder Traditionen gestaltet wurde, so dass das Fremde zum Eigenen der Hethiter geworden ist. Als Ergebnis der Pantheonsbildung betont Tatišvili, dass die Uneinheitlichkeit des Pantheons nicht einer religiösen Toleranz oder einem geringen Ausmaß von Zentralisierung des Hethiterreiches zuzuschreiben sei, sondern dass eine bewusst offene Struktur des Pantheons ohne einen strengen Rahmen von den Priestern geschaffen worden sei, um für neue Götter immer Platz zu haben.40 Damit liefert das Buch bedenkenswerte Überlegungen, die das – priesterliche – Denken über die Götterwelt erschließen; allerdings bleiben Aspekte religiöser Praxis in der Studie ausgespart.

      Piotr Taracha hat im Jahr 2009 ebenfalls eine Gesamtdarstellung der Religionen Anatoliens im 2. Jahrtausend vorgelegt. Darin stellt er zunächst die religiös deutbaren Überlieferungen des vorgeschichtlichen Anatoliens und der altassyrischen Handelsniederlassungen dar, da diese Vorstellungen teilweise als Basis der Religionswelt der hethitischen Zeit dienen. Da der politische Einschnitt zwischen der althethitischen Zeit und der Epoche des Großreiches auch einen religionsgeschichtlichen Wandel bewirkt, behandelt Taracha die religiösen Vorstellungen beider Zeitabschnitte getrennt voneinander.41 In der althethitischen Zeit (16. bis 15. Jahrhundert) spielte dabei das hattische Kultmilieu noch eine wichtige Rolle. Für die Religion der Großreichszeit (14. bis 13. Jahrhundert) lässt sich feststellen, dass neben dem Staatskult am Königshof auch jene religiösen Vorstellungen favorisiert wurden, die sich mit den Beziehungen der königlichen Dynastie der Großreichszeit zum hurritisch-kizzuwatnäischen Bereich verbinden lassen. Auch wenn klarerweise zwischen der herrschenden Dynastie und dem Staat untrennbare Beziehungen bestanden, sind die religiösen Konzepte des Königshauses und des Staatskultes nicht vollkommen deckungsgleich.42 Solche »Binnendifferenzierungen«, die nicht nur die Götterwelt, sondern auch kultische Handlungen, Gebete, Vorzeichendeutung sowie Bestattungspraktiken und Ahnenkult in der kleinasiatischen Religionsgeschichte betreffen, sind beachtenswert.

      In deutlich kompakterer Form als im Jahr 1994 hat Volkert Haas die Grundzüge der hethitischen Religion im Jahr 2011 nochmals in einer deskriptiv und phänomenologisch ausgerichteten Überblicksdarstellung behandelt, wodurch der Aufbau der Arbeit thematisch ausgerichtet ist – im Unterschied zur Orientierung an historischen Entwicklungen durch Popko und Taracha. Weltvorstellungen und Überlegungen zum Wesen der Götter und zu den umfangreichen Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen sowie zu Schicksal, Menschenbild und Jenseits geben einen Einblick in das religiöse Denken der »Hethiter«, das sich auch in den unterschiedlichen menschlichen Kommunikationsformen mit den Göttern in Gebeten, Gelübden, Orakelpraktiken sowie Verfluchungen oder Segnungen feststellen lässt. Am Ende seiner Studie geht Haas kurz auf das Nachleben der hethitischen Religion in Kleinasien sowie auf einige Themen ein, die in der griechischen Mythologie auftauchen und aus Anatolien stammen.43 Damit berücksichtigt er zu Recht, dass der politische Untergang des hethitischen Großreiches nicht das Verschwinden religiöser Überlieferungen bedeutet. Charakteristisch für die Darstellung der Religion durch Haas ist die Hypothese, dass unser Quellenmaterial sich nur auf den Staatskult bezieht, was hinterfragt werden kann. Denn die – wenngleich zum überwiegenden Teil aus der hethitischen Hauptstadt stammenden – Texte erlauben doch eine größere soziale und ethnische Binnendifferenzierung, als dies in der manchmal zu harmonisierenden Darstellung von Haas der Fall ist. Beide zuletzt genannten Überblickswerke zu »hethitischen« oder – zutreffender im Sinn von P. Taracha – »anatolischen« Religionen können daher kritisch-komplementär verwendet werden.

      Die eben genannten Gesamtdarstellungen beschränken sich – mit Ausnahme von M. Popko – auf die »hethitische« Religion« im 2. Jahrtausend. Eine Sonderstellung nimmt die Monographie von Ian Rutherford ein, der fast alle in hethitischen Texten angesprochenen Themen aufgreift, um danach zu fragen, wo diese Traditionen Spuren auch in der griechischen Religion hinterlassen haben. Dabei liegt das Ziel44 seiner Darstellung primär darin, Gräzisten mit der umfangreichen hethitischen religiösen Überlieferung vertraut zu machen, da es ab dem 14. Jahrhundert Kontakte zwischen dem griechisch-ägäischen Raum und Anatolien gegeben hat, so dass mit der Möglichkeit von wechselseitigem Austausch auf religiösem Gebiet zu rechnen ist. Am ertragreichsten hinsichtlich der Frage der Rezeption anatolischer Traditionen in griechischer Überlieferung sind Rutherfords Ausführungen über Rituale aus Arzawa, die Überlieferungen über die Abfolge der Göttergenerationen sowie die Rolle Phrygiens für die Entwicklung der Göttin Kybele.45 Hervorzuheben ist jedoch, dass zwischen hethitischen und griechischen Götternamen kaum Gemeinsamkeiten vorhanden, die auf einen »Import« von Anatolien nach Griechenland schließen ließen.46 Insgesamt zeigt diese anregende religionsvergleichende Studie aber auch, dass anscheinend nur sehr wenige überzeugende Spuren hethitischer Vorstellungen47 in der griechischen Religionsgeschichte nachweisbar sind.

      Neben diesen monographischen Untersuchungen zu hethitischer Religion sind noch folgende (kürzere) Gesamtdarstellungen zu anderen religiösen Traditionen in Anatolien im 2. und 1. Jahrtausend zu nennen sind.48 Jörg Klinger hat eine Analyse der hattischen Kultschicht, die in althethitischer Zeit Zentralanatolien wesentlich geprägt hat, vorgenommen. Marie-Claude Trémouilles Darstellung der Religion der Hurriter zeigt, wie seit der Mitte des 2. Jahrtausends der Staatskult und die religiösen Vorstellungen der großreichszeitlichen Herrscher durch die hurritischen Konzepte angereichert wurden. Manfred Hutter hat eine systematische Darstellung der »luwischen« Religion vorgelegt, in der er sowohl die keilschrift-luwischen als auch die hieroglyphen-luwischen Quellen berücksichtigt hat, wodurch der chronologische Rahmen das 2. und 1. Jahrtausend umfasst. Einen allgemeinen Überblick zur Religion bei den Lykern bietet Trevor Bryce, und über die Götter, den Kult und die Begräbnispraktiken der Lyder informieren Annick Payne und Jorit Wintjes. Den Versuch, die phrygische Religion für die Zeit der altphrygischen Inschriften vor allem unter dem Aspekt des Weiterwirkens autochthoner anatolischer Vorstellungen zu beschreiben, hat Manfred Hutter unternommen, während Susanne Berndt-Ersöz ausgehend vom archäologischen Befund phrygische Kultpraktiken und die damit möglicherweise verbundenen Götter untersucht hat. Dabei ist für die Religionen des 1. Jahrtausends leider einschränkend festzustellen, dass die teilweise stereotype Formulierung der Inschriften bzw. die keineswegs alle Bereiche von Religion abdeckende inhaltliche Thematik dieser Quellen die Rekonstruktion religiöser Vorstellungen des 1. Jahrtausends ungleich stärker erschwert, als dies im 2. Jahrtausend der Fall ist.

      Der geraffte Forschungsüberblick hat somit nicht nur einige relevante Literatur kurz vorgestellt, sondern auch unterschiedliche Betrachtungsebenen angedeutet. Da es sich dabei um historische Religionen handelt, die nie eine normative Dogmatik besessen haben, stellt sich die Frage, in welcher Weise das relevante Material in bester Weise vermittelt werden kann, um wenigstens ansatzhaft zu vermitteln zu versuchen, was »Religion« in Anatolien war.

      3 Was ist »Religion« in Anatolien?

      Mehrfach finden sich zu Beginn von Briefen Grußformeln, mit denen der Schreiber dem Briefempfänger göttlichen