Manfred Hutter

Religionsgeschichte Anatoliens


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archäologisch kein kultureller Bruch nachweisen lässt,13 bleibt eine hattische Kontinuität von der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends in die erste Hälfte des 2. Jahrtausends durchaus plausibel.

      Hinsichtlich der Funktionen der Standarten gehen die meisten Forscher davon aus, dass es sich um Götter(symbole) handelt, wobei diese Deutung wiederum auf einem Vergleich bzw. einer Homologie14 beruht. Denn im KI.LAM-Fest, das zu den Festen der hattischen Religion gehört und als solches zu Beginn des Hethiterreiches rezipiert und weiter gefeiert wurde, gibt es Beschreibungen15 von Prozessionen mit Göttertieren. Diese waren aus wertvollem Metall verfertigt und wurden wohl als Standarten bei den Prozessionen mitgetragen, so dass ein Vergleich mit den Standartenaufsätzen mit Tierfiguren aus den Gräbern möglich ist. Dementsprechend versucht man – als Deutung des Beigabenbefundes der Gräber – die Standarten einzelnen Götter(type)n zuzuschreiben:16 Hinsichtlich der Interpretation kann man jene Standartenaufsätze, die (halb)kreisförmige Scheiben darstellen, als Sonnensymbole deuten und damit eine Verbindung zu der hattischen Sonnengottheit oder eventuell auch zur so genannten »Sonnengöttin von Arinna« herstellen, die in hethitischen Texten genannt werden. Genauso kann man die Stierfiguren als symbolische Repräsentanz des Wettergottes und die Hirschfiguren als Darstellungsform einer Schutzgottheit deuten. Während solche Interpretationen durchaus plausibel sind, bleiben andere Darstellungen schwieriger zu interpretieren. So lässt sich die Tiergruppe, bei der ein Hirsch im Zentrum und zwei ihn flankierende Feliden (Löwe, Leopard) innerhalb eines strahlengeschmückten Bogens stehen, in ihrer Zusammengehörigkeit nicht mit aus späteren Texten bekannten Götterzusammenstellungen verbinden. Neben den Standarten, die bei der Begräbnisprozession verwendet wurden, dürften auch die Sistren und Zimbeln bei den Prozessionen als Klang- und Schallinstrumente verwendet worden sein. Man kann ferner vermuten, dass diese Begräbnisse auch mit einem Festmahl der geschlachteten Tiere verbunden waren.

      Hält man sich (trotz der Unsicherheit der Einzelinterpretation) die Qualität der Gegenstände sowie die auf den Grababdeckungen gefundenen Rinderknochen vor Augen, so dürfte es aber außer Zweifel stehen, dass diese Gräber als Zeugnisse eines Totenkults gelten müssen und damit zumindest insofern Einblick in religiöse Vorstellungen geben, als sich – sollte die Zuordnung der Tierfiguren zu Götter(type)n zutreffen – eine Beziehung zwischen den Bestatteten und ihren Göttern noch im Tod erschließen lässt. Die reichhaltigen Grabbeigaben, aber auch die Markierung der Gräber, die von anderen Fundorten der frühen Bronzezeit in Anatolien bekannt sind – wie etwa die über den Gräbern angelegten Steinkreise mit Durchmessern zwischen 1 und 6 Metern in Karataş im zentralanatolischen Hochland –, weisen auf die Kommunikation und zumindest zeitweilig weiter existierenden Kontakte zwischen den Lebenden und den Toten hin.17 Eine weitergehende Rekonstruktion der Religion für diesen Zeitraum ist nicht möglich, wobei man nie außer Acht lassen darf, dass auch die Interpretation dieser bronzezeitlichen Funde methodisch auf Homologien beruht, verbunden mit der Annahme, dass dieser zentralanatolische Raum bereits seit der Mitte des 3. Jahrtausends hattisch war. Damit rekonstruieren wir aber zugleich »Wurzeln«, aus denen sich religiöse Vorstellungen des 2. Jahrtausends entfaltet haben, z. T. unter Heranziehung von Quellen für diese Vorstellungen, um deren »Vorgeschichte«18 zu rekonstruieren – scharf an der Grenze eines Zirkelschlusses.

      2 Die politische und geographische Situation im zentralanatolischen Raum zur Zeit der altassyrischen Handelskolonien vom 20. bis zum 18. Jahrhundert

      Die archäologischen Schichten der Bronzezeit in Alaca Höyük mit den Gräbern sind durch eine 30 bis 50 cm dicke Brandschicht von der nächsten Besiedlungsschicht getrennt, deren einfache Hausstrukturen man wahrscheinlich zeitlich mit den Funden der altassyrischen Handelskolonien an anderen Orten verbinden kann.19 Diese in Alaca Höyük bestehende Besiedlungslücke ermöglicht daher keine weiteren Informationen über die historische Entwicklung dieses Ortes, wie es überhaupt schwierig ist, Details über die politische Geschichte des 3. Jahrtausends in Zentralanatolien zu nennen. Dies ändert sich erst zu Beginn des 2. Jahrtausends mit den ältesten schriftlichen Quellen auf anatolischem Boden, ca. 23.000 altassyrischen Briefen, Wirtschaftsurkunden und Vertragsvereinbarungen,20 die vor allem im kārum, dem Wirtschaftszentrum der Händler aus Assyrien in der Stadt Kaneš gefunden wurden. Dadurch gewinnen wir Einblick in die Geschichte, Wirtschaft und Kultur Zentralanatoliens und können auch wenigstens teilweise Aussagen über religiöse Vorstellungen treffen.

      Der Fundort Kaneš, heute als Kültepe bezeichnet, liegt rund 20 Kilometer östlich der heutigen Stadt Kayseri südlich des Flusses Kızılırmak und erstreckt sich in ovaler Form auf einer Fläche zwischen 450 und 550 Metern mit einer Höhe von 20 Metern. Dabei kann man zwischen der Oberstadt mit Repräsentationsbauten und der Unterstadt, dem kārum (»[Handels-]Kai«) der assyrischen Händler, unterscheiden. Während für die Unterstadt lediglich vier archäologische Schichten nachweisbar sind, zeigt die Oberstadt – mit 18 Schichten – eine Besiedlung von der Frühen Bronzezeit bis in die römische Zeit.21 Die Oberstadt war das Verwaltungszentrum, auch wenn wir über Herrschernamen aus Kaneš erst aus dem 17. Jahrhundert genauer Bescheid wissen. Denn die überwältigende Mehrheit der Texte, die in der archäologischen Schicht kārum II in der Unterstadt22 gefunden wurden, bezieht sich in der älteren Zeit immer nur pauschal auf den Herrscher bzw. die Herrscherin von Kaneš. Diese Texte umfassen den Zeitraum von etwas mehr als einem Jahrhundert, wobei die Anwesenheit assyrischer Händler kurz vor 1820 wegen der Zerstörung von Kaneš aufgrund von Unruhen unterbrochen wurde. Allerdings begann eine Wiederansiedlung und die erneute Aufnahme des Handels um 1800, die bis 1730/25 andauerte.23 Diese Siedlungsphase umfasst die Schicht kārum Ib, in der lediglich rund 500 Texte gefunden wurden – eine deutliche Diskrepanz gegenüber der Anzahl der Texte aus Schicht II, was auf einen Rückgang der Handelsaktivitäten schließen lässt. Aus all diesen Texten geht hervor, dass Kaneš das Zentrum für den assyrischen Handel mit Anatolien gewesen ist, allerdings nennen nicht nur die Texte weitere Handelsniederlassungen, sondern auch der archäologische Befund mit vergleichbaren altassyrischen Textfunden dieser Zeit – allerdings in wesentlich geringerem Ausmaß – bestätigt dies. Entsprechende Funde stammen aus Alişar, Acem Höyük, Konya-Karahöyük, Kayalıpınar und Ḫattuš(a). Der Wohlstand, den solche lokalen Fürstensitze zeigen, spiegelt auch einen kulturellen und wirtschaftlichen Austausch untereinander wider, der bis in den nordsyrischen Raum nach Karkamiš und Mari reicht; auch die Großarchitektur der anatolischen Orte zeigt teilweise Beziehungen nach Syrien.24

      Auch wenn die altassyrischen Texte rund dreißig größere Siedlungen in Anatolien nennen, kann man v. a. mit fünf bedeutsamen Fürstentümern in Zentralanatolien im 19. und 18. Jahrhundert rechnen, die nicht nur miteinander in regem diplomatischem Kontakt standen, sondern auch die Grundlagen für das spätere Hethiterreich als »Flächenstaat« mit einer – durch die politische Einheit – gemeinsamen Kultur geschaffen haben. Die verschiedenen ursprünglichen Traditionen wirkten aber lange nach und wurden je unterschiedlich im Hethiterreich tradiert. Südlich des Kızılırmak befanden sich drei Zentren – neben Kaneš spielten besonders Waḫšušana und das westlich gelegene Burušḫattum eine wichtige Rolle; innerhalb des Bogens, den der Flusslauf des Kızılırmak bildet, lag Ḫattuš, die spätere hethitische Hauptstadt, sowie weit im Norden Zalpa. Letzterer Ort lag zwar abseits von den assyrischen Handelsniederlassungen, stand aber mit Kaneš und Ḫattuš in Kontakt.

      Die Geschichte des 20. bis 18. Jahrhunderts25 zeigt – wie aus den altassyrischen Texten hervorgeht – einen regen Austausch zwischen den einzelnen Orten, da durch die Handelswege auch Kommunikationsnetzwerke entstehen. Aus Assyrien importierte Handelsgüter dieser Zeit waren vor allem wertvolle Textilien und annukum-Metall, wahrscheinlich Zinn, das in Anatolien für die Herstellung von Bronze benötigt wurde, da in Zentralanatolien eine reichhaltige Kupferförderung möglich war.26 Im Gegenzug wurden Gold und Silber aus Anatolien nach Assyrien gehandelt. Die Handelsinteressen dürften aber zu Spannungen zwischen den anatolischen Zentren untereinander geführt haben,27 da es Hinweise auf zunehmende Konflikte und Unruhen in Zentralanatolien gibt, die wahrscheinlich in der Zerstörung von Kaneš um oder kurz nach 1830 einen Höhepunkt fanden. Möglicherweise ist diese Zerstörung durch einen Angriff der nordanatolischen Stadt Zalpa – eventuell