Manfred Hutter

Religionsgeschichte Anatoliens


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assyrischen Handel oder die Existenz eines assyrischen kārum bekannt ist.

      3 Religiöse Vorstellungen vor der Entstehung des hethitischen Staates

      Die Aussagen über die verschiedenen lokalen religiösen Traditionen betreffen die Hattier innerhalb des Halysbogens, die hethitische Bevölkerung in Kaneš sowie die Luwier in Burušḫattum und im Westen. Für diese Kenntnisse stehen – wie schon bei der historischen Rekonstruktion – wiederum weitgehend nur die altassyrischen Texte und der hethitische Anitta-Text zur Verfügung, d. h. Texte, deren Fokus nicht auf der Behandlung religionsbezogener Fragen liegt. Ferner ist zu bedenken, dass viele Verfasser und Verfasserinnen der altassyrischen Briefe keine Anatolier waren. Insofern beziehen sich manche religiösen Aussagen dieser Texte auf die altassyrische Religion, die hier aber nur insofern erwähnt werden soll, als man aufgrund des alltäglichen Kontakts zwischen Assyrern und Anatoliern in Kaneš erkennen kann, dass es für beide Gruppen keine unüberwindbaren Grenzen gegeben hat, auch an religiösen Praktiken der »Anderen« teilzunehmen. Einzelne assyrische Briefe sprechen davon, dass ein Assyrer hinauf zum Tempel geht, was räumlich konkret dahingehend zu verstehen ist, dass die Tempel der Oberstadt von Kaneš als Ziel dieser Aktion zu sehen sind. Zumindest die Stadtgöttin von Kaneš, Annā, wurde dabei auch von Assyrern – eben in deren Tempel in der Oberstadt – verehrt. Eine andere interessante religiöse Interferenz wird in einem Vertragstext zwischen dem lokalen Herrscher und einem assyrischen Kaufmann sichtbar, in dem der Kaufmann seine Unschuld dadurch beweisen soll, dass er entweder »vor dem Dolch des Gottes Aššur schwört« oder »wie ein Anatolier zum Fluss geht«, d. h. sich zum Erweis seiner Unschuld einem (göttlichen) Flussordal unterwirft.43 Aber auch andere Texte zeigen gerade in Bezug auf Eidesleistungen, dass ein Eid vor Aššur, Annā und dem rubā’um geschworen wird, um dadurch den Eidbrüchigen sowohl unter die Autorität der beiden göttlichen wie auch des menschlichen Machthabers zu stellen. Welche Aussagen zur Religion bei den anatolischen Bevölkerungsgruppen lassen sich nun einigermaßen gesichert machen? Guido Kryszat hat den diesbezüglichen Kenntnisstand, der sich aus Andeutungen und Hinweisen der altassyrischen Texte aus Anatolien gewinnen lässt, zusammengestellt; darauf kann die folgende Darstellung aufbauen.

      3.1 Die Götterwelt

      Die meisten Aussagen sind bezüglich der Götterwelt möglich, auch wenn bereits eingangs einschränkend zu sagen ist, dass über die genauen Funktionen vieler Götter, geschweige denn über mythologische Begründungen oder Erklärungen von Göttern, kaum Kenntnisse vorhanden sind. Allerdings lassen sich Veränderungen in der Götterwelt der Schicht kārum II zur Schicht kārum Ib feststellen.

      An der Spitze des Pantheons scheint als Stadtgöttin Annā gestanden zu haben.44 Ihr Name könnte mit dem der luwischen Göttin Anna, die zum Kreis der Göttin Ḫuwaššanna von Ḫubešna gehört, identisch sein. Dabei ist zu beachten, dass Anna praktisch auf den Kreis von Gottheiten um Ḫuwaššanna beschränkt bleibt,45 d. h. die Hauptgöttin von Kaneš hat in den religiösen Vorstellungen nach der Entstehung des hethitischen Staates keine hervorragende Rolle mehr gespielt. Die Rolle von Annā als Hauptgöttin von Kaneš – was auch die Verbindung der allgemeinen Nennung der ilat ālim (»Göttin der Stadt«) bzw. der ilat Kaneš (»Göttin von Kaneš«) mit Annā erlaubt – könnte auch der Grund sein, dass Eide vor dem Gott Aššur, vor Annā und vor dem rubā’um geschworen werden; wahrscheinlich bezieht sich auch der Titel »Herrin des Eides« (bēlat māmītim) auf sie. Der Großteil der Belege für Annā stammt aus kārum II, wobei der Rückgang der Beleglage in kārum Ib nicht nur damit zusammenhängen dürfte, dass aus Schicht II insgesamt die Mehrheit der Quellen stammt, sondern auch mit einem religionspolitischen Ereignis, nämlich der Deportation der Stadtgottheit von Kaneš durch Uḫna nach Zalpa, was Anitta im Zusammenhang mit seiner Rückholung der Statue der Göttin aus dem Norden Anatoliens erwähnt. Allerdings ist im hethitischen Anitta-Text nicht der Name Annā verwendet, sondern die hethitische Bezeichnung Dšiušummi- »unsere Gottheit« bzw. »unser Šiu«. Damit sind mehrere philologische und religionsgeschichtliche Probleme verbunden. Das geringere Problem stellt das Possessivsuffix -šummi- dar, das sich auf die 1. Person Plural bezieht.46 Das hethitische Wort šiu- kann sprachlich von der indoeuropäischen Form *dy-éu-/*di-w- »Licht(gott)« hergeleitet werden, woraus Erich Neu den Schluss zieht, dass Šiu der Name der Sonnengottheit in Kaneš war, der im Anitta-Text an manchen Stellen in der ideographischen Schreibung DUTU auftaucht. Erst in späterer althethitischer Zeit sei der »Sonnengott« (Šiu) durch den Sonnengott Ištanu verdrängt worden, so dass der Gottesname Šiu dadurch zum bloßen Appellativ »Gott« wurde.47 Geht man hingegen von der Identifizierung von Annā mit šiu- aus, so muss man hinsichtlich der Deutung von šiu- als Name des Sonnengottes feststellen, dass die assyrischen Belege kein Indiz dafür liefern, dass Annā eine (weibliche) Sonnengottheit gewesen wäre. Versteht man jedoch šiu- als Appellativ »Gott«, so gewinnt man daraus zwar keinen Hinweis auf den Charakter und Aufgabenbereich von Annā, kann aber an jenen Stellen im Anitta-Text, die von »unserer Gottheit« sprechen, problemlos an Annā denken.

      Auch wenn somit šiu-/Šiu- als Sonnengottheit nicht in Frage kommt, ist eine Sonnengottheit in der sumerographischen Schreibung DUTU sowohl in den Schichten kārum II und Ib als auch in den hethitischen Texten gut nachgewiesen; der Name bleibt jedoch in vorhethitischer Zeit unbekannt, da selbstverständlich der Name Eštan für die Sonnengöttin des hattischen Gebiets innerhalb des Halysbogens sicher nicht auf die Sonnengottheit in Kaneš übertragen werden darf. Dass der Sonnengott nicht unbedeutend war, sieht man daran, dass ihm ein größeres Fest ausgerichtet wurde,48 das – wie andere Festtermine – als Terminangabe für die Rückzahlung von Schulden in einer Urkunde genannt wird (kt 89/k 432,12); über Festablauf oder genaue Datierung des Festes im Jahreslauf kann daraus aber nichts abgeleitet werden.

      Aufgrund der klimatischen Verhältnisse in Zentralanatolien überrascht die wichtige Rolle eines Wettergottes wenig, allerdings ist auch hier wiederum ein Problem zu benennen: In den Texten von kārum II kommt häufig der Gottesname Nipas49 vor, der jedoch in Schicht Ib nicht mehr auftaucht. Daher ist damit zu rechnen, dass zwischen Schicht II und Ib eine Verschiebung im Pantheon geschehen ist und Nipas durch einen anderen Gott abgelöst wurde, so dass sein Name in der Überlieferung verschwindet, da auch das hethitische Pantheon keinen Gott mit diesem Namen nennt. Die große Zahl der Belege für Nipas in den Texten der Schicht II zeigt jedoch, dass er damals neben Annā der wichtigste Gott in Kaneš gewesen sein dürfte. Diese wichtige Stellung des Gottes verdeutlichen auch die Nennung von Priestern für ihn sowie die Erwähnung eines (wohl mehrtägigen) Festes für den Gott. Einen Hinweis auf die Funktion des Gottes kann man in seinem Namen finden, den die Forschung meist mit dem hethitischen Wort nepiš- »Himmel« verbindet.50 Aufgrund der Etymologie (vgl. z. B. griech. néphos; sanskrit nabhas- »Wolke«) ist dabei nicht an den lichten und sonnenklaren (vgl. indoeurop. *dy-éu-/*di-w-) Taghimmel, sondern an den bewölkten ­Himmel zu denken, dessen Wolken Niederschlag und agrarische Fruchtbarkeit bringen. Somit scheint Nipas für die »himmlischen Wettererscheinungen« verantwortlich zu sein, wobei eine solche typologische Verknüpfung – trotz des Schwindens des Namens – nicht völlig aufgegeben worden zu sein scheint, da noch Anitta mehrfach vom »Wettergott (DIŠKUR) des Himmels« spricht.51 Trotz des »Verlustes« bzw. der Änderung des Namens des Wettergottes in Kaneš scheint eine typologische Kontinuität erhalten geblieben sein, denn Anitta errichtete nach der Festigung seiner Herrschaft in Kaneš je einen Tempel für den »Wettergott des Himmels« und für »unsere Gottheit«.52 Im Nebeneinander der beiden Gottheiten kann man eine Reminiszenz an die älteren Vorstellungen des zentralen Götterpaares Nipas und Annā in Kaneš sehen, was auch ein Indiz für das weibliche Geschlecht von Annā ist. In den Texten von kārum Ib kommt ebenfalls mehrfach ein Wettergott in der sumerographischen Schreibung DIŠKUR vor (auch mit einer besonderen Erscheinungsform als DIŠKUR ša qaqqadim »Wettergott des Hauptes«53), wobei auffallend ist, dass die Texte der Schicht II diese sumerographische Schreibung nicht kennen. Die zunächst auf der Hand liegende Gleichsetzung