als Opfer vor Stelen verwendet worden. Aus der Unterstadt von Kaneš sind vier Räume in Häusern der Schichten Ib und Ia bekannt, in denen sich Stelen befunden haben, vor denen Opfer im Rahmen des familiären Kultes durchgeführt wurden. Diese Stelen sind rund einen Meter hoch, an der Basis jeweils ca. 30–35 cm breit und an der Spitze 10–15 cm. Yağmur Heffron konnte dabei deutlich machen, dass sich in mindestens zwei Fällen vor der Stele auch eine Einrichtung zur Aufnahme des Gussopfers befand. Dass dies nicht nur eine Praxis in Kaneš war, sondern auch anderswo, zeigt eine Darstellung eines Siegelabdrucks aus Acem Höyük aus dem 18. Jahrhundert; darauf gießt eine stehende Person ebenfalls vor einer Stele eine Opferflüssigkeit aus.81 Diese in den Häusern der Unterstadt gefundenen Stelen können dabei sehr wahrscheinlich mit dem Hauskult der Bewohner verbunden werden, wobei die »Zielgruppe« der Empfänger solcher Opfer nicht eindeutig geklärt werden kann. Man kann bei den Kulten vor diesen Stelen sicherlich an die Schutzgottheiten der Familie denken, die auch in den vorhin genannten Götterfigurinen sichtbar sind. Bei dieser Deutung kann man in Erwägung ziehen, ob diese Räume vielleicht auch von mehreren Bewohnern bzw. Haushalten in der Unterstadt als kleines Heiligtum benutzt wurden – eventuell innerhalb eines Verwandtschaftsverbandes.82 Dass dabei die Familien- bzw. Verwandtschaftsbeziehungen nicht überschritten worden sein dürften, wird dadurch wahrscheinlich, dass mindestens zwei Stelen im archäologischen Kontext eng mit Gräbern verbunden sind, da die Bewohner der Unterstadt ihre Toten unter dem Fußboden im Innern des Hauses bestattet haben. Diese Verbindung zwischen Stele und Grab führt dabei zu einer alternativen Deutung des Fundensembles, indem man die Stelen als Gedächtnisstelen für die Verstorbenen ansieht und das Ensemble mit dem Totenkult in der Familie verbindet, dieses jedoch nicht für die Anwohnerschaft – als kleines allgemeines Heiligtum – genutzt wurde. Über die Ausführung des Totenkults in dieser Zeit wissen wir jedoch nicht allzu viel. Erwähnenswert sind aber einige Goldblättchen, die anscheinend auf die Augen und auf den Mund der Toten gelegt wurden, was eine rituelle Behandlung der Verstorbenen zeigt, möglicherweise um diese Körperöffnungen vor dem Eindringen schädigender Geister in die Toten zu schützen.83
Zieht man ein Resümee hinsichtlich der religiösen Situation, die sich für die kārum-Zeit rekonstruieren lässt, so bleiben die Kenntnisse sicherlich eingeschränkt. Man darf aber wohl davon ausgehen, dass von dieser Zeit eine Kontinuität mancher Götter und Praktiken des Hauskultes bis in die althethitische Zeit besteht. Die Verlagerung des politischen Zentrums in das hattische Gebiet nördlich des Kızılırmak bewirkte jedoch für die Religion des beginnenden Hethiterreiches eine dynamische Beziehung zwischen Kontinuität und Neuerung.
C Religion in der althethitischen Zeit
Das Ende der politischen Bedeutung von Kaneš unter dem letzten bekannten Herrscher Zuzzu um 1725 leitet in den beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts eine historische Veränderung in Zentral- und Nordanatolien ein, die die Entstehung des »althethitischen« Reiches – mit dem ersten Herrscher Ḫuzziya – ermöglicht.1 Damit ist eine konventionelle Bezeichnung der Periodisierung der Geschichte des hethitischen Kleinasien aufgegriffen, bei der meist von drei »Reichen« – das althethitische, das mittelhethitische und das Großreich – gesprochen wird. Allerdings ist diese Dreiteilung in jüngerer Zeit zu Recht in Frage gestellt worden,2 da – unabhängig vom nicht gänzlich unproblematischen Begriff eines hethitischen »Reiches« – deutlich wurde, dass das so genannte »mittlere Reich« keine klar abgrenzbare und eigenständige Periode darstellt, sondern eher eine Zeit politisch schwächerer Herrscher während des 15. Jahrhunderts ist. Darauf setzt am Ende des Jahrhunderts zunächst unter Tudḫaliya II. (1420–1400/1390) sowie seinem Nachfolger Arnuwanda I. aufgrund der politischen Schwäche einiger vor ihnen herrschender Könige ein neuer Aufschwung der politischen Macht ein, der unter Šuppiluliuma I. ab der Mitte des 14. Jahrhundert durch die Rückeroberung verlorengegangener Gebiete in Kleinasien, aber auch durch die erfolgreiche und andauernde Expansion der hethitischen Macht nach Nordsyrien fortgesetzt wird. Diese Neuordnung der politischen Situation wird als hethitisches Großreich bezeichnet,3 das bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts Bestand hat.
Man kann die hethitische Geschichte als eine kontinuierliche Geschichte sehen, mit dem 15. Jahrhundert als einer Schwächeperiode, die aber nicht nur den Übergang zum »Großreich« ermöglicht, sondern ab dem späten 15. Jahrhundert setzen auch Veränderungen in religionsgeschichtlicher Hinsicht ein: Die Kontinuität der althethitischen Religion bleibt sichtbar, aber zugleich treten neue Aspekte in Erscheinung. Dieser historischen Entwicklung trägt die folgende Darstellung insofern Rechnung, als nach dem Abschnitt zur althethitischen Religion in einem weiteren Kapitel wichtige religionsgeschichtliche Veränderungen und Neuerungen vor der Großreichszeit beschrieben werden. Dennoch muss betont werden, dass substanzielle Unterschiede nur zwischen der althethitischen und der großreichszeitlichen Religion bestehen.4
1 Eckpunkte der geschichtlichen Situation der althethitischen Zeit
Als ersten hethitischen König am Beginn der althethitischen Zeit kennen wir Ḫuzziya, der als König von Zalpa durch Anitta besiegt und nach Kaneš deportiert worden war. Wie der Übergang bzw. der Hiatus zwischen der »Kaneš-Zeit« und der »althethitischen« Zeit vor sich gegangen ist, ist nicht völlig geklärt. Ein gewisser Ḫuzziya ist möglicherweise der direkte Nachfolger von Zuzzu von Kaneš, der eventuell seinerseits durch eine Usurpation die Herrschaft über Kaneš dem Herrscher Anitta entrissen hat. Dies bedeutet, dass der erste hethitische Herrscher zwar aus dem (erweiterten) »königlichen Kontext« von Kaneš stammt, aber nicht mit der Pitḫana-Anitta-Dynastie verbunden ist.5 Trotz dieser Verbindung mit Kaneš ist hervorzuheben, dass hattische Traditionen des nördlichen Anatoliens für die Entstehung des althethitischen Reiches einen wesentlichen Faktor bilden.6 Ob Ḫuzziya – und sein Schwiegersohn und Nachfolger Labarna I. – bereits in Ḫattuša residierten oder noch an anderen Orten, bleibt unsicher. Erst Labarna II. hat Ḫattuša neu aufgebaut und sich fortan Ḫattušili, »der (Mann) von Ḫattuša«, genannt. Ḫattušili I. stammte wohl aus Kuššara.7 Die »hethitische Hofsprache«, die spätestens unter Ḫattušili nach Ḫattuša gelangte, wäre daher nicht der hethitische Alltagsdialekt aus Kaneš, sondern die Sprache der politischen Eliten aus Kuššara. Wegen dieser Differenzierung vermutet Alwin Kloekhorst, dass zwischen den Hinweisen auf das Hethitische in den altassyrischen Texten als Dialektform in Kaneš und der Dialektform in Kuššara Unterschiede bestanden und daher die Form hethitischer Wörter in den Texten aus Kaneš und in (jüngeren) hethitischen Texten aus Ḫattuša nicht völlig gleich ist. Auch wenn Ḫattušili aus Kuššara stammt, ist fraglich, ob sich jedoch daraus eine solche sprachliche Differenzierung ableiten lässt, wie Kloekhorst vermutet.8 Denn im Selbstverständnis ihrer Sprache verwendeten die Hethiter den Begriff nišili- (bzw. auch die Variante kanišumnili-), wobei diese Bezeichnung vom Ortsnamen Kaneš und nicht von Kuššara abgeleitet ist, was man nicht unbeachtet lassen sollte.
Mit Labarna I. und Ḫattušili I. beginnt der »überregionale« hethitische Staat. Dabei geraten schrittweise unabhängige hattische Lokalherrscher unter hethitische Kontrolle. Der Ausbau der (neuen) Hauptstadt Ḫattuša unter Ḫattušili ist ein Zeichen der Konsolidierung der Macht gegenüber lokalen inneranatolischen Herrschern. Dieser Prozess der Konsolidierung der überregionalen Herrschaft ist unter Ḫattušilis Nachfolger (und Sohn?) Muršili I. zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen. Mit der Ermordung Muršilis setzte eine Periode innenpolitischer Unruhen und Thronkämpfe ein, über die wir aus dem Prolog des so genannten Telipinu-Erlasses informiert sind.9 Telipinu, dem es während seiner Regierung gelingt, das politische Ansehen des Hethiterreiches wieder zu stärken, skizziert in diesem Text nicht nur die politischen Morde am Königshof, sondern versucht auch, die Thronfolge auf feste und geregelte Bahnen zu lenken – allerdings mit mäßigem Erfolg, da auch wenigstens zwei seiner Nachfolger (Ḫuzziya II., Muwatalli I.) eines unnatürlichen Todes starben. Mit der Thronbesteigung von Ḫuzziyas Sohn Tudḫaliya II. im späten 15. Jahrhundert beginnt eine neue Phase der hethitischen Geschichte, die durch außenpolitische Auseinandersetzungen mit Arzawa im Westen, mit den Angriffen der Kaškäer aus dem Norden und dem zunehmenden Einfluss der Hurriter auf den Südosten geprägt ist; diese Phase