hattische Bevölkerung in religiöser Hinsicht ein möglicherweise indoeuropäisches Erbe der (ursprünglichen) religiösen Vorstellungen der Hethiter nicht mehr sichtbar ist, d. h. offensichtlich haben die Hethiter diese Traditionen völlig zu Gunsten der Übernahmen aus dem hattischen Milieu aufgegeben.20 Am deutlichsten ist dieses Verschwinden indoeuropäischen Erbes im Zusammenhang mit Šiu (šiu-) zu sehen, wie der Anitta-Text zeigt. Denn šiu- ist in hethitischer Zeit nur noch ein Appellativum oder allgemeines Wort für »Gott«, nicht aber – aufgrund der Etymologie21 – ein Begriff für »Licht(-Gott)«. Es lebt zwar das ererbte Wort im Hethitischen weiter, nicht aber die ursprünglich damit verbundene Vorstellung. Ein weiteres Charakteristikum der Religion in althethitischer Zeit besteht darin, dass es – im Unterschied zu späteren Perioden – während dieser Zeit noch keinen Einfluss nordsyrischer oder mesopotamischer Traditionen in der religiösen Welt der Hethiter gibt,22 trotz bereits kurzfristiger militärischer Aktionen in diese Gebiete unter Ḫattušili I. und seinem Nachfolger Muršili I. Erst im 15. Jahrhundert beginnen solche außeranatolischen Einflüsse die religiösen Vorstellungen zu verändern.
2.1 Die Götterwelt als Widerspiegelung gesellschaftlicher Prozesse
In den verschiedenen Sprachen der althethitischen Zeit sind mehrere Wörter für Gott(heit) belegt.23 Im Hethitischen lautet – wie erwähnt – das Wort für Gott šiu(ni)-/šiwa(nni)-. Eine Ableitung von diesem Wort (allerdings der »Göttlichkeit« entkleidet) liegt in šiwatt- »Tag« vor. Auch das Luwische zeigt noch einen Reflex dieser indoeuropäischen Wurzel, allerdings nicht als Begriff »Gott«, sondern im Gottesnamen »Tiwad« für den Sonnengott. Vergleichbar dieser sprachlichen Bedeutungsverschiebung und einengenden Spezifizierung auf den Sonnengott im Luwischen ist die Entwicklung im Palaischen, wo der Sonnengott den Namen Tiyaz trägt; der Allgemeinbegriff für »Gott« im Palaischen ist tiu=na-,24 d. h. eine palaische Weiterbildung aus der indoeuropäischen Wurzel. Auch das lydische Wort ciw- für »Gott« im 1. Jahrtausend ist etymologisch damit verwandt. Auch wenn somit sprachlich in der Bezeichnung für Gott in einigen anatolischen Sprachen ein indoeuropäisches Erbe bewahrt blieb, darf man daraus kein Weiterleben einer »indoeuropäischen Gottesvorstellung« in Anatolien ableiten. Indirekt zeigt dies der negative Befund im Luwischen (und im damit verwandten Lykischen im 1. Jahrtausend), da diese beiden Sprachen mit maššan(i)- bzw. maha(na)- ein völlig anderes Wort für »Gott« verwenden, das entweder mit griechisch mega- »groß« verbunden werden kann oder vielleicht aus einer nicht-indoeuropäischen Sprache im westlichen Zentralanatolien stammt. Das hattische Wort für »Gott« lautete šaḫap-; dieses ist sowohl als eigenständiges Wort, aber auch als Teil des Namens der Göttin Tete-šḫapi (wörtlich »die erhabene Göttin«) oder des Gottes Katte-šḫawi/Katte-šḫapi (wörtlich »König-Gott«) bezeugt.
2.1.1 Zum althethitischen »Staatspantheon«
Wahrscheinlich ist für die althethitische Zeit noch nicht mit einer voll entfalteten Struktur eines »Staatspantheons« zu rechnen. Allerdings lassen sich bereits einige Kernelemente beobachten, die letztlich für die ganze hethitische Geschichte hindurch strukturell bedeutsam bleiben.
In den Annalen Ḫattušilis I. ist u. a. mehrfach davon die Rede, dass er die Kriegsbeute in den Tempel der Sonnengöttin von Arinna, des Wettergottes (des Himmels) und der Göttin Mezzulla gebracht hat.25
So (spricht) Tabarna Ḫattušili, der Großkönig, König des Landes Hatti, der Mann aus Kuššara. … Danach aber zog ich nach Zalpa (in Nordsyrien) und zerstörte es, und seine Götter(bilder) nahm ich mit und drei zweirädrige MADNADU(-Wagen) gab ich der Sonnengöttin von Arinna. Ein Rind aus Silber, eine Faust aus Silber gab ich dem Tempel des Wettergottes, diejenigen (Götterbilder) aber, die übrig waren, die gab ich dem Tempel der Mezzulla. …
In wenigen Tagen überschritt ich den Fluss Puruna (Eufrat) und mit (meinen) Füßen trat ich das Land Ḫaššuwa wie ein Löwe nieder und wie ein Löwe schlug ich (es), und Staub brachte ich auf sie und ich nahm all ihre Habe mit und füllte Ḫattuša damit. … Ferner nahm ich ihm (dem Ort Ḫaššuwa) die Götter(bilder) weg: den Wettergott, Herrn von Aruzza, den Wettergott, Herrn von Ḫalab, Allatu, (den Berggott) Adallur, Leluri, zwei Rinder aus Silber, drei Statuetten aus Silber (und) Gold. … Diese Götter(bilder) von Ḫaššuwa brachte ich zur Sonnengöttin von Arinna. Die Tochter der Allatu, Ḫebat, drei Statuen aus Silber, zwei Statuen aus Gold, diese brachte ich in den Tempel der Mezzulla. Eine IMITTU(-Lanze) aus Gold, ein Szepter aus Gold, fünf Keulen aus Silber, drei Doppeläxte aus Lapizlazuli, eine Doppelaxt aus Gold, diese brachte ich in den Tempel des Wettergottes.
Auch aus anderen nordsyrischen Städten werden die Götter(statuen) durch Ḫattušili nach Ḫattuša gebracht, allerdings ist für die althethitische Zeit zu betonen, dass mit dem Transfer der Götterstatuen nicht die Verehrung dieser Götter in Ḫattuša verbunden wurde, sondern es ging dabei um (materielle) Kriegsbeute, die in den Tempeln der drei wichtigsten Gottheiten der hethitischen Hauptstadt – und damit des »Staates« – deponiert wurden.
Blicken wir genauer auf das »Pantheon« Ḫattušilis, so zeigt sich die Spitzenstellung der Sonnengöttin von Arinna, wobei der hinzugefügte Ortsname »Arinna« auf die Komplexität der religionsgeschichtlichen Entwicklungen hinweist:26 Manchmal wird die Göttin auch bloß als Ariniddu (d. h. die »Arinnäische«) bezeichnet. Die Sonnengöttin war die wichtigste Göttin der Hattier; der Zusatz des Ortsnamens Arinna verweist auf die alte hattische Kultstadt dieses Namens, deren (ursprünglich lokaler) Kult eng mit der Verehrung der Göttin Wurunšemu verbunden wird, deren Name vom hattischen Wort wur-/fur- »Erde, Land« herzuleiten ist. Diese Identifizierung der beiden Namen zeigt die hattisch-hethitische Bilingue KUB 28.6 Vs. 12, in deren hattischer Version der Name Wurunšemu parallel zur »Sonnengöttin von Arinna« der hethitischen Version verwendet wird. Der original-hattische Name der Sonnengöttin war Eštan (im Hethitischen zu Ištanu umgeformt). Dass die Sonnengöttin sicher weiblich war, macht ihr Titel »Königin« (hatt. kattaḫ; logographisch MUNUS.LUGAL) deutlich. Ein hattisches Bauritual (KBo 37.1) beschreibt die Errichtung eines Palastes für diese Sonnengöttin in Liḫzina, wobei die Unterweltsgöttin Lelwani und der Wettergott am Bau mitwirken.27 Im Vergleich mit dem Bauritual KUB 29.1 kann man daraus ableiten, dass wohl auch dieses hattische Ritual die Sonnengöttin mit dem Königtum verbindet. Bemerkenswert ist daran, dass das Ritual anscheinend eine ursprünglich lokale Version der Verbindung der Sonnengöttin mit einem (vorhethitisch lokalen) Königtum in der Stadt Liḫzina erkennen lässt, die jedoch an den »Staatskult« angepasst wurde. Für das »Staatspantheon« ergibt sich daraus, dass man davon ausgehen kann, dass die hattische Sonnengöttin ihre Spitzenstellung aus der hattischen Kultur im althethitischen Staat nicht nur bewahrt hat, sondern durch die Beziehung zur Kultstadt Arinna noch zusätzlich an Renommee gewonnen hat. Aber auch andere lokale Traditionen wurden rezipiert. Mezzulla28 ist die Tochter dieser Göttin, die ursprünglich ebenfalls eng mit Arinna verbunden war, aber gemeinsam mit ihrer Mutter überregionale Bedeutung erhielt. Manchmal wird Mezzulla auch mit dem hattischen Namen Tappinu (wörtlich »ihre Tochter«, gemeint in Bezug auf die Sonnengöttin) bezeichnet. Dadurch ist klar, dass die beiden bei Ḫattušili namentlich genannten Göttinnen aus dem hattischen Milieu stammen.
Dies gilt auch für den Wettergott, obwohl sein Name nur mit dem Wortzeichen DIŠKUR (»Wettergott«) und nicht syllabisch geschrieben ist. Der hattische Name des Wettergottes war Taru,29 wobei der Stier als sein Begleittier gilt. Die Bedeutung der Wettergötter in Anatolien zeigt sich deutlich daran, dass wir aus der hethitischen Geschichte rund 150 Orte kennen, in denen ein Wettergott verehrt wird; solche lokalen Wettergötter werden meist als Söhne des Wettergottes (des Himmels) und der Sonnengöttin (von Arinna) bezeichnet. Die feste Verbindung zwischen dem Wettergott und der Sonnengöttin wird gut ab Ḫattušili I. fassbar.30 Darin ist m. E. eine Neuerung in der kleinasiatischen Religionsgeschichte – zumindest gegenüber den religiösen Verhältnissen, wie sie aus den kārum-zeitlichen Texten aus Kaneš und aus dem Anitta-Text abzulesen sind – zu sehen, da diese älteren Quellen die Verbindung zwischen Sonnengöttin