gesicherten Interpretation, so dass sie nicht exakt in die rekonstruierte Religionswelt von Kaneš einzuordnen sind. In einem Fall lassen sich aber weitergehende Erkenntnisse gewinnen. Eine in kārum Ib im Jahr 2006 gefundene dünne Goldfolie zeigt eine nach links schreitende Gottheit, die in der rechten Hand eine über die Schulter gelegte Axt und mit der nach vorne ausgestreckten linken Hand die Hinterläufe eines liegenden Löwen hält. Fikri Kulakoğlu interpretiert diese Figur als Kriegsgott, da der Kriegsgott Zababa in hethitischen Texten ebenfalls mit einer solchen Axt und einem Löwen beschrieben wird.67 Hervorzuheben ist dabei aber nicht nur diese Vergleichbarkeit mit jüngeren Zeugnissen, sondern auch stilistisch ist die Darstellung mit hethitischen Götterdarstellungen vergleichbar, etwa mit einer kleinen Statue aus Dövlek aus althethitischer Zeit oder dem Kriegsgott auf dem so genannten Königstor von Ḫattuša. Solche vergleichbaren Darstellungen machen diesen kleinen Fund zu einem wichtigen Indiz für eine Kontinuität von religiösen (und künstlerischen) Vorstellungen von der kārum-Zeit in die hethitische Periode.
3.3 Beobachtungen zur religiösen Praxis als Strukturfaktor der Gesellschaft
3.3.1 Tempel und öffentlicher Kult
Einige Baustrukturen in der Oberstadt von Kaneš werden als Tempel gedeutet, auch der Anitta-Text spricht von der Errichtung von Tempeln.68
Und für Neša baute ich Befestigungen. Und nach den Befestigungen baute ich den Tempel des Wettergottes des Himmels und den Tempel unserer Gottheit. Den Tempel der Gottheit Ḫalmašuit, den Tempel des Wettergottes, meines Herren, und den Tempel unserer Gottheit baute ich. Und was ich an Gütern von den Feldzügen zurückbrachte, damit versah ich [sie].
Dass unter Pitḫana und Anitta Kaneš baulich verändert wurde, zeigt der archäologische Befund.69 Frühere Bauten der Oberstadt waren durch ein Feuer zerstört worden – möglicherweise im Zusammenhang mit der militärischen Auseinandersetzung zwischen den Städten Kaneš und Zalpa –, so dass nun eine große Palastanlage errichtet wurde, deren Umfassungsmauer 140 mal 120 Meter misst. Die Gebäude dieses Palastes sind dabei um einen Innenhof gruppiert. Eine architektonisch ähnliche, wenn auch etwas kleinere Anlage wurde in Acem Höyük ausgegraben. Ferner sind in der Oberstadt zwei gleiche Baustrukturen nachweisbar, die als Tempel interpretiert werden. Die Größe der beiden Bauten mit je einem Zentralraum (14 mal 12,3 Meter) und massiven Türmen an den Ecken zeigt die Bedeutung dieser Bauten; allerdings muss dazu einschränkend gesagt werden, dass keine Kultgegenstände darin gefunden wurden. Zwei weitere kleinere Gebäude könnten ebenfalls Tempel gewesen sein. Die verschiedenen Bauten der Oberstadt von Kaneš ergeben insgesamt ein Bauensemble für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, das aus kultischen Bauten und dem Palastbereich bestand, auch wenn aufgrund der starken Zerstörung durch einen Brand sowie jüngere bauliche Aktivitäten in diesem Bereich eine Detailrekonstruktion des Areals zur Blütezeit der Oberstadt während der Dynastie von Kuššara nicht völlig möglich ist.
Leider erfahren wir aus den altassyrischen Briefen wenig über die Funktion der Tempel und die Rituale des öffentlichen Kultes. Die Texte aus Kültepe nennen einige Priester, die mit dem assyrischen Wort kumrum bezeichnet werden; für Priesterinnen ist der Titel gubabtum bezeugt.70 Wenn man an die Vielfalt von unterschiedlichen Bezeichnungen für »Priester« in der hethitischen Überlieferung denkt, darf man vermuten, dass mit dem assyrischen Begriff kumrum unterschiedliche Priester bezeichnet werden können, die verschiedene Aufgaben im Kult ausgeübt haben. Diese Aufgabenverteilung lässt sich auch davon indirekt ableiten, dass einzelne Priester einer bestimmten Gottheit zugeordnet werden können, wobei namentlich wenigstens 30 Personen und 16 Gottheiten genannt sind.71 Für die Rekonstruktion der religiösen Verhältnisse ist dabei methodisch erwähnenswert, dass sowohl Assyrer als auch Anatolier diese Titel tragen und neben den anatolischen Gottheiten auch die assyrischen Gottheiten Aššur bzw. Ištar von diesen Priester(inne)n versorgt wurden. Aus rechtlichen Kontexten erfahren wir z. B. von Ḫaršunuman, einem Priester der Sonnengottheit, der einem Assyrer elf Minen Silber schuldet, und in einem anderen Rechtsfall ist unter den Zeugen ein Priester der Gottheit Ḫigiša erwähnt. Weitere Priester – meist mit anatolischen Namen – sind für die Stadtgöttin Annā, für den Wettergott, für Kubabat, für Nipas und für eine Flussgottheit belegt.
Über konkrete kultische Handlungen lassen sich aus den Texten keine detaillierten Rückschlüsse gewinnen. Ein »heiliger« Bezirk (innerhalb eines Tempelareals) könnte mit dem Wort ḫamrum bezeichnet sein, wo auch Rechtsentscheidungen getroffen wurden.72 G. Kryszat interpretiert auch das Wort sikkātum als einen Begriff, der sich auf eine religiöse Versammlung bzw. (kultische) Prozession bezieht, wobei diese Deutung jedoch nicht unwidersprochen blieb, indem sikkātum als (profaner) Versammlungsort für Karawanen und Händler gedeutet wird.73 Solche gegensätzlichen Ergebnisse der Analyse der altassyrischen Quellen zeigen dabei auch die Grenzen, an die man in vielen Fragen der religiösen Vorstellungen und Einrichtungen der Zeit der altassyrischen Handelsniederlassungen in Zentralanatolien stößt.
Genauso kann man hinsichtlich des »Festkalenders« die eingeschränkten Kenntnisse hinsichtlich der religionsgeschichtlichen Situation nochmals illustrieren. Mehrfach nennen die Briefe und rechtlichen Vereinbarungen Festtermine, bis zu denen eine fällige Schuld beglichen werden muss:74 Dadurch wissen wir, dass es Feste für Annā, Nipas, Parka, für die Sonnengottheit, für Ḫariḫari oder für Ilali gegeben hat, ohne dass wir jedoch über die Festinhalte oder den Anlass des Festes Bescheid wüssten. Da manche dieser »Zahlungstermine« auch den Zeitpunkt der Ernte nennen, darf man vermuten, dass zumindest ein Teil der genannten Feste mit dem Agrarzyklus zusammenhängen könnte. Auch über den Festablauf lässt sich aus den zur Verfügung stehenden Quellen keine Information gewinnen; allerdings erlauben die unterschiedlichen Formulierungen des Zahlungstermins mit den Präpositionen ina (»während«) bzw. ana (»bis zu«) einen Rückschluss darauf, dass manche Feste, »während« denen die Bezahlung getätigt werden musste, sich anscheinend über mehrere Tage erstreckten. Dies gilt offensichtlich für die drei Hauptfeste in Kaneš, die für Annā, Nipas und Parka ausgerichtet worden sind, an denen auch der Herrscher der Stadt – als Ausdruck »öffentlicher« Religion – teilgenommen hat.75
3.3.2 Religion im häuslich-familiären Kontext
Einige Kleinfunde sind Zeugnisse einer Religionsausübung im Rahmen eines »Hauskultes« oder der Familienreligion. Das zeigt sich deutlich bei den vorhin erwähnten Abgüssen bzw. Gussformen von Götterfigurinen, die in Wohnhäusern gefunden wurden. Die flache Rückseite dieser Figuren dürfte dabei darauf hinweisen, dass man sie an einer Wand aufhängen konnte.76 Möglicherweise stellen manche dieser Götter Schutzgottheiten der Familie oder privater Personen dar.77 Diese Interpretation stützt die Aussage eines 2001 gefundenen Textes, in dem davon die Rede ist, dass eine Priesterin eine goldene Götterfigur besitzt, die ihr von ihrem Vater gegeben wurde.78
Mit der Verehrung dieser Götter im Haus kann man auch die verschiedenen Libationsgefäße verbinden, die in relativ großer Zahl in Häusern der Unterstadt gefunden wurden. Dabei handelt es sich um zoomorphe Gefäße, die die Form verschiedener Haus- und Wildtiere ([Wild-]Schwein, Stier, Widder, Hase, Löwe, Ziege, Antilope) sowie von Vögeln (Adler, Rebhuhn) haben. T. Özgüç unterscheidet dabei drei Gruppen solcher Gefäße, nämlich stehende Tiere, liegende Tiere bzw. Gefäße, die nur den Kopf des Tieres wiedergeben.79 Möglicherweise sind solche tiergestaltigen Gefäße zur Libation von Trankopfern verwendet worden, wohingegen Texte der hethitischen Zeit solche Rhyta als Trinkgefäße nennen – anscheinend als Folge einer Veränderung ritueller Verwendung. Hervorzuheben ist dabei, dass es dafür keine Parallelen in Mesopotamien oder Syrien gibt, so dass man diese Rhyta im kultischen Kontext als eine genuin anatolische Erscheinung bewerten muss, die sich von der kārum-Zeit bis ins hethitische Großreich nachweisen lässt.80 Andere Tierfiguren – wiederum Antilope, Adler, Löwe, Stier(kopf) – schmücken auch den Rand von Schüsseln und Kannen. Da solche Gefäße meist sehr sorgfältig ausgearbeitet sind, darf vermutet werden, dass sie – zumindest teilweise – im kultischen Kontext verwendet wurden und nicht als Alltagskeramik zu bewerten sind. Die Qualität