Holger Sonnabend

Fremde und Fremdsein in der Antike


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Kynokephaloi, Menschen, die mal in Indien, mal in Afrika angesiedelt wurden, einen Hundekopf hatten und wie die Enotokoiten passenderweise ihre physiognomische Erscheinung auch gleich als Volksnamen trugen. Die Garamanten und Troglodyten indes sind real – ein Beweis dafür, wie unbefangen selbst ein versierter Historiker wie Herodot wirkliche und fiktive Völker miteinander kombinierte. Das Ferne in diesem Sinne ist häufig mehr Fantasie als Realität. Manchmal geht die Realität in Fantasie oder die Fantasie in Realität über. Wenn die Fantasie auf die Realität trifft, können sich bemerkenswerte Konstellationen ergeben.

      Ein fester Begriff im griechischen Repertoire exotischer Völker waren die Aithiopes. Die Vokabel aithiops bedeutet im Griechischen »dunkel, schwarz, verbrannt«. Als »Äthiopier« bezeichneten sie alle Menschen mit dunkler Hautfarbe – auch diejenigen im heutigen Libyen, die Herodot als Troglodyten identifiziert und denen er so schmeichelhafte Komplimente zu ihren stimmlichen Qualitäten machte. Wer in der Antike einer Homer-Lesung beiwohnte (immer die erste literarische Referenz, wenn es um frühe Zustände und Entwicklungen bei den Griechen geht), musste nicht lange warten, bis die Äthiopier erwähnt wurden. Sie tauchen gleich im ersten Buch der Ilias auf (1,423–425). Dort sind sie die Gastgeber der olympischen Götter:

      »Zeus ging gestern zum Mahl der unsträflichen Äthiopen

      An des Okeanos Flut, und die Himmlischen folgten ihm alle.

      Aber am zwölften Tag dann kehrt er heim zum Olympos.«

      Nicht jedem Volk der Antike widerfuhr die Ehre, von der Götterfamilie zum freundlichen Gastmahl aufgesucht zu werden. So werden die »unsträflichen« (man kann auch sagen »untadeligen«) Äthiopier in das erste Werk der europäischen Literaturgeschichte mit einer deutlich positiven Note eingeführt. Im Nachfolgewerk, der Odyssee, tauchen die Äthiopier noch früher auf, gleich im 22. Vers des ersten Buches. Bei ihnen hält sich der Odysseus zürnende Gott Poseidon auf, schon wieder speisend, während der Rest der Götterfamilie auf dem Olymp über das Schicksal des irrfahrenden Trojahelden beratschlägt. »Die äußersten Menschen« werden die Äthiopier hier genannt, ganz am Rande der bewohnten Welt lebend. Das ferne Dasein garantiert ihnen die Sympathien der Griechen und stilisiert sie zu einem idealisierten Naturvolk, bei dem die Götter gerne zum Essen vorbeischauen. In direkter Nachbarschaft zu den Griechen hätten sie es schwerer gehabt.

      Bemerkenswerterweise spricht Homer an keiner Stelle von der dunklen Hautfarbe der Äthiopier. Homer schrieb seine Epen am Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. Dunkelhäutige Menschen hatten die Griechen aber schon lange vorher kennengelernt, in der mykenischen Zeit, als sie im ostmediterranen Raum ein enges Netz an Handelskontakten knüpften. Und vor ihnen waren es die Minoer auf Kreta gewesen, die über Ägypten Beziehungen zu Afrika pflegten. Dabei gab es genug Gelegenheiten und auch Möglichkeiten, Menschen mit dunkler Hautfarbe zu begegnen. Die frühen Griechen prägten aufgrund dieser Beziehungen, lange vor Homer, den Namen Äthiopier und meinten damit dunkelhäutige Menschen. Bei Homer haben sie ihre Farbe verloren – eine Folge des Umstandes, dass in den Jahrhunderten zuvor, nach dem Zusammenbruch der Mykenischen Kultur, keine nennenswerten Kontakte zu Ägypten und damit zu anderen Völkern Afrikas bestanden. Die Fremden sind weder weiß noch schwarz, sondern einfach nur noch die Äthiopier am Rande der Welt, bei denen gelegentlich die Götter zu Gast sind. Und dann eine weitere Wende: Schon in der Zeit Homers, der noch alte Konventionen verwaltet, aber verstärkt danach gehen die Griechen im Zuge der Großen Kolonisation wieder in die weite Welt hinaus, begegnen auch wieder den »richtigen« und nicht mehr nur den »mythischen« Äthiopiern – und schon erhalten sie ihre Farbe wieder, wie Texte, aber auch Vasenbilder mit der Darstellung von schwarzen Menschen zeigen. Bilder von Fremden können sich, so lehrt dieses Beispiel, ändern – je nach Situation und Intensität der Kontakte.

       imageFremde Frauen im Mythos

       Medea – Die Fremde aus dem Kaukasus

      Um sich an ihrem Mann zu rächen, tötet sie ihre Kinder. So lautet, kurz zusammengefasst, der Kern der Geschichte der Medea. Einer der populärsten Stoffe der Antike, mit einer bis in die Gegenwart reichenden Rezeption in der Literatur, der Kunst, auf den Theaterbühnen. Medea ist ein Mythos. Die antiken Griechen arbeiteten gerne mit Mythen. Sie dienten ihnen dazu, allgemein menschliche Probleme, Situationen, Konstellationen dramatisch und fantasievoll zu beleuchten. Und sie sollten Erklärungen und Begründungen für Verhältnisse und Ereignisse liefern, an die man nur noch eine vage Erinnerung hatte und die man gerne konkreter mit Inhalt füllen wollte.

      Medea gehört in den Kontext der Geschichte der Argonauten, die nach dem Schiff benannt sind, mit dem sie sich auf die Suche nach dem Goldenen Vlies, dem goldenen Fell eines Widders mit Zauberpotenzial, machten. Das Ziel der Expedition lag in der Landschaft Kolchis am Kaukasus, im frühen geografischen Weltbild der Griechen am Rande der Welt, weit weg von aller Zivilisation. Anführer der Schatzsucher war Jason, ein Königssohn aus Iolkos in Thessalien. Den historischen Hintergrund dieses Mythos bildete die seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. erfolgte Kolonisation des Schwarzmeergebietes durch die Griechen.

      Das Unternehmen Goldenes Vlies gestaltet sich kompliziert, ist aber letztlich erfolgreich, weil Jason eine höchst aktive Helferin gewinnt – jene Medea eben, die Tochter des Königs Aietes von Kolchis. Die Frau aus dem Kaukasus verliebt sich in den Griechen, sie heiraten, bekommen zwei Söhne und ziehen schließlich, nach einigen Irrungen und Wirrungen, nach Korinth. Dort regiert ein König namens Kreon, der die Begeisterung für die Fremde vom Ende der Welt nicht teilt. Er bietet Jason seine eigene Tochter als Ehefrau an. Jason geht, mit Blick auf die mit der geplanten Heirat verbundenen beruflichen Perspektiven, auf diesen Handel ein. Er verstößt Medea, reklamiert aber die Kinder für sich. Medeas Rache ist furchtbar: In der Fremde isoliert und als Fremde stigmatisiert, vom Ehemann schmählich verlassen, ermordet sie die eigenen Kinder. Jason wird König von Korinth, wird aber nicht mehr glücklich und nimmt sich aus Verzweiflung das Leben. Medea macht indes Karriere in Athen, wo sie den König Aigeus heiratet und zur Stiefmutter des Helden Theseus avanciert.

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      Medea vor dem Kindermord, Wandmalerei aus Herculaneum, 1. Jh. n. Chr., nach einem griechischen Original, Archäologisches Nationalmuseum Neapel

      Wie jeder antike Mythos, so ist auch der Medea-Mythos vielschichtig, aus verschiedenen Quellen gespeist und in unterschiedlichen Versionen überliefert. Am bekanntesten ist die Tragödie des athenischen Dichters Euripides, die 431 v. Chr. erstmals aufgeführt wurde. Der Tragiker porträtiert Medea gemäß ihrer Herkunft als wild und unzivilisiert, mit magischen Kräften versehen. Jedoch zeigt er, was den tragischen Konflikt zwischen Medea und Jason angeht, mehr Sympathie für die Frau aus der Fremde als für den abtrünnigen griechischen Ehemann. Zwar lässt er ihn in einem ehelichen Streit mit der überlegenen Zivilisation der Griechen argumentieren, wodurch Medea als Fremde, sogar als Barbarin erscheint. Doch angesichts der Situation wirken diese Worte nicht sehr überzeugend, eher überheblich. Das athenische Theaterpublikum war auf der Seite der Medea.

       Andromeda – Die Fremde aus Äthiopien

      Nicht jede Frau aus der Antike bringt es zu einem eigenen Sternbild. Andromeda hat es geschafft. So erstrahlt sie am nächtlichen Himmel in dauerhaftem Glanz. Die mythische Namensgeberin war eine aus Äthiopien stammende Afrikanerin. Die Geschichte, die die Griechen mit Andromeda verbanden, steht auf der Liste der fantasievollsten Mythen ganz weit oben. Wie Medea war sie eine Frau aus den höchsten Kreisen. Ihr Vater Kepheus war der König der Äthiopier. Den Stein ins Rollen brachte die Königin, Andromedas Mutter Kassiopeia, die wie die Tochter heute den Sternenhimmel ziert. Indem sie behauptete, schöner zu sein als die Nereiden, die bezaubernden Töchter des Meeresgottes Nereus, reizte sie den obersten Meeres- und Erdbebengott Poseidon. Zur Strafe schickt er den Äthiopiern Hochwasser und ein außerordentlich störendes Seeungeheuer. Auf Weisung eines Orakels lässt der König seine Tochter an einen Felsen binden, in der Hoffnung, mit diesem Opfer den zürnenden Gott zu besänftigen. Zum Glück