Andrea Volkelt

Da ist mehr, noch so viel mehr ...


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ein Pokerface auflegen, damit du frei heraus weiterredest. Was wäre gewesen, hättest du gewusst, dass es meine Geschichte ist? Hättest du alles so ehrlich gesagt?«

      Wieder eine kleine Pause, in der keiner von uns beiden etwas sagte. Irgendwie musste das erst einmal verdaut werden. Mich fröstelte.

      »Kannst du dir denken, woher so ein Talent kommt?«

      Gedanken jagten durch meinen Kopf. Mein Magen rebellierte. Wieder schwiegen wir ein paar Minuten. Alles um mich schien sich zu drehen. Dann erzählte ich Renate von dem Urlaub in meiner Kindheit und der Faszination, die die alte Frau und ihre Karten auf mich ausgeübt hatten. Es war ein Spiel für mich gewesen, aber jetzt fragte ich mich, ob das alles schon damals eine Bedeutung gehabt haben könnte. »Dass meine Eltern das damals erlaubt haben.« Und warum eigentlich hatte diese Frau ausgerechnet mich ausgewählt?

      Am darauffolgenden Wochenende fuhr ich nach Rosenheim, um in einer Buchhandlung nach Büchern zu diesem Thema zu suchen.

      Die Verkäuferin kam auf mich zu.

      »Wie kann ich Ihnen helfen?«

      »Ich suche Bücher über das Kartenlegen.«

      »Dann kommen Sie mal mit.«

      Ich folgte ihr in die Abteilung mit Büchern der Spiritualität und Esoterik. Scheinbar gefiel ihr mein Interesse. Sie zog verschiedene Bücher heraus und legte mir fünf in die Arme.

      »Die kann ich alle wärmstens empfehlen für den Anfang.«

      Mit dieser Auswahl zog ich mich in eine Sitzecke zurück. Am Ende entschied ich mich für zwei Bücher.

      »Gute Wahl, liebes Fräulein«, sagte sie, »sei dir sicher, wir sehen uns nicht zum letzten Mal!«

      Diese Aussage verunsicherte mich. Kann sie etwas sehen, was ich noch nicht weiß?, dachte ich. Jung und neu auf dem Gebiet, wollte ich nicht mein Inneres zu erkennen geben. Ich bedankte mich und ging.

      Unweit der Buchhandlung war ein kleiner Stadtpark, hierhin zog ich mich zurück und blätterte durch die Seiten des ersten Buches. Da wusste ich, es würde nicht lange dauern und ich hätte die Bücher verschlungen.

      Das gute Zureden von Renate sorgte dafür, dass ich weiter übte. Ich weiß heute nicht mehr genau, wie es kam, aber in meiner Clique blieb meine »Arbeit« mit den Karten nicht unbemerkt. Gut, es waren zwei Personen, die es mitbekamen und zu denen ich ohnehin ein besonderes Vertrauensverhältnis genoss. Diese beiden, Tanja und Peter, waren ein Paar, sind heute verheiratet und gehören zu unseren besten Freunden. Es dauerte nicht lange, da gaben sie mir zu verstehen, sie wüssten, dass diese Dinge funktionierten. Wie genau, das war uns allen nicht bewusst. Tanja erklärte: »Mein Schwiegervater holt sich öfter Rat bei jemandem, der aus dem Kaffeesatz lesen kann.«

      Sie fragte, ob ich bereit wäre, ihm die Karten zu legen.

      Gesagt getan. Ich sprach alles frei heraus. Teilweise etwas vorsichtiger, aber mit dem Zusatz: »Kannst du damit etwas anfangen oder soll ich es mir nochmal ansehen?«

      Meine Überraschung war riesig, als ich zu hören bekam: »Nein, das ist alles klar für mich und genau das hat die Dame mit dem Kaffeesatz auch gesagt!«

      Ich war stolz und ziemlich erleichtert, mit meinen Aussagen nicht gänzlich daneben zu liegen. So wurde ich mutiger. Zugleich war das der Beginn für regelmäßige Treffen mit Peters Vater. Für ein paar enge Freunde praktizierte ich die Art von Beratung ebenfalls. Immer öfter sagten sie mir, ich hätte sie bei Herausforderungen unterstützt. Genau dann aber, wenn mir die Freunde ans Herz gewachsen waren, fiel es mir schwerer, denn ich fühlte stark mit. Das belastete mich und es missfiel Sigi, weil er sich Sorgen um mich machte. Ich sah mich allerdings schon ein wenig verpflichtet, wenn ich um Hilfe gebeten wurde, und so führte ich das Kartenlegen ab und an weiter. Je nach Bedarf. Dabei übte ich, stabiler zu bleiben und mir weniger Sorgen zu machen. Es gelang immer besser. Sigi half mir dabei, mich abzulenken. Über die Kartendeutung sprachen wir nie, das blieb immer zwischen meinem Fragesteller und mir. Das wusste Sigi. Aber er fand immer eine Gelegenheit, mich zum Lachen zu bringen, damit ich von meinem Grübeln absah.

      Obwohl Sigi kaum Camping-Erfahrung hatte, schlug er vor, den Campingbus meines Bruders auszuleihen und damit auf Elba zu fahren. Immer wieder hatte ich ihm von der Insel vorgeschwärmt.

      Ich war hellauf begeistert. Natürlich war alles etwas stressig, ich musste planen, einkaufen, organisieren, die Fähre buchen und damals auch noch Deutsche Mark in Lire tauschen. Umso schöner war es, endlich zu starten. Wir fuhren kurz nach Mitternacht los, damit wir in aller Früh am Hafen in Piombino sein konnten. Von dort schifften wir zur Insel rüber. An Deck genossen wir es, einfach nur dazustehen und uns den Wind um die Nase wehen zu lassen. Auf der Insel fanden wir schnell einen Campingplatz, auf dem wir unser kleines Lager errichteten. An einem Abend steuerten wir zu Fuß auf eine Bucht zu, bepackt mit einem typisch italienischen Picknick: Tomaten, kalte Vorspeise, Brötchen und Rotwein. Wir fanden ein schönes, gemütliches Plätzchen oberhalb der Bucht, auf einem Felsen, der sich mit seiner breiten und flachen Oberfläche hervorragend eignete. Von dort aus hatten wir einen wunderbaren Blick auf das Meer und gleichzeitig auf die unter uns liegende Bucht. Also breiteten wir unsere Decke aus und bestückten diese mit den mitgebrachten Sachen für unser Picknick. Das Meer unter uns leuchtete noch azurblau, die Sonne stand schon tief und wollte langsam im Wasser versinken. Nach ein paar Bissen und einem guten Glas Rotwein wurde Sigi mit einem Mal ernst und ich bemerkte, dass er etwas auf dem Herzen hatte.

      Sofort spannten sich meine Muskeln an. »Was ist denn?«, fragte ich besorgt.

      Er räusperte sich und meinte: »Warte kurz, ich muss nachdenken, wie ich anfange.«

      Oh mein Gott, war das der richtige Zeitpunkt für schlechte Nachrichten? Ich hatte keine Ahnung und konnte mir keinen Reim darauf machen. Er fasste in seine Hosentasche, nahm etwas heraus, was sofort in seiner Hand verschwand.

      »Komm, trinken wir noch einen Schluck.«

      Ich nahm einen großen Schluck und sah ihm fortwährend in die Augen. Da war ein besonderer Glanz.

      »Nachdem wir nun doch schon eine gewisse Zeit lang miteinander wohnen und uns lieben, würde ich dich gerne heiraten. Möchtest du meine Frau werden, liebe Andrea?«

      Mein Herz hüpfte, ich schluckte, sprang auf, umarmte ihn und fing an zu weinen. Ich brachte gerade noch ein leises »Ja, sehr gerne« heraus.

      Nach ein paar Minuten in seinen Armen drückte er mich sanft weg und hielt mir seine Faust entgegen, die er langsam öffnete. Eine kleine Schatulle. Ich öffnete sie und darin lagen zwei Ringe. Er steckte mir den Kleineren an den Finger. Er passte!

      In diesem Moment jubelte es um uns herum. Über die ganze Bucht hinaus erklangen Freudenschreie. Das war fast ein bisschen unheimlich. Für uns klang es, als wäre es unser Applaus. Wir freuten uns darüber. Aber was parallel geschah: Es war Fußballweltmeisterschaft und just in diesem Moment war ein Tor für Italien gefallen. Die überaus fußballbegeisterten Italiener jubelten nicht schlecht. Wir saßen auf dem Felsen und lauschten, sahen hinunter zu den Strandbars. Aus sämtlichen Kneipen schallte es und die lauten Klänge rollten das Felsgestein herauf wie in einem Stadion. Sensationell. Die Freude der Italiener traf sich mit unserem Glück. Dieser Moment war für die Ewigkeit.

      Schließlich fragte ich Sigi: »Wie hast du das geschafft? Die Ringe passen, der Zeitpunkt ist perfekt und dann noch diese Aussicht?«

      Sigi verriet mir, dass er es lange geplant hatte, mich in diesem Urlaub zu fragen. Deshalb auch die Insel Elba, weil ich die so gerne mochte. Zu Hause noch hatte er beobachtet, welche Ringe ich an welchem Finger trug, stibitzte sich eines Tages einen und fuhr in die Stadt, um Verlobungsringe zu kaufen. Rechtzeitig vor unserem Urlaub waren sie fertig. Sigi holte sie ab und verstaute sie heimlich in seinem Gepäck. Ich hatte absolut nichts gemerkt und keine Ahnung von seinem Vorhaben gehabt. Es war so rührend, ich zerschmolz richtig in dieser liebevollen Geste. Ich lehnte an seiner rechten Schulter und zusammen genossen wir den Ausblick, wie sich gerade die Sonne verabschiedete, die letzten Sonnenstrahlen über die Oberfläche des Meeres streiften und den Himmel rot leuchten ließen. Ohne weitere Worte