Griff und stand schwankend auf. »Dein Vermächtnis, Mädel, dein Erbe, alles im Safe wartet auf dich.« Einen Moment lang stand er scheinbar unentschlossen da, und sein Blick wanderte von ihrem Gesicht zur Zimmerecke. Dann kniete er nieder und nestelte an den Schlüsseln herum, die er stets am Körper trug.
»Bring mal die Lampe her.«
Sie trug die Öllampe hinüber und hielt sie hoch, während er drei Schlüssel auswählte. Der erste, ein langer Eisenschlüssel, öffnete eine in die Wandtäfelung eingelassene Tür; mit dem zweiten, einem Hahnschlüssel, ließ sich eine gusseiserne Tür zur Seite schieben; dann der eigentliche Safeschlüssel, ein eleganter, doppelseitiger Messingschlüssel. Die geölte Zunge klickte im Schloss, und als er am Griff drehte und die Tür aufschwang, vermittelte sich der Eindruck von Schwere. Das Erste, was sie sah, war eine dreieckige Biberkappe, ähnlich derjenigen auf dem Porträt seines Großvaters, eines ungeschlacht wirkenden Mannes, der in einer Hand ein Pergament hielt, in der anderen die Biberkappe. Vom eisigen linken Auge zog sich eine Narbe bis hin zur geraden Linie der Oberlippe; laut Billy stammte sie von einem indianischen Kriegsbeil. Mit einem schnaufenden Gackern setzte Billy sich die Kappe auf den Kopf und glotzte zu ihr hoch: ein neuzeitliches Ebenbild des Porträts, verschmolzen mit dem wissenden, grinsenden Gesicht eines Trinkers.
Sie sah Pergamentrollen, Bündel verblichener Briefumschläge in offenen Regalfächern, Schatullen aus Sandelholz und Kästchen aus Perlmutt, ein schwarzes Logbuch und ein großes unteres Schubfach, das genauso breit war wie der Safe selbst. Dem Safe entnahm er einen separaten Schlüssel, mit dem er das Schubfach aufschloss. Während er es mit der linken Hand herauszog, tauchte seine Rechte in einen glitzernden Haufen Goldmünzen. Er nahm eine Handvoll davon, zog die Biberkappe ab und hielt beides ins Lampenlicht, ihr entgegen.
»Das hat diesen Ort vor hundert Jahren aufpoliert … französisches Gold, die Biberausbeute von drei Millionen Quadratmeilen.«
Er nickte zu dem Porträt hinauf: »Sein Wahlspruch: ›Wach sein und zugreifen.‹«
Er keuchte ein heiseres Lachen hervor und wiederholte: »›Wach sein und zugreifen.‹« Dann senkte er die Stimme zu einem lauten Flüstern ab und sagte: »Und genau das hat er getan… Schau!«
Wieder hielt er ihr die Münzen vors Gesicht. Erschrocken wich sie zurück, obgleich sie mit der Mythologie des Gründergroßvaters seit Langem vertraut war: wie er 1770 in London bei der Company of Adventurers angeheuert hatte und nach Kanada und in die Hudson Bay gesegelt war. Sie hatte von der drei Millionen Quadratmeilen großen weißen Vorhölle erzählen hören, wo Pelzhändler ein Vermögen machten und wieder verloren und sich Whiskey und Squaws hingaben. Sie wusste von der Grausamkeit des Lebens und des Sterbens dort drüben, wusste, dass in jenem ersten Winter acht von ihnen während einer Fahrt flussaufwärts ins eisige Wasser gestürzt waren, als ihr Kanu an Felsen zerschmetterte. Da sämtliche Vorräte verloren gegangen waren, hatten sie sich eingegraben, um auszuharren, bis ihr Scout vom Stamm der Cree mit Lebensmitteln, Kleidung und Hilfe zurückkehrte. In einer Kälte, die so erbarmungslos war, dass selbst Quecksilber gefroren wäre, war im Verlauf der nächsten beiden Tage ein Weggefährte nach dem anderen gestorben. Nachdem er Wölfe und Polarfüchse abgewehrt hatte, die sowohl die Toten wie die Sterbenden angriffen, war er schließlich allein gewesen, hatte bittere Tränen vergossen und – wie er glaubte, für immer – die Augen geschlossen, nur um sie in einem verräucherten Tipi unter einer wärmenden Biberdecke wieder zu öffnen.
Und wie sich in den darauf folgenden Jahren, als England und Frankreich nahezu ununterbrochen miteinander im Krieg lagen, eine günstige Gelegenheit ergeben hatte. Seit dem Morgengrauen hatten sich eine französische Fregatte und ein englisches Kriegsschiff in der Hudson Bay gegenseitig mit Kanonenfeuer beschossen. Zum Mittag hin waren die Flanken beider Schiffe derart zerschmettert, dass die Besatzungen der unteren Decks einander wie in einem offenen Puppenhaus sehen konnten: auf beiden Seiten Geistliche und Wundärzte, die in Chorhemden und blutbefleckten Schürzen ihrer Pflicht nachgingen. Später am Abend lavierte der französische Kapitän sein Schiff mit abgedrehten Kanonen heran und forderte den englischen Kapitän zur Kapitulation auf. Dieser weigerte sich und forderte seinerseits den Franzosen zur Kapitulation auf. Daraufhin ließ der Franzose Brandy kommen, um auf die Tapferkeit des Engländers anzustoßen, während dieser Whisky kommen ließ, um auf die Tapferkeit des Franzosen anzustoßen, und danach wurde das Gefecht fortgesetzt. Gemeinsam mit drei Kameraden hatte Billys Großvater dies von den Stufen eines Handelspostens aus beobachtet und gesagt: »Genug zugeschaut: Zeit, zuzugreifen.« In dieser Nacht beluden sie eine Schaluppe mit fünfzehntausend Biberpelzen und segelten nach Nordfrankreich, wo sie sie für fünf Kisten Gold verkauften; eine für jedes Besatzungsmitglied und zwei für Kapitän Winters.
Plötzlich, als würde er sich seiner Handlungen und Worte eben erst bewusst, legte Billy das Gold und die Biberkappe wieder zurück, verschloss den Safe, entfernte sich aus der Ecke und sagte fast nüchtern: »Wenn du umsichtig bist, Mädel, wenn du dir Zeit lässt und das Deinige tust…«, mit dem Daumen deutete er in die Ecke mit dem Safe, »könnte all das dir gehören – das und was ich hinzugefügt habe.«
Am folgenden Morgen tat er so, als habe er alles vergessen. Sollte sie ihn doch beerben? Und was hieß ›umsichtig sein‹? Sich fügen, während er einen Schritt zu weit ging! Und was hieß ›das Deinige tun‹? Betten machen, Hemden waschen, Eier kochen, Ställe ausmisten, melken und buttern, mit Mercy Boyle als Hilfe? Wahrscheinlich würde er neunzig werden und sich womöglich sogar wiederverheiraten, wenn sie aus dem gebärfähigen Alter längst heraus wäre.
Als sie Tee nachgoss, hörte sie Billy sagen:
»Das neue Gewächshaus deines Gemeindepfarrers ist eingeschmissen worden.«
»Mercy hat mir davon erzählt.«
»War sie da? Am Wegkreuz? Trinkgelage und Teufelstänze?«
Beth hörte, wie sich ihr eigenes Lachen mit Billys Glucksen vermengte, und sagte:
»Es ist aber auch eine Schande, wo sollen sie sich denn sonst treffen?«
»Er hat sie mit seiner Reitgerte verjagt. Hat Mercy das erwähnt?«
Er versuchte von ihrem Gesicht eine Reaktion abzulesen; vergebens. Das gequälte Gesicht einer Schlaflosen mit dunklen Ringen unter den Augen, das rotbraune Haar zu Gretelzöpfen geflochten, der volle Mund dem von Cathy so ähnlich, dass es ihm das Herz zerriss. Während des gesamten Frühstücks gab sie sich unnahbar, beinahe abwesend, dabei war sie schon draußen auf den Feldern und unten im Hof gewesen und hatte geholfen, das Frühstück vorzubereiten.
»Du bist sicher müde, Beth.«
»Nicht besonders, Sir.«
»Du hast also gut geschlafen.«
»Bis mich das Tier aufgeweckt hat.«
»Du hättest mich wecken sollen.« Billy bemerkte, dass ihr Mund Worte formte, ihr Geist jedoch mit etwas anderem beschäftigt war. Womit nur?
»Leo sagt, er kennt den Schurken.«
»Ja?«
»Unser unmittelbarer Nachbar und Pächter … Liam Ward. Er hält ihn für böse.«
»Böse, Sir?«
»Das ist das Wort, das er gebraucht hat.«
»Wie kommt er dazu?«
»Das weigert er sich zu sagen … Beichtgeschichten eben.«
»Ich bezweifle, dass Ward zur Beichte geht, ich habe ihn noch nie in der Kirche gesehen.«
»Vielleicht beichten ja seine Damen, falls man seine Gefährtinnen ›Damen‹ nennen kann.«
»Wäre er deswegen böse, Sir?«
»Seine genauen Worte waren: ›Er ist ein übler Geselle … das personifizierte Böse, oder doch nahe dran.‹«
Beth dachte darüber nach, dann sagte sie:
»Ich denke, das sind die meisten Menschen, mehr oder minder … auf die eine oder andere Art.«
Worauf spielte sie an? Billy