hatte wohl keine Lust, sich zu unterhalten«, meinte Vanessa, als sie sich setzten.
»Ist er immer so gut drauf?«
Vanessa schüttelte den Kopf. »Nicht immer. Manchmal hat er auch richtig schlechte Tage.«
Gute Nacht, wollte sie antworten, ließ es aber bleiben. Zu unsicher war sie, wie weit sie dem Humor des SSO trauen konnte.
»Wie auch immer, bringen wir’s hinter uns.«
Die meisten Fragen der Eintritts-Checkliste kannte Alex aus der Zeit der Interviews und Eignungstests in Crypto City. Ihr neuer Arbeitgeber war berüchtigt dafür, alles und jeden gründlich auszuspionieren. War ja auch der Hauptzweck dieser ganzen Stadt. Offenbar betrieb man das Sammeln von Information bei den eigenen Mitarbeitern besonders gründlich. Ihr machte das nichts aus. Sie war freiwillig hier und hatte nichts zu verbergen. Sie fand die Fragen nach engen und dauerhaften Beziehungen zu Nicht-US-Bürgern oder der Absicht des Angestellten oder eines Mitglieds seiner Familie, mit einer solchen Person zusammenzuziehen oder sie zu heiraten eher belustigend. Sie hatte ohnehin nicht vor, sich zu binden, obwohl das ihren geschiedenen Eltern nicht passte.
Eine Stunde später war auch dieser Fragebogen überstanden. Endlich betrat sie das Büro, in dem ihr neuer Arbeitsplatz auf sie wartete. Vanessa stellte sie kurz vor, dann verabschiedete sie sich mit der Bemerkung: »Die Arbeit ist in der Mailbox. Viel Spaß.«
Der junge Kollege gegenüber reckte den Hals und grinste sie freundlich über den Rand seines Bildschirms an. »Siehst gar nicht aus wie eine Chinesin«, lachte er mit seinem Kindergesicht. »Ich bin Minimax.«
Erst jetzt sah sie, dass der Kollege stand. Er maß kaum mehr als fünf Fuß. Ohne die kräftigen Arme hätte er gut als Teenager durchgehen können. Unwillkürlich grinste sie zurück und fragte: »Hat hier niemand einen richtigen Namen?«
»Im Gegenteil. Es ist eine Ehre, einen Spitznamen zu tragen. Man muss ihn sich hart erarbeiten.«
»Davon habe ich allerdings noch gar nichts bemerkt«, brummte sie.
»Warte, bis du die Mailbox öffnest.«
Neugierig loggte sie sich das erste Mal ein. Während das System ihre Arbeitsumgebung automatisch einrichtete, schweifte ihr Blick zu den andern Pulten. Etwa zwanzig Männer und Frauen, teils in Armee-Uniformen, arbeiteten an ihren Bildschirmen, ohne voneinander Notiz zu nehmen. Nicht anders als in der Redaktion, bloß ruhiger. Das System war bereit. Ein Klick öffnete den elektronischen Briefkasten.
»Du lieber Himmel«, rief sie laut aus. 263 ungelesene Meldungen!
»Was habe ich gesagt?«, grinste Minimax.
Während sie die erste Nachricht las, eine kurze Instruktion, was mit den andern Texten zu tun war, trafen laufend neue Meldungen ein. Genervt stellte sie den Alarm auf stumm. Ihre erste Aufgabe bestand darin, hunderte chinesischer Texte zu übersetzen und zu katalogisieren. Als Hilfe hatte man die Nachrichten bereits mit dem hausinternen Übersetzungsprogramm bearbeitet. Nach den ersten paar Wörtern schaltete sie diese Hilfe kopfschüttelnd aus. Sie wollte sich die Sisyphusarbeit nicht noch schwerer machen.
Das Kindergesicht erschien wieder. »Man muss ihn sich verdienen, wie ich sagte. Aber sieh’s mal positiv: du brauchst Bob wenigstens keinen Kaffee zu kochen. Er kann ihn nicht ausstehen.«
Bob besaß also keinen Spitznamen. Interessant
Kapitel 3
Bristol, UK, Vier Jahre später
Kaum betrat Ryan den Balkon im Obergeschoss des weißen Häuschens an der Dove Street, begann der Katzenjammer.
»Ich bin gleich unten, Mr. Meriwether, keine Sorge«, rief er zum plärrenden Kater hinunter. Er wusste nicht einmal, ob Mr. Meriwether eine Sie oder ein Er war, aber er hatte sich für Kater entschieden. Das Tier gehörte niemandem im Haus, auch keinem unmittelbaren Nachbarn. Es war ihm kurz nach seinem Einzug in Bristol zugelaufen und hatte ihn sofort ins Herz geschlossen. Jeden Morgen wartete Mr. Meriwether an der Haustür und begann erbärmlich zu jammern, sobald er ihn erblickte.
Ryan ging in die Küche, legte ein paar Garnelen auf einen Teller und goss etwas Milch in eine zweite Schüssel. Wie üblich stieg er mit der Mappe unter dem Arm und einem Teller in jeder Hand die Treppe hinunter. Der Tag ließ sich gut an, das fühlte er in seinen Adern. Überdies schaffte er die Strecke, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten. Er zog die Haustür mit dem Ellbogen auf, ein Kunststück, das er nach monatelanger Übung perfekt beherrschte. Mr. Meriwether drängte sich freudig schnurrend zwischen seine Beine, sobald er aus der Tür trat. Niemals hätte das eigenwillige Tier einen Fuß ins Haus gesetzt. Ryan stellte das Futter unter das Vordach. Er kraulte Mr. Meriwethers Pelz eine Weile, während er sich mit ihm über das zu erwartende Unwetter unterhielt. Der Kater war schwarz wie ein Kaminfeger. Sein Fell hatte viel vom jugendlichen Glanz verloren. Ryan wurde den Verdacht nicht los, Mr. Meriwether mache ihm nur schöne Augen, um seine karge Rente aufzubessern. Plötzlich ließ der Kater von ihm ab und wandte sich dem Futter zu. Seine Pflicht war getan. Mr. Meriwether erwartete nichts anderes. Nach dem Mahl würde er sich wie jeden Tag verdrücken und erst am nächsten Morgen wieder vor der Haustür jammern. Ein Tagesablauf, der sich gut mit seinem deckte. Auch er verließ morgens das Haus, um oft erst spät in der Nacht zurückzukehren.
»Soll ich Ihnen etwas vom Markt besorgen, Doktor?«, rief ihm die Hauswirtin nach, als er schon auf der Straße stand. Mrs. Harper konnte nicht verstehen, wie ein erwachsener junger Mann allein und ohne ausreichende Vorräte in dieser großen Wohnung leben konnte. Und sie wollte nicht begreifen, dass er noch kein Doktor war, trotz seiner Erklärungsversuche.
»Nein, vielen Dank. Ich esse im Institut.«
»Sie arbeiten zu viel und essen zu wenig«, war das Letzte, was er von der guten Frau hörte, bevor er um die Ecke verschwand. Mrs. Harpers Haus lag nahe bei der Universität. Eine bescheidene Bleibe, aber er konnte seinen Wagen auf dem Parkplatz am Straßenrand stehen lassen. In zehn Minuten war er zu Fuß am Arbeitsplatz, ein Luxus, den er bis zur letzten Minute auskosten wollte. Noch ein Jahr, dann sollte seine Dissertation abgeschlossen sein. Was dann, mit dem PhD in der Tasche, aus ihm werden sollte, wusste er beim besten Willen nicht. Fest stand einzig, dass er Jessie heiraten würde, und wenn er dafür nach Weymouth umziehen müsste. Ein schier unlösbares Problem, dachte er nicht zum ersten Mal. Mit seinen Qualifikationen als Finanzmathematiker gab es für ihn im ganzen Vereinigten Königreich nur einen vernünftigen Ort, wo er Karriere machen konnte: die Londoner City. Aber Jessie schlug immer tiefere Wurzeln im idyllischen Küstenstädtchen am Kanal. Er verdrängte den unangenehmen Konflikt und begann sich geistig auf die Besprechung mit seinem Doktorvater vorzubereiten, während er das Spalier der stramm stehenden Erker mit den weiß getünchten Fensterrahmen abschritt.
Irwyns Parkplatz vor dem braungrauen Backsteingebäude war leer. Ein untrügliches Zeichen, dass der Professor noch nicht da war. Irwyn Saunders – Irwyn, walisisch, nicht Irwin, englisch – bewegte sich außer Haus nur in seinem feuerroten MG SA aus dem Jahr 1938. Unkaputtbare, traditionelle britische Qualität, für die er die ganze Freizeit und sein halbes Vermögen einsetzte. Er stellte das Museumsstück ausschließlich auf seinem zugewiesenen Platz unmittelbar neben dem Eingang ab. Es war schon vorgekommen, dass er wieder nach Hause zurückfuhr, nur weil ein verblödeter Ignorant es gewagt hatte, seinen Platz zu besetzen.
Die asthmatische Hupe des MG stoppte Ryan, bevor er den Torbogen erreicht hatte. Irwyn begrüßte ihn mit einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, schüttelte seinen Pferdeschwanz und fragte:
»Etwas Brauchbares dabei?«
Ryan hatte sich an die kühnen Gedankensprünge des Professors gewöhnt, aber die Frage erwischte ihn kalt. »Dabei – wobei?«, stammelte er verblüfft.
Irwyn warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Ich verstehe ja, dass dich die Arbeit nicht antörnt. Geht mir auch so, deshalb überlasse ich sie dir. Aber die Übungen müssen nun mal korrigiert werden.«
»Ach du grüne Neune!«, rief Ryan aus. Er blieb stehen und spürte, wie