du, Lotte. Scheiße, wo stehen wir? Sprich mit mir!«
Er wusste, dass seine Händlerin nichts mehr hasste, als wenn er sie betont teutonisch ›Lotte‹ nannte. Sie war Engländerin und hieß eigentlich Charlotte. Böse grinsend hörte er sich die neusten Quotes zu seiner strategischen Position an. 468 – nicht schlecht, aber Ziel noch nicht erreicht. Er hatte die 1’200 Tonnen Neodym zu 200’000 Yuan pro Tonne gekauft und musste sie heute, am Ultimo, vor Handelsschluss am SMM wieder loswerden. Das Problem war nur, dass der Shanghai Metals Market in genau zwölf Minuten dicht machte. Er drückte aufs Gas, schoss vom Talacker auf den Paradeplatz, an der großen Schwester, der Credit Suisse, vorbei um die Ecke in die Talstraße. Wenige Sekunden später stand er vor der gepanzerten Einfahrt zur Tiefgarage. Trotz der erfreulichen Kursentwicklung war er stocksauer. Die Kundenbesprechung zum Frühstück hatte viel zu lange gedauert, und außerdem lag ihm das scheißnoble Lachsbrötchen tierisch auf dem Magen. Wütend steckte er die Chipkarte durch das offene Fenster in den Schlitz des Lesegeräts. Seine Finger trommelten im Stakkato auf das Lenkrad, während er mit zunehmender Ungeduld auf das grüne Licht zur Einfahrt wartete.
»470«, meldete die Stimme im Ohr.
Die Tendenz stimmte. 475’000 Yuan war sein Ziel. Und er wollte, verdammt noch mal, dabei sein, wenn es passierte. Bei 475 würden vierzig Kisten Dollar netto aus der Position herausspringen, immerhin mehr als der Einsatz beim Kauf vor zwei Monaten. Nicht ganz die fünfzig Millionen, die er im Budget hatte für das erste halbe Jahr, aber es war ja auch erst März.
Er fuhr in die Garage, hechtete zur Schleusentür, gab den Sicherheitscode ein und wartete noch einmal eine Ewigkeit, bis ihn das Stahlgitter der inneren Drehtür in die diskreten Eingeweide der kleinen aber feinen Privatbank ›Escher, Stadelmann & Compagnie‹ entließ.
›Zurich 08:57, Shanghai 14:57‹ zeigte die unübersehbare Weltzeituhr, als er den Handelsraum betrat. Er zog den Knopf des Telefons aus dem Ohr, riss Charlotte gleichzeitig den Hörer aus der Hand und brüllte:
»Walter, 16’200 Neodym TREM 99 verkaufen – jetzt! Loco Schanghai.«
»16’200 Tonnen Neodym verkauft zu 476’500 Yuan«, bestätigte die emotionslose Stimme seines Brokers in Zug nach wenigen Sekunden. Die Uhr zeigte 14:59 Schanghai-Zeit.
Roberts Blut kochte. Das Adrenalin rauschte wie ein Wasserfall durch seinen Körper, trieb ihm das Blut in den Kopf, dass er glaubte zu explodieren. Jedes Mal dasselbe, wie beim ersten Deal. Die Zahlen auf dem Bildschirm verschwammen für einen Augenblick, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Du könntest mir wenigstens gratulieren, Walter«, knurrte er ins Telefon.
»Fick dich.«
Er schmiss den Hörer lachend auf die Tischplatte. Walter war in Ordnung. Auf ihn war seit Jahren Verlass, aber einen irren Deal wie diesen gab es für sie beide bisher noch nicht. Er hatte eben im Auftrag seines Kunden zwölf Prozent der Weltproduktion von Neodym verkauft, mit einem horrenden Gewinn zurückverkauft. 15’000 Tonnen des Metalls, das er nie gesehen hatte, und das ihn auch in keiner Weise interessierte. Gleichzeitig war er seine giftige private Position von 1’200 Tonnen los. Die Kasse hörte gar nicht mehr auf zu klingeln. Bessere Tage gab es nicht.
Er nahm allmählich wieder wahr, was um ihn herum vorging. Charlotte und die übrigen sechs Kollegen hatten einen Halbkreis um sein Pult gebildet. Einer der Devisenhändler ergriff wortlos den kleinen Weihnachtsmann aus Plastik neben Roberts Tastatur, schaltete ihn mit theatralischer Geste ein und stellte ihn wieder auf sein Podest zurück. Der Wicht mit der abgegriffenen, schmutzig roten Zipfelmütze kreiste mit den Hüften wie ein Hula-Tänzer und krächzte dazu fröhlich: »Jingle bells, jingle bells…«
Robert räumte Telefon und Tastatur zur Seite, stieg auf die Tischplatte und begann, die sinnlichen Hüftschwünge des Männchens synchron zu imitieren. Die Zuschauer klatschten im Takt. Bald ließ sich Charlotte dazu hinreißen, mitzusingen, bis auch sie nicht mehr konnte und sich vor Lachen den Bauch hielt. Mit anzüglichem Grinsen machte er weiter, hörte nicht auf, bis auch der Letzte sich krümmte. Es war das Siegesritual im Handelsraum von ES&Co. Der Tanz des Triumphators, eingeführt vom damals blutjungen Chefhändler Robert Bauer, als er das erste Mal so richtig zugeschlagen hatte.
»War ganz schön knapp heute Morgen«, meinte Charlotte später beim Mittagessen im ›Zeughauskeller‹.
»Knapp? Wir hatten noch fast eine Minute.«
»Bist ja echt gut drauf.«
»So ist es, meine Liebe. So gut, dass ich mich die ganze Zeit frage, was ich mit dem freien Nachmittag anfangen soll.«
»Großartig«, platzte Renzo, der Devisenhändler heraus, der sich ausnahmsweise den Luxus eines Essens gönnte, das nicht aus Plastikbechern stammte. »Der Star verkrümelt sich, und wir armen Schweine dürfen den Kleinkram erledigen.«
»Wozu ist man Chef?«, grinste Robert. »Ich habe volles Vertrauen in die Kompetenz meiner Mitarbeiter.«
Die lauten Buhrufe erschreckten die indische Familie am Nebentisch, dass Eltern und Kinder ängstlich von ihrem frittierten Flussbarsch aufschauten. Renzo verzog seinen Mund zu einer säuerlichen Grimasse und klagte:
»Es gibt schon Spannenderes als Yuan in Dollar zu konvertieren.«
»Sei doch froh. So geht wenigstens deine Kursabsicherung nicht in die Hose«, gab Robert spitz zurück.
»Wundert mich schon, wie lange unsere chinesischen Freunde ihren fixen Wechselkurs noch halten können«, murmelte Charlotte, während sie lustlos in ihrem Kartoffelsalat stocherte.
Renzos Gesicht wurde ernst. »Der Zeitpunkt wird einzig und allein von Peking bestimmt«, sagte er überzeugt. »Die lassen sich von niemandem in die Suppe spucken. Recht haben sie.«
Robert nickte. »Von mir aus brauchen sie sich nicht zu beeilen. Der fixe Yuan erleichtert unsere Geschäfte mit China ganz erheblich.«
Eine Weile aßen sie schweigend, bis Charlotte den halbvollen Teller wegschob und gedankenverloren zu ihm sagte: »Schon seltsam, das Timing.«
»Was meinst du?«
»Die Katastrophe in der kalifornischen Mine kam genau zum richtigen Zeitpunkt, kurz nach unserem Kauf. Eigenartiger Zufall, oder?«
»Zufall oder nicht. Goldzahn hatte wieder mal den richtigen Riecher«, lachte der Devisenhändler, was ihm sofort einen strafenden Blick seines Chefs eintrug. Über Kunden sprach man nicht in der Öffentlichkeit, auch nicht mit Pseudonymen. Huan ›Goldzahn‹ Li war leitender Manager der finanzstarken Investmentfirma ›Galaxy Boom Industries‹ in Macao. Den Übernamen hatte er sich durch den leuchtend goldenen Eckzahn verdient, den er stolz zur Schau trug. Robert hatte den potenten Kunden von seinem unglücklichen Vorgänger bei ES&Co geerbt, dessen ›Enduro‹ man bis heute nicht aus den Tiefen des Urnersees geborgen hatte. Die Leiche wurde zwei Monate nach dem Unfall an Land getrieben. Jedenfalls war Goldzahn das Beste, was man einem Banker hinterlassen konnte. Der kleine grauhaarige Chinese – klein waren sie alle – richtete stets mit der ganz großen Kelle an. Die Deals, die er über seine diskrete Schweizer Bank abwickelte, führten seit Jahren regelmäßig zu fetten Provisionen. Und nicht zum ersten Mal heute Morgen hatte sich auch die private, strategische Position gelohnt, die er als Trittbrettfahrer nach dem Muster seines Kunden aufgebaut hatte. Leicht verdientes Geld im Grunde genommen. Das Risiko hielt sich dabei in Grenzen, denn Goldzahn lag bisher immer auf der richtigen Seite. Vielleicht lag es an seinem roten Löwen, der ihn auch auf seinen Reisen in die Schweiz begleitete. Einmal warf Robert einen zufälligen Blick ins Aktenköfferchen des Chinesen, und er hätte schwören können, dass sich nichts als das kleine Plüschtier darin befand.
»Was der kleine Scheißer wohl als Nächstes im Schilde führt?«, raunte er Charlotte ins Ohr beim Verlassen des Restaurants.
Sie lächelte spöttisch und gab ebenso leise zurück: »Kannst es wohl nicht erwarten bis er mit seiner zierlichen Mei wieder aufkreuzt.«
So ganz falsch war die scherzhafte Feststellung nicht. Zierlich und knallhart, dachte er und schaute verträumt der Rauchwolke seiner Zigarette