feucht und kühl, war ihm wieder ins Gedächtnis gekommen, als er nun, Jahre später, irgendwo in der Finsternis auf dem Boden lag und mit der Ohnmacht kämpfte.
Langsam stützte er sich auf seine Hände und bemerkte, dass sein Kopf und Oberkörper mit etwas bedeckt waren. Es war sein Mantel, der ihm irgendwie über Rücken und Kopf gefallen sein musste. Der raue Stoff war nicht das Einzige, was er auf seiner Haut verspürte. Seine Haare und vor allem seine rechte Gesichtshälfte schienen ihm mit irgendetwas verklebt. Mit den Fingern tastete er vorsichtig über sein Gesicht, dabei schoss ein Schmerz von tausend Nadelstichen durch seinen Schädel. Er zuckte zusammen und atmete tief durch. Dann ging er langsam auf die Knie und legte den Mantel beiseite, damit er endlich etwas sehen konnte. Um ihn herum war es Nacht, nur der halbvolle Mond spendete ein bisschen Licht in der Dunkelheit. Trotz der lähmenden Schmerzen gelang es ihm aufzustehen. Er betrachtete seine Hand. Im fahlen Mondschein konnte er eine dunkle Substanz erkennen. Zaghaft roch er daran und leckte an einem seiner Finger. Ein seltsam vertrauter Geschmack wanderte über seine Zunge. Ihm wurde klar, dass es Blut war – sein Blut! Aber warum er blutete und wie das alles passiert war, wollte ihm nicht in den Sinn kommen. Das Pochen im Kopf war zu groß, als dass er hätte nachdenken können. Schwindel überkam ihn und seine Beine begannen nachzugeben. Er brauchte dringend Hilfe. Mit aufkommender Panik sah er sich um und nahm dabei die Landschaft in Augenschein. Er befand sich auf einer großen Lichtung, die von finsterem Wald eingerahmt wurde. Im nahen Unterholz raschelte etwas und der gespenstische Ruf eines Uhus durchdrang die Nacht. Etwa fünfzig Schritt entfernt von ihm stand ein altes Haus. Das Fachwerk war teilweise mit Efeu oder etwas Ähnlichem bewachsen, doch seine Sehkraft war von der Dunkelheit und den starken Schmerzen so getrübt, dass er es nicht recht erkennen konnte. Die Fensterläden waren geschlossen und dennoch entdeckte er an einem der unteren Fenster schwaches Licht. Es drang durch die Spalte der Fensterläden und ließ seine Hoffnung auf Hilfe wachsen. Entschlossen atmete er tief ein und ging auf den verheißungsvollen Schein zu. Wie ein Betrunkener schwankte er über die Lichtung. Als er direkt vor dem Fenster stand, öffnete er schwerfällig einen der beiden Holzläden. Im Inneren des Zimmers schummerte das Licht einer Petroleumlampe. Dort schien jemand an einem Tisch zu stehen. Er konnte es nicht recht erkennen, denn sein Sichtfeld verschwamm immer mehr zu einem Brei aus hellen und dunklen Streifen. Er begann zu schlottern, und von der schrecklichen Angst erfüllt, es könnte mit ihm zu Ende gehen, rief er um Hilfe. Doch seine Stimme versagte, sodass nur ein schwaches »Hiill …« zu hören war. Mit letzter Kraft klammerte er sich am Fensterbrett fest, kratzte mit seinen Fingernägeln über das Holz und sackte schließlich in sich zusammen. Dann wurde ihm wieder schwarz vor Augen.
Der dürre Georg
Ernatsreute im Linzgau, September 1903
Georg Back war ein Raubmörder, der stets unentdeckt blieb. Seine Opfer waren ausschließlich Fremde und den Leuten im Dorf war er nur als gewöhnlicher Wegewart und Tagelöhner bekannt. Wegen seines Aussehens nannten sie ihn den »dürren Georg«, denn er war recht groß und auffällig schmal. Dennoch war Georg kräftig und für seine über fünfzig Jahre äußerst zäh. Sein Gesicht prägten kantige Wangenknochen und eine markante Hakennase, und unter seinen Augen hatte er dunkle Ränder, dass die Leute im Dorf meinten, er leide an der Wurmkrankheit. Zudem hatte er dünnes Haar, das meistens von einem kurzkrempigen Schäferhut verdeckt wurde. Dass ihm seine Beute buchstäblich über den Weg lief, lag daran, dass Georg Back als Wegewart auf den Wegen und Straßen von Ernatsreute tätig war. Auf diese Weise waren ihm so manche Opfer nichts ahnend in die Fänge geraten. Er lockte sie meist in einen Hinterhalt, beraubte sie und entledigte sich ihrer auf brutale Art und Weise. Ob Reisende, fahrende Krämer oder Landstreicher, letztendlich war Georg jedes Opfer recht, solange es ein bisschen Geld bei sich trug und allein unterwegs war.
Als Georg an diesem Nachmittag von der Arbeit auf dem Weg nach Hause war, erspähte er von Weitem den jungen Burschen, der vor ihm allein auf der Landstraße nach Ernatsreute lief. Er trug einen Korb auf dem Rücken, was Georg auf einen fahrenden Händler oder dergleichen schließen ließ. Georg fuhr mit seinem Schäferwagen langsam an ihn heran.
»So wie es aussieht, bist du schon länger unterwegs«, sagte er und lächelte den jungen Kerl freundlich an. »Wohin soll es denn gehen?«
»Nach Owingen«, antwortete der Bursche.
»Ich kann dich gern ein Stückle mitnehmen, denn ich fahr in diese Richtung.«
Der Fremde willigte ein, stieg neben ihm auf den Kutschbock und gemeinsam fuhren sie weiter.
»Woher kommst du denn?«, fragte Georg wissbegierig.
»Von Ravensburg«, antwortete der Kerl.
»Bist du ein fahrender Händler?«
»Ein fahrender Schuhmacher, um genau zu sein. Ich habe einen langen Tagesmarsch hinter mir und bin dir sehr dankbar, dass du mich mitnimmst. Ich weiß nicht, wie lange meine Füße mich noch getragen hätten.«
»Dann hast du bestimmt Durst und einen rechten Hunger?«, fragte Georg vielversprechend.
»Das kann man sagen, ja«, entgegnete der Bursche eifrig nickend.
Georg spielte den Mitleidsvollen. »Herrje, ich kenne so arme Kerle wie dich, die die längste Zeit auf der Straße unterwegs sind und fast nix zu essen dabeihaben. Von denen habe ich schon viele gesehen. Darum lade ich dich zum Vesper ein. Mein Hof liegt auf dem Weg. Und danach fahre ich dich weiter nach Owingen. Was meinst du?«
Der Schuster stimmte dankend zu und kurze Zeit später saßen sie gemeinsam in Georgs Küche am gedeckten Tisch.
Georg Back lebte seit Jahren allein in seinem Tagelöhnerhaus, dem sogenannten Schäfergütle. Das kleine Haus lag auf der großen Wiese unterhalb der Burghöfe, dort wo die Landstraße von Ernatsreute nach Owingen führte. Die Wiese hatte in alten Zeiten den Flurnamen Wolfsgalgen bekommen, denn um der zunehmenden Wolfsplage Herr zu werden, hatten die Schäfer früher dort Fleischköder an kleinen Sicheln aufgehängt. Die gefräßigen Wölfe schnappten nach dem Fleisch in der Höhe und hängten sich dadurch selbst am Wolfsgalgen auf. Doch Wölfe waren im Linzgau seit fast hundert Jahren nicht mehr gesehen worden. Unterhalb der Wiese floss der Geißbach den Hang hinunter. Der Bach entsprang im Wald Fronholz auf der Anhöhe schräg gegenüber, durchquerte die Felder hinter Ernatsreute und floss an der Landstraße unterhalb vom Schäfergütle unter einer Brücke hindurch. Kurz danach wurde der Geißbach zu einem kleinen Weiher angestaut. Dieser speiste weiter unten den Zufluss zu einer Sägemühle, der Hangmühle von Gerhard Frommel. Durch die Mühle geleitet, gab der Geißbach dem oberschlächtigen Wasserrad den nötigen Antrieb für die Säge und floss danach weiter in den Aachtobel hinab. Gegenüber dem Schäfergütle, auf der anderen Seite der Landstraße, stand auf dem Gewann Öschle ein weiteres Tagelöhnerhaus, das ähnlich aussah wie das von Georg. Dort wohnte die alte Witwe Rechle.
Georg Backs Vater Johannes war Schäfer gewesen sowie auch dessen Vater. Mit Georg sollte die Tradition des Schäferdaseins der Familie Back jedoch enden, denn er konnte der Arbeit mit den Viechern nichts abgewinnen. Deshalb hatte er nach einer anderen Tätigkeit gesucht und war zum Wegewart von Ernatsreute geworden, zuständig für alle Straßen, Wege und Brücken, die zum Dorf und seiner Gemarkung gehörten. Die Gemarkungsgrenze von Ernatsreute reichte im Norden bis hinauf zu den Burghöfen, im Osten bis kurz vor Wackenhausen, im Süden bis zum Schönbuchhof und im Westen bis zum Fronholz. Als sein Vater verstorben war, erbte der junge Georg Haus und Hof. Wobei das Schäfergütle der Backs schon damals in einem schlechten Zustand gewesen war. Seine Mutter war kurz nach dem Vater gestorben und seine beiden Schwestern hatten später auf andere Höfe eingeheiratet. Der junge Georg verkaufte die Schafe und konnte so einen Teil der Schulden bezahlen, die auf dem Grundbesitz lasteten. Weniger aus Liebe, sondern vielmehr aus der Not heraus hatte er Antonia Gerster aus Lippertsreute geheiratet, denn er hatte schließlich ein Weibsbild für seinen Haushalt gebraucht. Ihr Gesicht hatte nicht die Reize einer jungen Frau gehabt, stattdessen hatte es ihn mit den groben Zügen mehr an ein Mannsbild erinnert. Antonia stammte ebenfalls aus einer kleinen Tagelöhnerfamilie, dementsprechend gering war ihre Mitgift bei der Heirat ausgefallen.
Das ebenerdige Haus der Backs war aus einfachem Fachwerk gebaut, mit einem strohbedeckten Dach. Im rechten