Da es nach dem Dreißigjährigen Krieg an Geld fehlte, ließ die Ordensgemeinschaft anstelle des abgebrannten Haupthauses ein kleineres Wohnhaus mit Tenne errichten und belehnte den Vrenenhof fortan wieder an Bauern. Tante Ottilies Schwiegervater war der letzte Lehensbauer des Vrenenhofs gewesen. Gegen Zahlung einer Ablösesumme hatte er das Gut an sich gebracht und so wurde der Vrenenhof von ihm an Tante Ottilies Mann, und von ihr wiederum an Elisabeth vererbt. Sie und Adam lebten nun schon seit über dreißig Jahren allein hier. Kinder hatte das alte Paar keine, aber dafür viele Tiere, um die sich die beiden genauso sorgsam kümmerten.
Es war ein warmer Herbsttag und die Sonne strahlte am leicht bewölkten Himmel über der Lichtung. An diesem Morgen lag ein junger Mann auf dem rubinroten Biedermeiersofa in der Stube und schlief. Er war am Vorabend hinter dem Haus zusammengebrochen. Von seinem Ächzen alarmiert, hatten Adam und Elisabeth den schwer verletzten jungen Mann hinter ihrem Hof entdeckt. Sofort hatten sie ihn ins Haus gebracht und auf das Sofa gelegt. Noch am Abend hatte Elisabeth mit warmem Wasser die angetrockneten Blutreste aus dem Gesicht des Fremden gewaschen und ihm eine besondere Kräutermixtur zur Beruhigung verabreicht. Dann war er erschöpft eingeschlafen.
Zaghaft öffnete Elisabeth die Tür zur Stube und ging hinein, sie wollte den jungen Mann auf keinen Fall wecken. Aus Gewohnheit blickte sie zuerst zu dem langen Vorhang, der den Zugang zum Hinterzimmer verdeckte. Sie musste sich vergewissern, dass das Zimmer vor neugierigen Blicken verborgen blieb. Gegenüber dem Vorhang lag der junge Mann auf dem Sofa. In der Mitte der Stube stand ein kleiner quadratischer Tisch auf einem großen runden Teppich. Um den Tisch herum waren vier Stühle angeordnet. Mit den Leuten, die Elisabeth um Hilfe aufsuchten, saß sie gewöhnlich dort. Ihr angestammter Platz befand sich vor dem Vorhang, sodass sie das Hinterzimmer stets in ihrem Rücken hatte. Der Besuch saß ihr meist gegenüber oder durfte sich sogar auf das bequem gepolsterte Sofa legen, damit Elisabeth sich die Person für die Behandlung genauer ansehen konnte.
Seit gestern Abend waren die dunkelgrünen Vorhänge zugezogen, sodass die Morgensonne nur gedämpft durch die Fenster schien. Eine Fliege kreiste im schwachen Tageslicht über dem Sofa umher, doch das surrende Geräusch ihrer Flügel schien den jungen Mann in seinem tiefen Schlaf nicht zu stören. Langsam trat Elisabeth an das Sofa heran und betrachtete ihren fremden Gast, dessen Namen sie nicht kannte. Er mochte etwa um die dreißig Jahre alt sein. Seine Kleidung war die eines Handwerksburschen. Er war von mittlerer Statur, der Länge nach passte er noch gut auf das Sofa. Für einen Burschen in seinem Alter war er zudem anständig genährt, aber nicht fett. Sein Gesicht war rundlich und auf dem Kopf trug er braune Locken, die vom Schweiß teilweise an seiner Stirn klebten. Elisabeth wusste nicht, woher er gekommen war, aber eines war sicher: Wäre er in seinem angeschlagenen Zustand noch einige Zeit im Wald umhergeirrt, dann hätte er bei Gott ein schnelles Ende gefunden. Am Kopf hatte er eine schwere Verletzung auf der rechten Schädelseite. Dazu kam jetzt das Fieber, das von der Wunde herrührte, die sich entzündet haben musste. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er atmete sehr kurz und stoßartig, während er schlief. Elisabeth wischte ihm mit einem Tuch vorsichtig über das Gesicht. Eine Weile betrachtete sie ihn und fragte sich, wer er wohl sein mochte. Was um alles in der Welt war dem armen Kerl passiert? In der Gewissheit, dass diese Fragen bald beantwortet würden, ging sie hinaus auf den Gang und schloss leise die Stubentür hinter sich.
An diesem Morgen wollte Elisabeth ihre Weintrauben ernten. Sie ging in die Küche am Ende des Hausgangs. Von einem der drei Stühle am Küchentisch nahm sie ihre Schürze und zog sie über ihre helle Bluse und das dunkelgrüne Trägerkleid. Darüber zog sie eine feine Strickjacke. Ihre langen schwarz-grauen Haare band sie wie immer zu einem Zopf, über den sie für die Arbeit ein Kopftuch knotete. Zwischen einem Wandregal, auf dem sie Geschirr und Krüge aufbewahrten, und der Hintertür zur Wiese, über die sich der junge Mann gestern gequält haben musste, führte eine weitere Tür über zwei Stufen in die Tenne hinunter. Fertig angekleidet nahm Elisabeth ein Messer aus der Tischschublade, holte einen Weidenkorb aus der Tenne und ging nach draußen. Die ganze Südwand des Hauses zum Waldweg hin und ein Teil der Westwand waren von oben bis unten mit Weinreben bewachsen. Zufrieden begutachtete Elisabeth die vollbehangenen Rebstöcke. Für die Weintrauben war die Hauswand ein idealer Platz, um den ganzen Tag das Sonnenlicht des Sommers einzufangen. Nun war es Ende September und die Trauben waren reif. Wie jedes Jahr verarbeitete Elisabeth einen Teil davon zu Wein, den sie für ihre Mixturen brauchte, während sie den Rest in der Vorratskammer an die Decke hängte. So gelagert, hielten die Trauben gut drei bis vier Wochen, auch wenn die Beeren mit der Zeit schrumpelig wurden. Ihre Süße verloren sie dabei nicht. Im Gegenteil – die Trauben schienen sogar noch ein bisschen süßer zu werden. Elisabeth und Adam hatten dadurch genügend Zeit, die Früchte ihrer Traubenernte zu genießen. Und wenn sie sich dann doch irgendwann davon satt gegessen hatten, trocknete Elisabeth den Rest zu Rosinen, die in einem ihrer Hefezopfbrote landeten. Dass die Weintrauben nun reif waren, hatte allerdings auch die Tierwelt auf dem Vrenenhof bemerkt. Schon frühmorgens hüpften Spatzen munter in den Reben an der Hauswand umher und pickten an den süßen Beeren. Ihnen folgten die Wespen und Hornissen, welche sich an den aufgepickten Stellen weiter zu schaffen machten. An diesem Morgen arbeitete Elisabeth sich an der Südwand von der Haustür langsam zur Westwand vor. Die Weinreben waren über die Jahre hinweg an der Wand emporgewachsen und hatten über dem Tennentor ihren Weg zur Abendsonne an der Westwand gefunden. Auf dieser Seite des Hauses war auch das Schweinegatter, wo tagsüber die beiden Schweine in ihren Erdmulden dösten. Das Gatter schloss einen Teil der Hauswand ein und von dort gelangten die Schweine über eine kleine Tür direkt in ihren Stall in der Tenne. Adam musste die trägen Schweine abends gar nicht erst eintreiben, es genügte, wenn er ihnen im Stall Rüben, Äpfel oder Essensreste in den Trog warf. Von diesem verheißungsvollen Geräusch angelockt, gingen die Schweine freiwillig hinein.
Als der erste Korb voll mit Trauben war, trug Elisabeth ihn durch das große Tor in die Tenne, wo sie ihn abstellte. Die angefressenen Traubenzweige warf sie den Schweinen und Hühnern in den Trog. Der Schweinestall war gleich hinter dem linken Torflügel. Weiter hinten in der Ecke gelangte sie über eine Holztreppe in den angebauten Hühnerstall. Im hinteren Teil des Hühnerstalls stand Pankraz in seiner Stallung, ein braunes Schwarzwälder Kaltblut. Der gutmütige Pankraz hatte am Hang direkt unterhalb des Hühnerstalls seinen eigenen eingezäunten Weidebereich. Die Hühner liefen auf dem Vrenenhof tagsüber frei umher und so kam es öfters vor, dass ein paar von ihnen dem großen Kaltblüter einen Besuch auf seiner Weide abstatteten. Seinem ruhigen Gemüt entsprechend, ließ sich der schon etwas ältere Pankraz von den scharrenden Hennen jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Elisabeth und Adam hatten manchmal sogar das Gefühl, dass er die Gesellschaft seiner gackernden Stallnachbarn genoss.
Elisabeth ging zur Rückwand der Tenne, wo jede Menge Arbeitsgeräte und der Einspänner für Pankraz standen. Hinten in der Ecke, wo die steinernen Stufen in die Küche hinaufführten, suchte sie vergeblich nach den Körben. Daneben war der Treppenabgang in den Keller, doch auch dort waren keine Körbe zu finden.
»Wo hat er sie bloß wieder versteckt«, murmelte Elisabeth vor sich hin und ging wieder hinaus. Draußen im Hof, umgeben von Wohnhaus und Speicher, lag zum Waldweg hin ihr großer Garten. Dort pflanzte sie nicht nur Gemüse, sondern auch alle möglichen Kräuter an. Der Garten war von einem Zaun mit dünnen angespitzten Holzpalisaden umgeben, damit keine wilden Tiere darin fressen oder im Boden umherwühlen konnten. Elisabeth lief am Garten vorbei und suchte im alten Speicher nach den Körben. Komplett aus Holz gebaut, war er zweistöckig angelegt. In seinem unteren Stock lagerten Sensen, Rechen und allerlei Gerätschaften für den Garten. In der Raummitte stand ein Hackstock, auf dem Adam gelegentlich das Holz spaltete, das er an der Wand nebenan aufstapelte. Der obere Stock des Speichers wurde fast nicht mehr genutzt. Hier hatte man früher das Getreide aufbewahrt. Links und rechts waren große kastenförmige Fächer, in denen das Korn einst gelagert worden war, denn hier oben war es vor Feuchtigkeit und Mäusen gut geschützt. Doch die Getreidekästen waren seit Jahrzehnten leer und dienten nur noch als Abstellraum für alte Krüge, Flaschen und anderes Gerümpel. Einen Teil der Kästen hatte Adam mit Brennholz gefüllt. Im Giebel über den Getreidekästen war früher der Speck zum Lagern aufgehängt worden. Jetzt hingen dort verschiedene Kräuterbüschel, die Elisabeth trocknete. Von ihrer Tante Ottilie hatte Elisabeth schon als Kind von der kleinen geheimen Kammer im Inneren des alten Speichers erfahren. Die Kammer verbarg sich in der doppelten Rückwand des