Bruno Heini

Deine Zeit läuft ab


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zu hell in ihre Augen.

      Überfall auf Party!

      Palmer war direkt bei den stündlich wiederholten Nachrichten des Vortags gelandet. Die Sprecherin schaffte es nicht, ihre freudige Aufregung im Zaum zu halten, als sie in ernstem Ton erklärte: »Der High-Society-Juwelier Thomas Diethelm ist bekannt für seine extravaganten Sommerpartys für seine Stammkunden. Kriminelle haben die diesjährige Veranstaltung im Schlosshotel Gütsch überfallen und allen Gästen Schmuck und Luxusuhren abgenommen. Auch haben die Täter die Vitrine mit einer millionenteuren Weltneuheit aufgebrochen. Diethelm hat sich zur Wehr gesetzt und nach der Waffe des Angreifers gegriffen. In der Rangelei hat sich ein Schuss gelöst. Eine Kellnerin, die laut Augenzeugen Diethelm zu Hilfe eilen wollte, wurde dabei getroffen. Ärzte kämpfen zurzeit in einer Notoperation um ihr Leben. Die Täter sind mit Motorrädern unerkannt durch den Gütschwald entkommen. Der Einsatz der Polizei wurde erschwert durch ein Fahrzeug, mit dem die Täter die Zufahrt zum Hotel blockiert hatten. Zum Wert der Beute wollten sich weder Diethelm noch die Polizei äußern. Aber dem Vernehmen nach soll der Schaden in die Millionen gehen. Bei ihrem Einsatz hat die Polizei das Gebiet großräumig abgeriegelt, was einen Stau in der gesamten Innenstadt ausgelöst hat. Um zu verhindern, dass jemand den Überfall filmte, haben die Täter die Handys der Besucher eingesammelt. Trotzdem ist es einem Gast gelungen, uns Aufnahmen des Vorfalls zuzuspielen. Bitte entschuldigen Sie die mangelhafte Bildqualität.«

      Palmer richtete sich auf, schob die Fernbedienung auf den Sofatisch, stützte sich mit den Ellbogen auf den Knien ab und starrte gebannt auf die verwackelten Bilder.

      Die Kamera schwenkte langsam über den ganzen Hotelgarten mit vielleicht 120 Leuten. Gläser klirrten, Loungemusik plätscherte, eine Dame in langem Abendkleid warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Aus den Gesprächsfetzen verstand man kein Wort. In freudiger Laune tauschten zwei Herren Visitenkarten aus, ein anderer in edlem Zwirn hielt einen imaginären Telefonhörer ans Ohr und signalisierte »ruf mich an« quer durch den ganzen Schlosshof. Die Aufnahme schwenkte weiter zur Security, einem Glatzkopf mit dunkler Sonnenbrille und Knopf im Ohr. Die rechte Hand hielt er um das linke Handgelenk gelegt und blickte starr über die Gesellschaft.

      Palmer sah eine Bewegung am Bildrand. Im Hintergrund drängte sich ein schwarz maskierter Mann durch die Gruppe der Gäste. Zwischen den Lachern hörte man erste Schreie, zerbrechendes Glas, eine Männerstimme fluchte. Das Bild schnellte ruckartig zum Himmel, um sich dann in rasendem Tempo um die eigene Achse Richtung Steinboden zu drehen. Dann hüpfte das Gerät offensichtlich über den Untergrund, das Bild wurde schwarz, die Aufnahme stoppte.

      Wieder erschien die Sprecherin.

      »Der Schwanenplatz in Luzern ist bloß ein kleiner Fleck und trotzdem der Ort, wo weltweit die meisten Luxusuhren verkauft werden. Touristen aus der ganzen Welt, insbesondere Gäste aus China, erstehen hier ihre edlen Zeitmesser in Schweizer Qualität. Denn zusätzlich zu ihrer Uhr erhalten sie nicht nur ein Echtheitszertifikat, sondern auch die Gewähr, dass nicht nur die Uhr, sondern auch das Zertifikat über jeden Zweifel erhaben ist. Diethelm besitzt keines der Geschäfte am Schwanenplatz, sondern arbeitet äußerst erfolgreich mit einem anderen Geschäftsmodell. Er bringt mechanische Luxus-Armbanduhren im Direktverkauf an seine betuchte Klientel. Hierfür empfängt er diese in einem Prunkappartement. Als besondere Aufmerksamkeit überlässt er die Suite seinen Kunden auf Wunsch sogar kostenlos für einige Tage. Und einmal im Jahr begrüßt er den gesamten Kundenkreis aus dem In- und Ausland zu einer rauschenden Party. Unbestätigten Berichten zufolge geht die Polizei zurzeit von fünf schwarz maskierten und bewaffneten Angreifern aus. Unserem Mann vor Ort ist es gelungen, aus der Ferne folgende Szene zu drehen.«

      Nun flimmerten unverwackelte Aufnahmen über den Bildschirm. Schaulustige standen unbeteiligt am Absperrband und gafften auf die weiße Schlossanlage. Die Kamera schwenkte zum Rosengarten und zoomte alles so nah, bis man erkennen konnte, wie da und dort Menschen in Schutzanzügen auf dem Boden kauerten und mit Pinzetten jeden kleinsten Dreck eintüteten.

      »Thomas Diethelm wollte sich für ein Interview vor der Kamera nicht zur Verfügung stellen. Aber wir konnten ihn kurz per Telefon erreichen. Hörbar geschockt hat er erklärt, die Polizei habe seine Gäste gebeten, ihr bei der Suche nach den Tätern zu helfen und sämtliche Videoaufnahmen zur Verfügung zu stellen.«

      Als lediglich noch Aufnahmen des Schlosses aus der Ferne folgten, machte Palmer den Fernseher aus und wunderte sich über die Aggressivität dieser für das beschauliche Luzern außergewöhnlichen Gewalttat.

      Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass Whiskey entgegen anderslautende Thesen doch nicht zu den Grundnahrungsmitteln zählte. Zumindest nicht über einen längeren Zeitraum gesehen. Sie rieb sich die Stirn und quälte sich aus ihrer bequemen Position in die Küche. Ohne große Erwartungen zog sie die Kühlschranktür auf, aber wie gestern schon angenommen gab das Sortiment im Inneren abgesehen von zwei restlichen Bierdosen bestenfalls noch eine Bloody Mary her. Keine Milch, Eier schon gar nicht. In der ganzen Küche fand sie weder Kaffee noch Brötchen, nicht mal im Tiefkühler. Ein Verbrechen. Was war nur los mit ihr, dass sie nicht mal ihre Kaffeevorräte im Blick hatte? Dabei war Kaffee eindeutig lebensnotwendig, und Palmer ließ da auch keine anderen Meinungen gelten. Während sie nochmals jeden Schrank öffnete und sogar die Gewürzdosen beiseiteschob in Hoffnung auf eine vergessene Packung des aromatischen Pulvers, fiel ihr ein, dass sie gestern hatte einkaufen wollen. Warum hatte sie sich nicht zusammengerissen und war noch mal losgelaufen? Stattdessen hatte sie sich die Kante gegeben, in Selbstmitleid und Enttäuschung gebadet, wofür ihr das Leben anscheinend heute Morgen obendrauf den Mittelfinger zeigen wollte.

      Aber ohne Kaffee ging bei Palmer gar nichts. Wenn er auch keinen Kater vertrieb, immerhin weckte Kaffee den Geist. So behalf sie sich heute mit einem Schwarzteebeutel, den sie vorhin in einer Schublade aufgestöbert hatte. Sie warf ihn in eine Henkeltasse, füllte kaltes Wasser ein, stellte die Tasse in die Mikrowelle und wartete mit wippendem Fuß. Wie üblich stoppte sie das Gerät bei zwei, kurz bevor der Timer ganz runtergezählt hatte, und fühlte sich, als wäre es ihr gelungen, gerade eben noch eine Bombe zu entschärfen. Vorsichtig hob sie die dampfende Tasse heraus und an die Nase. Sie schnaubte angewidert, das Getränk roch nach vier Jahren Küchenschrank, also kippte sie es dem guten alten Johnny hinterher in den Ausguss. Sie warf einen Blick auf die Uhr und dann Richtung Wohnzimmer, aber die Entscheidung war bereits gefallen. Ein Frühstück und vor allem Kaffee am Bahnhofplatz waren es wert, sich aus der Wohnung zu quälen. Danach konnte sie noch das Nötigste einkaufen, was ihr sicher helfen würde, die üblen Gedanken an das gestrige Einstellungsgespräch zu vergessen.

      Der Fußmarsch dem Seeufer entlang zum Bahnhofplatz tat ihr gut. Der Geruch von algenbedeckten Steinen und Wasser, vermischt mit der leicht feuchten, herrlich frischen Luft klärte ihren Geist, und die Bewegung baute spürbar die Stresshormone in ihrem Körper ab. Einfach mal eine Weile Abstand von der Tristesse ihrer Wohnung, in der leere Flaschen davon zeugten, dass sie nichts auf die Reihe bekam – ja, das würde ihr guttun. Vielleicht würden ihr so ganz neue Ideen kommen.

      Ihre Laune hatte sich deutlich gebessert, als sie sich kurz darauf in der Morgensonne an einen der Bistrotische setzte, die alle schön an der Fassade entlang aufgereiht standen, zur Straße hin ausgerichtet wie zu einer Bühne.

      Sie kannte die Bedienung seit Jahren, erhielt deshalb den Espresso bereits serviert, kaum hatte sie sich hingesetzt, unerwarteterweise jedoch begleitet von der Bemerkung, die Haselnussschnecke gehe heute aufs Haus. Palmer nickte zum Dank und lächelte zum ersten Mal an diesem Morgen.

      Sie lehnte sich zurück und zog den geliebten Duft frisch gebrühten Kaffees ein. Anschließend gab sie sich mit geschlossenen Lidern den Sonnenstrahlen hin und gönnte sich bereits mit dem zweiten Bissen das saftige Herz der Haselnussspirale. In diesem Boulevardcafé liebte sie das hektische Treiben vor ihrer Nase. Menschen, die in Wellen aus dem Bahnhof schwappten oder in ihren Wagen über den Platz schossen. Welch ein augenfälliger Kontrast zum gemächlichen Umfeld ihrer Wohnung im Bootshaus des Ruderklubs.

      Ein Schatten schob sich vor sie und nahm ihr die Sonne. Palmer hob den Kopf in der Annahme, die Bedienung wäre zurückgekommen, aber dem war nicht so. Sie blinzelte.

      »Sie müssen mir helfen«, flehte die unbekannte Frau, die Palmer im Gegenlicht nur