Klaas Kroon

Mord im Wendland


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hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte mit einem Fuß, der von einer schönen Ledersandale bekleidet war.

      »Nur so viel, dass sie nicht Wilderer im engeren Sinne sind.«

      »Wie meinen Sie das?«

      Sabine erzählte die Wolfgeschichte. Melanie Gierke schien mäßig beeindruckt.

      »Und was noch?«, fragte sie und schien zu spüren, dass das nicht alles war.

      »Die Männer haben im Wald ein Kind gesehen, jedenfalls behauptet das einer von ihnen.«

      »Ein Kind«, sagte die Gierke, und es klang weder wie eine Frage noch verwundert. Sie machte eine kurze Pause. »Das Kind, nach dem Sie in dem Haus gesucht haben.«

      Sabine nickte.

      »Scheiße«, rief die Gierke und sprang auf. »Soll das heißen, dass da draußen im Wald tatsächlich ein Kind herumirrt und vielleicht sogar ein Wolf?«

      »Na ja, das sagt halt einer der beiden. Und besonders glaubwürdig ist der nicht. Das sind Alkoholiker, Frau Gierke.« Sabine hatte schlagartig ein schlechtes Gewissen, dass sie so viel Zeit hatte verstreichen lassen, ohne etwas zu unternehmen.

      Melanie Gierke drehte sich wortlos weg, nahm ihr Handy, tippte auf einen Kontakt und feuerte eine Salve an Anweisungen durch die Leitung. Es kamen Worte wie »Hundertschaft«, »Hundestaffel« und »Hubschrauber« darin vor. Wenigstens musste die Gierke nun insgeheim eingestehen, dass Sabines Suche nach einem Kind in der Nacht kein Unfug gewesen war. Als die Gierke ihre Einsatzbefehle abgespult hatte, wandte sie sich wieder an Sabine.

      »Ihr überaus engagierter junger Kollege Attila hat nicht nur die Turnhalle der Grundschule für unser Hauptquartier beschlagnahmt und Gästezimmer buchen können, sondern auch den Besitzer des Hofes ermittelt.«

      »Und?«, fragte Sabine.

      Die Gierke las etwas von ihrem Handy ab. »Heinrich und Greta Kurze sind als Eigentümer eingetragen. Keine Grundschuld.«

      Sabine musste grinsen. War es wichtig, dass die Bruchbude abbezahlt war? Sie konnte es sich nicht verkneifen, den Informationsvorsprung, den Papa ihr verschafft hatte, genüsslich zu inszenieren. »Wie schön, dass Heinrich und Greta für den Fall ihrer Wiedergeburt eine irdische Bleibe haben. Die beiden sind nämlich seit 40 Jahren tot.«

      »Ups«, machte Melanie Gierke und sie wirkte nicht beleidigt, »dann hat der gute Attila die Recherche wohl mittendrin abgebrochen.«

      »Er lernt ja noch«, sagte Sabine und grinste zu Attila hinüber, der an seinem Schreibtisch saß und dem Gespräch der beiden Frauen aufmerksam folgte. Er schaute verlegen.

      »Sabine, echt, das steht so im Grundbuch, ich habe mir den Auszug aus Dannenberg faxen lassen.« Attila hielt ein Blatt hoch.

      »Ihr faxt noch?«, fragte die Gierke überheblich.

      »Wir nicht«, entgegnete Sabine, »Dannenberg faxt.«

      »Ohne Quatsch jetzt, Frau Langkafel, wem gehört der Hof, wenn nicht dem toten Heinrich und der toten Greta, und wieso stehen die bis heute im Grundbuch?«

      »Die Erklärung ist vermutlich einfacher, als Sie denken«, ertönte Metzgers Stimme, der frisch und ausgeruht in der Tür stand. »Der Erbe muss mit dem Erbschein zum Amtsgericht gehen und das Grundstück umtragen lassen. Tut er das nicht, passiert gar nichts.«

      »Also wohnt der Sohn da?«, fragte Sabine.

      »Nein«, antwortete Metzger, »muss ja nicht. Er hat das Grundbuch nicht ändern lassen. Also hat er die Immobilie nie verkauft. Das ist alles. Es sagt uns nichts darüber, wer dort wohnt. Das sagt uns höchstens das Melderegister.«

      »Nee«, schaltete sich Attila ein, »laut Melderegister wohnt da niemand.«

      Kapitel 10

      Der Wolf hatte nicht lange in dem Gebüsch gelegen. Der Anblick von Fremden machte ihm bestimmt genauso große Angst wie Sahas. Schon bald war er davongeschlichen und Sahas gebückt hinterher. War es schon Abend? Nein. Der Himmel über den Bäumen war noch hell. Wo wollte der Wolf hin? Er lief so schnell. Bald würde Sahas ihm nicht mehr folgen können.

      Jetzt blieb der Wolf stehen und drehte sich um. »Wartest du auf mich, Wolf?« Als Sahas näher kam, setzte der Wolf sich in Bewegung. Der Wald war endlos. Irgendwo hinter dem Wald musste doch die Welt beginnen. So hatten es ihm die anderen erzählt. Die Welt, die so böse und so gefährlich war und vor der ihn alle beschützten.

      Der Wolf kroch in ein niedriges Gebüsch hinein. Er war nicht mehr zu sehen. Nach kurzer Zeit kam er wieder heraus und blickte Sahas an. Der Junge bemerkte, dass die Schnauze des Wolfes nass war und Wasser von seiner Nase tropfte. Er hatte getrunken. Nun robbte Sahas in das Gebüsch und stieß auf einen kleinen Tümpel. Er war nicht mal halb so groß wie Sahas Bett, aber es war Wasser. Schwarzes, leicht modrig riechendes Wasser. Sahas kniete sich hin und schöpfte mit der Hand Wasser, das er gierig schlürfte. Es schmeckte nicht so modrig, wie es roch. Wenn der Wolf dieses Wasser trinken konnte, dann war es auch gut für Sahas. Als er keinen Durst mehr hatte, kehrte er zum Wolf zurück.

      Das Tier stand nun in einiger Entfernung zum Gebüsch und lauschte. Sahas hörte nichts. Plötzlich lief der Wolf geduckt ein Stück weiter und Sahas folgte ihm. Er war inzwischen geschickter, stolperte nicht mehr so viel. Lernte er von dem Wolf, wie man sich im Wald am besten bewegte? Und war es einfacher, mit vier Beinen zu gehen als mit zwei, oder schwerer?

      Sie erreichten einen umgefallenen Baum. Dessen dicker Stamm, er war viel höher als Sahas, lag zwischen den anderen Bäumen wie tot. Am Ende des Baums hing ein riesiger Dreckklumpen, der von dünnen Ästen durchzogen war. Das musste die Wurzel sein. Sahas hatte Wurzeln im Garten bei viel kleineren Bäumen gesehen. Diese Wurzel war hier bestimmt so hoch wie der Schuppen, in dem Oms Auto stand. Der Wolf huschte unter die Wurzel. Er lief immer hin und her, den Blick auf Sahas gerichtet. Was wollte er?

      Jetzt hörte Sahas, was der Wolf vermutlich schon lange wahrgenommen hatte: Hundegebell und Stimmen. Da näherten sich Fremde, viele Fremde, so laut, wie es war. Wollte der Wolf, dass sich Sahas hier versteckte? Er ging zu der Wurzel. Darunter hatte sich ein großes, klaffendes Loch gebildet. Ein tolles Versteck. Sahas hatte im Haus mehrere Verstecke, ein ganz besonders gutes. Es war lustig, wenn die anderen ihn suchten und nicht fanden. Aber dieses Versteck hier war nicht lustig. Es war dunkel und dreckig. Sahas kroch trotzdem hinein. Das Loch war nicht so gefährlich wie die Fremden, die sich da mit Hunden näherten.

      Es war kühl und ein wenig feucht in dem Loch unter der Wurzel, aber der Sand war schön weich. Sahas dachte, der Wolf würde sich auch dort verstecken, doch er drehte sich um und trat mit den Hinterbeinen Sand in das Loch. Ganz schnell schaufelte er sehr viel hinein. Sahas musste den Kopf wegdrehen und die Augen schließen, um nicht die kleinen Körner ins Gesicht zu bekommen.

      Nun war es fast dunkel in der Höhle. Nur durch ein winziges Loch drang etwas Sonnenlicht. Sahas wagte kaum, sich zu bewegen. Der Sandwall, den der Wolf aufgeschüttet hatte, würde sonst abrutschen. Sahas atmete flach und lauschte. Das Hundegebell kam näher. Er hörte viele Schritte auf dem trockenen Waldboden, Stimmen. Aber er verstand nicht, was die Fremden sagten.

      Plötzlich wurde das Loch im Sandwall dunkel. Stand da jemand vor der Wurzel? Es klang, als würde ein Hund schnüffeln. Sahas’ Herz schlug schnell. Ob der Hund das auch hörte? Sahas kroch so tief unter die Wurzel, wie es nur ging. Er wusste, wie man sich versteckte, und er wusste auch, wie man leise war. Aber wie konnte man verhindern, dass man roch? Sahas schnupperte an seinen Fingern und an seinem Schlafanzugoberteil. Der Geruch war nur sehr schwach, aber Hunde hatten viel bessere Nasen, das hatte Kamini ihm erklärt. Sie wusste so viel, sie war eine weise Frau. Alles, was Sahas wusste, hatte er von ihr gelernt. Sogar Lesen brachte sie ihm bei. Er konnte es schon ganz gut. Bald würde er die Sachen lesen können, die Kamini abends in ein Heft schrieb. Und Sahas würde bald schreiben lernen, wenn Kamini noch bei ihm war. War sie noch bei ihm? Sahas hatte vergessen, was mit Kamini passiert war.

      Das Loch im Sandwall ließ wieder mehr Licht durch. Er hörte, wie die Fremden und die Hunde weiterzogen.