Klaas Kroon

Mord im Wendland


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mehr richtig sehen. Als er sich dann die Augen rieb, entdeckte er weit hinten zwischen den Bäumen etwas Dunkelrotes. Sein Haus.

      Nun musste er sehr vorsichtig sein. Noch geduckter und noch schneller huschte er von Baum zu Baum. Der Wolf folgte ihm. Sahas kroch in ein Gebüsch, von dem er einen guten Blick auf sein Haus hatte. Was er beobachtete, machte ihm schreckliche Angst. Da waren Menschen, viele fremde Menschen. So viele Fremde kannte er nur aus Filmen, und Fremde waren gefährlich, das wusste er.

      Es standen Autos auf dem Hof. Große Autos und die Menschen trugen Sachen aus dem Haus. Was taten sie da? Gehörten sie zu den Fremden, die gekommen waren, als Sahas noch im Haus war? Fremde kamen selten auf den Hof. Und Sahas hatte nie welche kennenlernen dürfen. Das wäre zu gefährlich, hatten ihm Kamini und Kala mal erklärt. Niemand außer Kamini und Om durfte mit Fremden sprechen. Auch Udgam und Garima nicht. Alle mussten in den Keller, wenn Fremde auftauchten, damit ihnen nichts passierte. Wenn sie dann dort unten waren, konnte man nie vorher wissen, wie lange sie dort bleiben mussten.

      Die letzten Fremden hatten Unheil gebracht, an mehr erinnerte er sich nicht. Und er konnte sich auch nicht erklären, was plötzlich die ganzen Fremden in seinem Haus wollten. Er würde warten müssen, bis sie verschwunden waren. Und so lange hatte er eben Hunger. Das würde er schon aushalten. Der Wolf hielt es ja auch aus. Von der kleinen Maus war er bestimmt nicht satt geworden.

      Kapitel 9

      Sabine war abweichend von ihrem Dienstplan am Samstagmorgen um halb acht mit belegten Brötchen und hartgekochten Eiern in der Polizeistation erschienen. Frühstück für die Verdächtigen eins und zwei, Karsten Koslowski und Olaf Hohmann. Das hatte sie versprochen. Die beiden mutmaßlichen Wilderer saßen etwas zerknittert auf ihren Pritschen. Hohmann wirkte mutlos, Koslowski schaute sie herausfordernd an. Er ergriff auch sofort das Wort.

      »Dürfen Sie uns eigentlich hier festhalten, so ohne Haftbefehl? Wir kennen unsere Rechte.«

      »Mal cool bleiben«, sagte Sabine und stellte zwei Pappteller mit dem Essen und zwei Pappbecher mit Kaffee auf den kleinen Tisch in der Arrestzelle. Hohmann stürzte sich sofort auf das karge Buffet.

      »Jetzt frühstücken Sie erst mal und dann sehen wir weiter. Und um Ihre Frage zu beantworten: Ja, wir dürfen Sie festhalten. Wir haben da draußen ein paar Tote, sie wurden vermutlich ermordet. Sie beide waren vor Ort. Bewaffnet. Sonst noch Fragen?«

      »Ein paar?«, bellte Hohmann und verschluckte sich fast am heißen Kaffee. »Da waren doch nur zwei.«

      Sabine schwieg.

      »Aber Sie glauben doch nicht«, Hohmann wischte sich die mit Kaffee bekleckerte Hand an der Hose ab, »dass wir was damit zu tun haben? Wieso sollten wir …?«

      Sabine unterbrach ihn. »Was ich glaube, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Das wird alles von meiner superschlauen Kollegin aus Lüneburg ermittelt. Und die wird sicher schon bald von den noch viel schlaueren Kollegen vom LKA in Hannover an die Wand gedrückt.«

      »Echt, Sabine, so siehst du das?« Die Stimme hinter ihr gehörte eindeutig Jakob Metzger. Das war seine geheime Superkraft: sich unbemerkt anschleichen und einmischen. »Ich hätte von dir etwas mehr Verständnis für unsere ausgeklügelten Dienstwege erwartet.« Er trat in die Arrestzelle. Er sah besser aus als in der Nacht. Frisch geduscht, rasiert, in Uniform mit gebügeltem Hemd und vermutlich halbwegs nüchtern. Vom ersten Tag an duzte der alte Mann Sabine. Sie sprach ihn nur mit »Herr Metzger« an. Vermutlich hätte es ihm nichts ausgemacht, wenn sie ihn geduzt hätte. Hier auf dem Land war man nicht so förmlich. Aber sie schätzte ein wenig mehr Distanz zu ihren Vorgesetzten.

      Metzger war erst zehn oder fünfzehn Jahre in Gartow. Darum hatte er Sabines Vater Johannes nicht mehr als Vorgesetzten gehabt. Zu dessen Kollegen hatte Sabine als Kind und als Jugendliche immer ein gutes Verhältnis gehabt. Das konnte ganz nützlich sein, wenn man am Wochenende in jugendlichem Irrsinn mit ein paar Freunden vom Scheunenfest im Nachbardorf kommend in eine Alkoholkontrolle geriet. Der Kumpel, der in einer solchen Situation gerade hinter dem Steuer saß, war Sabine auf ewig dankbar, wenn der Beamte im Auto die hübsche Tochter des Gartower Polizeichefs Langkafel erblickte und nur sagte: »Hallo, Sabine, dein Freund lässt den Wagen jetzt genau hier stehen und ihr geht zu Fuß weiter. Ich verlasse mich auf dich.« – »Ist klar, Dirk, danke.« Sie waren eine Familie.

      Jakob Metzger gehörte nicht zu dieser Familie. Er war von einem größeren Revier aus Uelzen oder Celle hierher versetzt worden. Vermutlich wegen seiner Sauferei und ein paar unschönen Vorfällen. Seine Ehe hatte das wohl nicht überlebt. Sabines Papa hatte da mal so was angedeutet. Die Details behielt er für sich, denn er war kein Klatschmaul. Nun wohnte Metzger also seit Jahren in der kleinen Zweizimmerwohnung über der Wache und soff sich der Rente entgegen. Sabine mochte den alten Sturkopf irgendwie, ein enges Verhältnis wollte sie allerdings nicht zu ihm haben. »In zwei, drei Jahren«, hatte ihr Papa gesagt, als Sabine in Gartow anfing, »geht Metzger in Pension, wenn er sich nicht vorher totgesoffen hat, und dann übernimmst du den Laden, Mädchen.« Was für den Polizeiobermeister a. D. Langkafel vielleicht wie eine Karriereverheißung klang, war für Sabine ein Horrorszenario. Bis zur Rente in Gartow? Auf gar keinen Fall.

      Metzger sah den beiden Männern beim Frühstück zu und grinste. »Dafür könnt ihr unserer Sabine danken. Bei mir hätte es keine Vollpension gegeben.«

      »Nicht, dass wir uns da falsch verstehen, Herr Metzger«, sagte Sabine, »ich hab den Beleg vom Bäcker. Die 5,60 nehme ich mir gleich aus der Kasse.«

      Sabine hatte sich gerade mit Hohmann an den Tisch in dem kleinen Raum gesetzt, den sie als Vernehmungszimmer nutzten, als das Chaos über die beschauliche Polizeistation Gartow hereinbrach. Mehrere Fahrzeuge fuhren vor: zwei Streifenwagen, ein Zivil-PKW und ein Transporter. Eine Menge Menschen stiegen aus, drei von ihnen stürmten die Wache. Allen voran Melanie Gierke. Sabine sah ihr an, dass sie seit ihrer letzten Begegnung in der Nacht am Tatort noch keinen Schlaf gefunden hatte – und auch keine Gelegenheit, die Kleidung zu wechseln.

      »So«, sagte die Kommissarin und baute sich vor Metzger auf, der sich ihr in den Weg gestellt hatte, »da wären wir.«

      »Das sehe ich«, sagte Metzger und rührte sich nicht vom Fleck. »Und was heißt das jetzt?«

      »Wir müssen hier unser Hauptquartier aufschlagen. Die Ermittlungen werden sicher einige Zeit in Anspruch nehmen. Das machen wir nicht von Lüneburg aus. Im Laufe des Tages kommen auch noch Kollegen vom LKA, vermute ich.« Sie blickte sich in dem Raum um, dessen Einrichtung aus drei Schreibtischen und einem Tresen bestand. Außerdem gab es den Vernehmungsraum, die Arrestzelle mit zwei Pritschen und eine Kaffeeküche mit Kühlschrank. »Also, wo können wir uns ausbreiten?«

      Metzger lachte. »Ausbreiten? Ich hör wohl nicht richtig. Sie sehen ja selbst, es ist gerade mal Platz für drei Leute. Und wie viele sind Sie?«

      »Acht«, sagte Gierke, »vielleicht auch mal mehr. Da muss sich doch eine Lösung finden lassen.« Metzger schüttelte den Kopf. Sabine hätte gerne die Tür zum Vernehmungsraum geschlossen, um Ruhe zu haben, aber es gab keine.

      »Die Garage«, sagte Attila, der die ganze Zeit von der Kaffeeküche aus die Ereignisse verfolgt hatte. Alle Anwesenden sahen ihn verblüfft an. »Na, da stehen zwei Streifenwagen drin, die können auch auf der Straße parken. Einer ist sowieso kaputt. Wir leihen uns irgendwo Tische und Stühle. Fertig.« Der Junge grinste siegesgewiss. Metzger nickte zustimmend.

      »Prima Idee«, sagte nun auch die Gierke. »Ist echt nett von Ihnen, wenn Sie uns für ein paar Tage das Feld überlassen. Danke.«

      »Was?«, rief Metzger laut aus und klatschte lachend in die Hände, die Gierke zuckte kaum merklich zusammen. »Das haben Sie falsch verstanden, liebe Kollegin. Sie und Ihre Supertruppe gehen in die Garage. Wir bleiben, wo wir sind. Wenn die Ermittlungen sowieso nur ein paar Tage dauern, wird das ja kein Problem sein, und die meiste Zeit werden Sie ja am Tatort verbringen, nehme ich an.«

      »Ja und Telefon, Internet? Das brauchen wir ja auch.«

      »Kann ich Ihnen mit Kabeln in die Garage legen«, beeilte sich Attila zu sagen. »Kein Ding.«

      Man