Klaas Kroon

Mord im Wendland


Скачать книгу

genug Leute mit Kindern, achtete aber nicht auf solche Details. Viel drängender war die Frage: War das Kind noch im Haus? Das Kind der beiden Toten?

      Sabine stieg vorsichtig über die Leichen. Kein Blut auf der Treppe. Sie sind also nicht nach den Schüssen aus dem ersten Stock hinuntergefallen. Die Stufen knarzten. Stickige Wärme, vom Blutgeruch geschwängert, stieg nach oben. Mit dem schmalen Strahl der Taschenlampe tastete Sabine den oberen Flur ab. Viele Türen, sechs oder acht. Bis auf eine waren alle geschlossen. Auf dem Boden lagen zerschlissene Webteppiche. An den Wänden hingen alte kitschige Poster mit offenbar indischen Göttern und wieder ein Bild von diesem Guru.

      Sabine ging langsam zu der offen stehenden Tür und blickte in den Raum. Ein Kinderzimmer. Ein Kinderbett, ein kleiner Schreibtisch, ein Regal mit wenigen abgenutzten Spielsachen. In einem Pappkarton lag ein Haufen Wäsche. Kinderkleidung. Hosen, T-Shirts, Unterwäsche. Die Sachen waren verschlissen, hatten teilweise Löcher, waren aber offenbar gewaschen. An eine Wand hatte das Kind etwas geschrieben. Schriftzeichen, die an Buchstaben erinnerten, aber keine waren. Jedenfalls keine, die Sabine irgendwie bekannt vorkamen. Im Regal standen ein paar Bücher. Ein Bilderbuch mit Grimms Märchen. Ein Buch über einen Bauernhof. Eine vergilbte Ausgabe von »Der kleine Prinz«, eine Kinderbibel. Sabine hatte bei ihren Bekannten Kinderzimmer gesehen, die Spielwarengeschäften ähnelten, da hatten Achtjährige schon Laptops. Das Kind in diesem Haus besaß kaum das Nötigste. Aber wo war es? Sabine gab sich einen Ruck. Sie musste sich beeilen. Wenn dieses Kind sich irgendwo versteckt hatte, dann zählte jede Minute.

      Sie öffnete die nächsten Türen, blickte in unordentliche, muffige Schlafzimmer. Wie viele Menschen lebten in diesem Haus? Mehr als die zwei im Flur waren es sicher. Mit etwas Zeit und System würde man deren Anzahl anhand der vielen Dinge hier sicher herausfinden.

      In mehreren Räumen versuchte Sabine, das Licht einzuschalten, doch es blieb dunkel. Es gab keinen Strom. In den Zimmern, die sie hektisch durchkämmte, waren viele Betten. Kleidung lag auf dem Boden oder war unordentlich in offene Regale gestopft.

      Wo waren die Bewohner des Hauses? So staubig, wie es in dessen Innern war, konnten sie auch schon länger weg sein. Sabine zählte mindestens acht Schlafplätze.

      Sie öffnete Schränke, schaute unter Betten, hinter einen schimmligen Duschvorhang vor einer freistehenden Badewanne in einem heruntergekommenen Badezimmer. Ein Raum schien als eine Art Arbeitszimmer zu dienen. Auf einem einfachen Schreibtisch standen eine Tastatur und ein Flachbildschirm, der sicher bereits einige Jahre auf dem Buckel hatte. Der dazugehörige Computer oder ein Laptop waren nicht zu entdecken. Es gab auch keine Ordner mit Dokumenten, wie man sie sonst an solchen Plätzen hat. Auf einem kleinen Regal befand sich ein Fernsehgerät, sicher über 20 Jahre alt, daneben ein Videorekorder. Im Fach darunter stapelten sich vielleicht 50 CDs oder DVDs. Sogar ein paar Videokassetten im VHS-Format, wie Sabine sie aus ihrer Kindheit kannte, lagen im Regal. Sabine hätte sich diese Dinge gerne genauer angesehen, doch zuerst musste sie suchen. Was auch immer. Vielleicht ein Kind.

      Der Keller. Dieses Haus hatte doch sicher einen Keller, vermutlich als Kühlkammer genutzt. Sabine stürmte die Treppe hinunter. Sie war wie besessen von dem Gedanken, hier noch eine lebende Seele zu finden. Am Ende des Flures im Erdgeschoss entdeckte sie, was sie suchte. Eine in den Boden eingelassene Klappe aus massivem Holz. Sie versuchte, die Klappe anzuheben, doch sie war mit einem Stahlbeschlag und einem Vorhängeschloss an der Wand versperrt. Sabine zögerte nicht lange, setzte die Pistole an und schoss. Es gab einen infernalischen Knall und das Schloss war gesprengt. Brocken von Putz und Holzsplitter verteilten sich auf dem Flurboden.

      Die Klappe war schwer, und Sabine hatte Mühe, sie zu öffnen. Kalte, feuchte Luft wehte ihr entgegen. Es roch faulig, der typische Geruch alter Keller. Vorsichtig stieg Sabine die steile Treppe, eigentlich eher eine Leiter, hinunter. Wie erwartet erschien der Keller kleiner als das gesamte Haus. Der Gang endete nach wenigen Metern. Drei Türen befanden sich hier und eine frei zugängliche Öffnung. Darin war eine alte Ölheizungsanlage mit einem Tank untergebracht. Sie wirkte trocken und verstaubt. Es roch auch nicht nach Öl. Vermutlich war die Zentralheizung seit Langem kaputt. Das erklärte auch den Stapel mit Brennholz an der Wand. Hinter zwei der Türen fand Sabine Vorräte. Eingekochtes Obst und Gemüse, eine Kartoffelkiste mit wenigen ausgekeimten Kartoffeln, verstaubte Weinflaschen. In einem Regal waren Konservendosen aufgereiht. Sie waren nicht so verstaubt. Tomaten, Sauerkraut, rote Bohnen, grüne Bohnen und vieles mehr. Sechs Flaschen mit Speiseöl. Im Regal daneben stapelten sich gut 20 Papppackungen mit verschiedenen Nudeln. Außerdem große Plastikbeutel mit Reis. Mindestens zehn Stück mit je fünf Kilo Inhalt. Ein Sack mit getrockneten Kichererbsen, einer mit Linsen. Verhungern würde auf diesem Hof so schnell niemand, dachte Sabine.

      Die letzte der Türen war aus Stahl und sicher lange nach der Errichtung des Bauernhauses eingebaut worden. Sie war mit einem dicken Riegel verschlossen, der ebenfalls mit einem Vorhängeschloss versperrt war. Wenn sich ein Kind, oder wer auch immer, in diesem Haus versteckte, dann sicher nicht dahinter. Es sei denn, der Mensch ist eingesperrt worden.

      Sabine wollte dieses Geheimnis lüften, bevor die Kollegen eintrafen. Was war es, was sie da trieb? Der Minderwertigkeitskomplex einer Dorfpolizistin? Wollte sie mit am großen Rad drehen, obwohl das in ihrem Dienstplan nicht vorgesehen war? Ja. Vermutlich. Die Kollegen von der Polizeidirektion Lüneburg würden meckern, mehr aber auch nicht.

      Hier im Keller war der Schuss noch lauter, und es klingelte Sabine in den Ohren. So hörte sie die Geräusche vor dem Haus erst spät. Motoren, Stimmen, Schritte. Der Lärm eines Hubschraubers, der über den Hof flog. Jemand polterte die Treppe hinunter.

      Sabine blickte in die Mündung einer Maschinenpistole, die ein vermummter und behelmter Beamter ihr entgegenstreckte. Zwei weitere Männer im gleichen Outfit drängten sich hinter ihm. Als der SEK-Mann realisiert hatte, dass er es mit einer uniformierten Kollegin zu tun hatte, senkte er die Waffe.

      »Was zum Teufel machen Sie hier?«, rief der Beamte wütend. Seine Stimme klang dumpf durch die Maske. »Ich hätte beinahe geschossen.«

      »Haben Sie aber nicht, weil Sie ein erfahrener und besonnener Beamter sind. Danke dafür«, sagte Sabine und lächelte. »Ich bin Polizeiobermeisterin Sabine Langkafel von der Polizeistation in Gartow. Ich habe die beiden gefunden.«

      »Welche beiden meinen Sie?«, fragte der Mann, der seine Sturmhaube nun so weit heruntergezogen hatte, dass Sabine sein junges, freundliches Gesicht erkennen konnte. »Die oben im Flur oder die in Ihrem Streifenwagen?«

      »Genau genommen alle vier. Ist ne lange Geschichte. Ich sehe mich hier gerade um und in diesem Raum war ich noch nicht.«

      »Was glauben Sie denn, dort zu finden?«, rief eine Frauenstimme von der Kellertreppe. Eine Frau um die 40 in Zivil stieg die Stufen hinunter und zwängte sich an den SEK-Beamten vorbei. Es war Melanie Gierke von der bei Verbrechen dieser Größenordnung zuständigen Polizeidirektion in Lüneburg. Eine legendäre Polizistin. Jeder kannte sie. Sabine hatte in ihrer Lüneburger Zeit nie mit Morden zu tun gehabt, deshalb war sie ihr nur einmal eher zufällig begegnet. Die Gierke erinnerte sich bestimmt nicht an Sabine. EmGe, wie sie hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, eilte der Ruf voraus, genial, effizient und verdammt unfreundlich zu sein.

      »Äh, guten Abend, Frau Gierke«, stammelte Sabine, die sich augenblicklich fühlte wie eine Schülerin, die unerlaubt den Pausenhof verlassen hatte. »Es deutet einiges darauf hin, dass ein Kind in diesem Haus lebt. Vielleicht versteckt es sich irgendwo.«

      »Hinter Türen, die man aufschießen muss?«, fragte EmGe und lachte höhnisch. Sie war so groß wie Sabine, etwas fülliger und hatte sehr kurze wasserstoffblonde Haare. Sie war ungeschminkt. Bekleidet war die Gierke mit einem blaukarierten Flanellhemd, das nur am Bauch in der Hose steckte, und einer hellblauen Jeans. »Na, dann lassen Sie uns mal gucken, ob das Kind da drin ist«, sagte Melanie Gierke.

      Sabine entfernte das zerschossene Schloss und schob den schweren Eisenriegel nach oben. Die Stahltür ging nach außen auf, sodass alle ein paar Schritte zurücktreten mussten. Dann leuchtete Sabine in den Raum.

      »Ach du Scheiße«, entfuhr es Sabine und EmGe nach einigen Sekunden gleichzeitig.

      Kapitel 6