nicht besonders gerne, aber er musste es essen, sonst wurde Udgam böse und sperrte Sahas ein.
Sahas war immer hinter dem Hund hergelaufen. Der Hund war schnell und der Junge konnte ihm in seinen Hausschuhen kaum folgen. Irgendwann hielt der Hund an und legte sich auf den Boden. Sahas tat es ihm nach. Es war nun kälter geworden und Sahas fror. Wie gerne wäre er jetzt in seinem Bett. Der Wald machte Geräusche, ganz leise, ungewohnte Geräusche. Manchmal huschte etwas über das trockene Laub. Irgendein Tier lief einen Baumstamm hoch. Es war alles fremd für Sahas, aber er hatte keine Angst. Sein Name bedeutete Mut, hatte Kamini ihm erklärt. Und darum war er besonders mutig.
Doch Sahas kannte auch Angst. Im dunklen Keller, wenn er mal wieder allein oder mit den anderen eingesperrt war. Er hatte Angst vor Udgams Wut und vor seinen Schlägen. Natürlich fürchtete er sich vor Om, der aber auch ihr aller Beschützer war. Und Sahas hatte Angst vor Fremden. Nie, nie im Leben würde er mit einem Fremden sprechen oder gar mit einem mitgehen, das hatten Kamini und Garima ihm eingeschärft. Er hatte auch Angst vor der Welt hinter dem Wald. Aber hier im Wald hatte er keine Angst.
Der Hund sah ihn an. Und plötzlich kam Sahas der Gedanke, dass dieses graue Tier dort gar kein Hund war. Es war ein Wolf. Kamini hatte ihm Geschichten mit Wölfen vorgelesen und ihm erklärt, dass Wölfe nicht wie Hunde bei Menschen leben, sondern alleine oder mit anderen Wölfen zusammen im Wald. Die Wölfe auf den Bildern zu den Geschichten waren schwarz und groß, und in den Geschichten waren sie böse. Sie fraßen Menschen. In einer Geschichte hatte ein Wolf eine ganze Frau verschluckt, ohne zu kauen. Hinterher, als der Wolf aufgeschnitten wurde, lebte die Frau noch. Sahas hielt das für Blödsinn und Kamini sagte, dass das ja nur eine Geschichte sei und da müsse nicht alles stimmen.
Aber vielleicht stimmte es ja, dass Wölfe Menschen fressen. Jetzt bekam Sahas doch schreckliche Angst. Würde dieser Wolf ihn fressen? Oder waren graue Wölfe nicht so gefährlich wie schwarze?
»Hey, Wolf«, rief er leise, »bist du mein Freund?« Der Wolf spitzte die Ohren und sah Sahas neugierig an. Er stand auf und es machte den Eindruck, als wolle er näher kommen, aber dann legte er sich wieder hin.
»Hab keine Angst, Wolf. Ich bin Sahas, ich bin dein Freund.« Doch der Wolf schien ihn nicht zu verstehen. Er legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten und schloss die Augen. Der Wolf ist müde, dachte Sahas, genau wie ich. Der Boden war weich, bald schlief der Junge ein, wobei er noch ein paarmal zuckte. Später, im Schlaf, vielleicht nur im Traum, spürte Sahas etwas Warmes, Weiches neben sich. Und in seiner Hand warme, feuchte Luft.
Sahas erwachte von schrecklichem Lärm. Sirenen, wie er sie aus den Filmen kannte, die Om ihm manchmal mitbrachte, tönten in der Ferne. War das ein Traum? Er hob den Kopf. Nein. Die Geräusche waren echt. Und auch der Wolf, der dicht neben ihm lag, war echt. Der Wolf hatte verstanden, dass Sahas sein Freund war. Auch der Wolf hatte den Kopf angehoben. Nun hörten sie direkt über sich einen fürchterlichen Lärm. Irgendetwas dröhnte am Himmel über den Bäumen. Lichtstreifen, wie von einer riesigen Taschenlampe, leuchteten von oben durch die Bäume auf den Boden. Der Lärm entfernte sich, die Lichtstreifen mit ihm.
Der Wolf sprang auf und lief los. Sahas folgte ihm.
Kapitel 5
Sabine hatte in der Leitstelle in Lüneburg richtig Druck gemacht und die Kollegen hatten verstanden, dass es nicht um Viehdiebstahl ging. Sie würden sich beeilen, aber sicher eine Dreiviertelstunde brauchen. Da Sabine in dieser Einöde keinen Handyempfang hatte, bat sie die Kollegen in der Leitstelle, zu versuchen, Jakob Metzger zu erreichen und auch den Anwärter Attila Yilmaz, der ein paar Wochen in Gartow Dienst schob und für diese Zeit in Gorleben bei einer Bekannten Metzgers ein Zimmer bewohnte. Sabine versprach sich allerdings nicht viel von diesem Hilferuf, denn Metzger lag sicher wie üblich im Koma und würde sein Telefon nicht hören und Attila hatte kein Auto.
Natürlich wäre es vernünftiger gewesen, im Streifenwagen auf das Einsatzkommando zu warten, aber Vernunft gehörte nicht unbedingt zu Sabines Kernkompetenzen. Musste sie damit rechnen, dass der Mörder, so es sich überhaupt um Mord handelte, noch im Haus war? Ziemlich unwahrscheinlich. Sollte er da gewesen sein, als die beiden Deppen hier vor einer Stunde herumliefen, so war er inzwischen sicher über alle Berge. Sie hatte Fragen an Koslowski und Hohmann. Hatte ein Fahrzeug auf dem Hof gestanden, das jetzt nicht mehr da war? Hatte sich in der Zwischenzeit sonst etwas verändert? War ein Schuppen geschlossen, der vorher offen war? Solche Sachen. Auch hätte sie fragen können, ob die Haustür vielleicht weiter oder weniger weit geöffnet gewesen war, als die beiden sich aus dem Staub gemacht hatten. Aber dafür hätte sie zurück zum Auto gemusst. Nun stand sie schon in dem dunklen Hausflur und bewegte sich langsam vorwärts.
Der Flur sah aus wie die meisten Flure in diesen Häusern. Lang, dunkel. Holzvertäfelung. Alte Möbel, alte Fliesen. Was fehlte, waren die üblichen Jagdtrophäen, Landschaftsbilder und frommen, gestickten Sprüche. Stattdessen hingen hier bunte Bilder mit indischen Motiven. Ein großes, gerahmtes Bild von einem alten Mann mit weißem Rauschebart. War das nicht dieser Guru, über den Sabine neulich mal eine Doku gesehen hatte?
Direkt neben den Leichen blieb Sabine stehen. Es waren nicht die ersten Toten, die sie sah, was nicht bedeutete, dass sie nicht schockiert war. Ein bärtiger Mann um die 40. Er hatte den Mund halb geöffnet. Sabine leuchtete ihm ins Gesicht. Der Mundraum war völlig zerstört, blutig. Ihr fiel eine Pistole in seiner rechten Hand auf, die halb von seinem Körper verdeckt wurde. Der hat sich selbst in den Mund geschossen, dachte Sabine. Und die Frau neben ihm, nur mit einem Schlafanzug bekleidet, hatte er vermutlich vorher getötet. In ihrem Hinterkopf klaffte ein blutverklebtes Einschussloch. Sie lag merkwürdig verrenkt auf dem Bauch, sodass Sabine ihr Gesicht nicht sehen und ihr Alter nicht schätzen konnte. Natürlich durfte sie die Leiche nicht umdrehen. Die Mordkommission aus Lüneburg würde sie sonst lynchen. Die Frau hatte brünette Haare, von grauen Strähnen durchzogen.
Erweiterter Selbstmord. Das würden die Ermittlungen der Scharen von Spezialisten, die hier jeden Moment eintreffen mussten, sicher schnell bestätigen. Dann musste nur noch die Identität der Toten festgestellt werden und die Sache wäre erledigt.
Sabine hätte gerne Papa angerufen, um ihn zu fragen, wer auf diesem Hof lebte. Aber es war inzwischen 1 Uhr. Da schlief der alte Mann längst. Außerdem hatte sie in dieser Gegend ja keinen Handyempfang. Es gab sicher Dokumente im Haus, mit denen sich die Identität der Toten klären ließe, doch danach durfte sie ohne Erlaubnis nicht suchen.
Direkt hinter den Toten führte eine alte, steile Holztreppe ins Obergeschoss. War die Frau von oben gekommen und dann von dem Mann erschossen worden? Nein. Er hatte sie von hinten erschossen. Also wollte sie die Treppe hinaufgehen. Vermutlich hatte sie zuvor schon im Bett gelegen oder war auf dem Weg dorthin gewesen, dafür sprach der Schlafanzug. Wann war das? Die Blutlache war fast vollständig getrocknet. Das dauerte bei der Hitze sicher nicht so lange, Sabine hatte damit keine Erfahrung. Der Mann, in Unterhose und T-Shirt, wollte auch ins Bett. Oder kam er von dort?
Die Schlafzimmer befinden sich sicher im Obergeschoss. Wer schlafen geht, zieht sich doch im Schlafzimmer um, geht ins Bad und dann ins Bett. Aber nicht mehr nach unten. Oder lag das Bad im Erdgeschoss? Sabine suchte mit der Taschenlampe die Türen ab. Die Küchentür war leicht zu erkennen, sie hatte ein Fenster. Im Raum dahinter brannte ein schwaches Licht. Eine Kerze? Eine andere Tür führte vermutlich ins Wohnzimmer, in die gute Stube. Weiter hinten, hinter der Treppe, erkannte Sabine noch zwei Türen. Möglich, dass sich dort ein Badezimmer befand.
Rechts neben der Treppe war eine Garderobe. Mäntel und Jacken hingen daran. Alte Sachen, nichts besonders Wertvolles oder Schönes. Eine Wetterjacke von Jack Wolfskin, ein dicker Filzmantel, wie Jäger ihn früher trugen. Unter der Garderobe standen Schuhe. Wanderschuhe, alt und abgelaufen. Größe 45, schätzte Sabine. Sie konnten dem toten Mann gehört haben. Außerdem ein Paar hässliche, grobe Wandersandalen, eher einer Frau zuzuordnen. Größe 38 etwa. In ähnlicher Größe Gummistiefel und daneben, Sabine richtete die Taschenlampe darauf, noch zwei weitere Gummistiefel. Bunt, in Regenbogenfarben und schätzungsweise Größe 32. Wie alt war ein Kind, das diese Größe trug? Sabine hatte keine Ahnung. Die Stiefel waren schmutzig und abgenutzt. Entweder das Kind trug sie jeden Tag oder die Schuhe wurden durch die Familie gereicht, wie das so üblich