an.
»Nein, meine Liebe«, sagte Sabine betont kräftig. Man hatte ihr in der Ausbildung gesagt, dass sie dazu neige, mit Kleinmädchenstimme zu sprechen, besonders bei Leuten, die ihr sympathisch wären. Das schränke die Autorität ein, hatte es geheißen.
»Das ist ein Gerücht. Sie dürfen Ihre Mitmenschen nicht belästigen. Nie.« Und an Emil gewandt sagte sie: »Ich nehme an, das ist das Haus Ihrer Eltern.«
Emil nickte.
»Und sind die da oder kommen die demnächst?«
»Nee«, sagte Emil und grinste wieder frech, »die sind in Thailand.«
Sabine war einigermaßen verwundert darüber, dass die Party trotz eines Streifenwagens vor der Tür und einer Polizistin im Garten mit unverminderter Heftigkeit weiterging. Hatten diese Rich Kids keinerlei Respekt vor der Polizei? Es lag ihr nicht, den harten Bullen rauszukehren, aber sie durfte sich auch nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Wie würde es ablaufen, wenn ihr Chef Metzger hier erschiene? Er war fast doppelt so alt wie sie, dick, hatte eine brutale Visage, wenn er wollte, obwohl er eigentlich ein eher weicher Kerl war. Würden diese kleinen Angeber vor Jakob strammstehen?
Hatte Sabines Vater recht, der mal gesagt hatte, dass sie für eine Polizistin viel zu attraktiv sei, da die bösen Buben eine schöne Frau nicht ernst nahmen? Und zu jung für einen solchen Einsatz war sie vermutlich ebenfalls. Sie war ja nur wenige Jahre älter als die Feiernden.
Egal. Sie hatte das Recht auf ihrer Seite, und das musste durchgesetzt werden.
»Okay«, sagte sie und sah Emil, wie sie hoffte, entschlossen an, »wir können das nun auf zwei Arten machen. Entweder Sie schalten sofort die Musik aus und verziehen sich mit Ihren Gästen ins Haus, oder ich rufe ein paar Kollegen hinzu, wir stellen Ihnen den Strom ab und schauen mal, was wir hier sonst noch so finden. Vielleicht reicht es ja für mehr Ärger als nur wegen Ruhestörung.«
»Ups«, rutschte der jungen Frau raus und auch Emil schaute überrascht.
»Okay, okay«, sagte er und wedelte beschwichtigend mit den Händen. »Wir sind jetzt leise, versprochen.«
Er nahm sein Handy aus der Hosentasche, rief eine App auf und berührte ein Symbol. Augenblicklich wurde es still. Einige Partygäste jammerten, maulten herum. Doch Emil gelang es, sie alle ins Haus zu scheuchen.
»Übrigens«, sagte Sabine, als sie sich von Emil begleitet auf den Weg zu ihrem Streifenwagen machte, »wenn Ihre besonders gut gelaunten Gäste heute noch Auto fahren wollen, sollten sie wissen, dass wir an der nächsten Ecke auf sie warten.«
»Ja, ist klar«, sagte Emil, »ich passe auf. Und Frau …«, er fixierte das Namensschild auf Sabines Uniformhemd, »Langkafel, ich würde mich freuen, wenn Sie zu meiner nächsten Party ganz privat kämen.« Er sah sie mit einem Hundeblick an, mit dem er bei Mädchen seines Alters sicher erfolgreich war.
»Übernimm dich nicht, Kleiner«, sagte Sabine und stieg in den Wagen.
Sie war mit sich zufrieden. Emil hatte verstanden und würde es für diese Nacht gut sein lassen. Die Bürgerkinder waren eben doch nur in gewissen Grenzen rebellisch. Sicher studierte der Junge in Hamburg oder Berlin irgendetwas Bedeutsames und würde es selbst mal zu einem hübschen Häuschen bringen. Bis dahin nutzte er die sturmfreie Bude, um etwas über die Stränge zu schlagen. Das war kein Kapitalverbrechen. Und für ein paar Gramm Gras würde Sabine kein SEK aus Lüneburg anfordern. Das Zeug hatten die doch längst im Klo runtergespült.
Ein halbes Jahr war Sabine nun auf ihrem Posten im Polizeirevier der Samtgemeinde Gartow, hinter dem großen Wald, am östlichen Rand des Landkreises Lüchow-Dannenberg. Sie hatte bei der Polizeidirektion in Lüneburg um die Versetzung in das 4.000-Seelen-Dorf im Wendland gebeten. »Du wirst dich zu Tode langweilen«, hatten die Kollegen sie gewarnt, und ihr Vorgesetzter hatte nach zwei Gläsern Sekt bei ihrer Abschiedsfeier auf sie eingeredet, dass sie ein großes kriminalistisches Talent sei, das er am Arsch der Welt nicht fördern könne.
Aber ihre Entscheidung war gut abgewogen und unumstößlich gewesen. Sie wollte bei ihrem Vater sein, dem einzigen Menschen auf der Welt, den sie nach dem zu frühen Tod ihrer Mutter vor drei Jahren noch hatte. Johannes Langkafel war im letzten Jahr 80 geworden. Sabine war seit frühester Kindheit daran gewöhnt, dass fremde Leute ihn für ihren Großvater hielten. Papa war auch Polizist gewesen. Er hatte in Sabine die Leidenschaft für diesen Beruf geweckt, Sabine wollte nie etwas anderes sein. Schon in der Grundschule, wo sie von zukünftigen Prinzessinnen und Filmstars umgeben war, beharrte sie auf dieser Wahl.
In der ersten Zeit nach Mamas Tod war Sabine alle paar Tage von Lüneburg aus zu Papa gefahren. Je nach Verkehr dauerte die Fahrt eineinhalb Stunden. Aber mit der Zeit wurde Papa immer tüdeliger. Weniger im Kopf, da war er nach wie vor ziemlich fit, eher in seinen Bewegungen. Mehrmals war er gefallen, einmal hatte er danach zwei Stunden im Haus gelegen, bis ihn jemand gefunden hatte. Das wollte Sabine nicht noch mal zulassen. Ein Umzug kam für Vater, der das kleine Häuschen in Gartow zusammen mit Kollegen fast vollständig selbst gebaut hatte, nicht infrage. Mein Vater wird nicht ewig leben, hatte sie zu ihrem Chef in Lüneburg gesagt. Karriere kann ich auch mit 35 oder 40 noch machen.
Sabine steuerte den blau-weißen Polizei-Passat aus Trebel hinaus auf die Bundesstraße Richtung Gartow. Sie war gut drauf. Zu Hause noch ein Bier mit Papa, der war um diese Zeit meistens noch wach. Morgen war Samstag, da hatte sie frei.
Es war nichts los auf der Bundesstraße, allerdings musste man um diese Jahreszeit immer mit Wild rechnen. Wildschweine, Rehe, der Wald war voller Gefahren für den Straßenverkehr. Im Radio lief ein Song von Billie Eilish, Sabine drehte lauter.
Plötzlich wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Da vorne, am Straßenrand, da war etwas. Sabine verringerte das Tempo und stellte das Radio aus. Es konnte passieren, dass eine Rotte Wildschweine erst unentschlossen im Graben kauerte, um genau in dem Moment loszurennen, wenn das Auto kam. Warum auch immer sie das taten, aber es waren eben nur Schweine.
Die beiden dunklen Gestalten, die da im Lichtkegel über den breiten Radweg tippelten, waren jedoch keine Wildschweine. Es waren zwei Männer. Sie trugen T-Shirts und kurze Hosen, der eine außerdem eine Weste mit Taschen. Nun winkte er. Sabine hielt den Wagen an.
Zwei Männer, mitten in der Nacht, weit weg vom nächsten Dorf, bewaffnet. Das hatte in diesem friedlichen Winkel der Welt nicht unbedingt Gefahr zu bedeuten, Vorsicht war trotzdem geboten. Mit einem Griff an den Gürtel versicherte sich Sabine, dass sie ihre Dienstwaffe dabeihatte. Dann fuhr sie das Beifahrerfenster ein Stück herunter.
»’n Abend die Herren«, sagte sie freundlich, »warum so spät in der Wildnis unterwegs? Gibt’s ein Problem?«
Einer der Männer beugte sich zu ihr herunter und sah durchs Fenster. Er war Anfang 50, fast kahlköpfig und glattrasiert. Sie hatte ihn noch nie gesehen, obwohl sie in Gartow und Umgebung fast jeden kannte. Sie war hier aufgewachsen und mit 14 aufs Internat nach Schleswig-Holstein gekommen. Der Fremde lächelte und entblößte ein lückenhaftes Gebiss. »Ja, danke, dass Sie anhalten. Wir haben uns verlaufen.«
»Verlaufen? Hier?«, sie lachte. »Das ist nicht leicht. Waren Sie auf der Jagd? Schwarzwild?«
»Ja, genau«, sagte der Mann, und Sabine wusste, wenn sie ihn nach einer Jagderlaubnis fragen würde, wäre er geliefert. Oder sie, denn noch hatte er die Waffe an der Schulter baumeln.
»Und was kann ich für Sie tun?«, fragte Sabine.
»Vielleicht können Sie uns in den nächsten Ort mitnehmen, das wäre wirklich nett.« Der andere Mann stand dicht hinter seinem Kollegen und trat unruhig von einem Bein aufs andere. Er schien ungewöhnlich nervös.
»Ist die Flinte geladen?«, fragte Sabine.
»Ja, äh«, stammelte der Kerl.
»Dann entladen Sie sie bitte«, sagte Sabine und legte zu ihrer eigenen Beruhigung die Hand auf ihre Pistole. Der Mann knickte den Lauf ab und nahm zwei Schrotpatronen aus den Läufen.
»Eine haben Sie abgefeuert, wie ich sehe«, sagte Sabine. »Und? Getroffen?«