und deshalb war es besser, die Wahrheit etwas zu bearbeiten.
»Wie ist dieser Bauer überhaupt auf dich gekommen, Olaf?«, fragte Kiste. »Kennste den? Ist doch gar nicht unsere Gegend.«
»Nee. Ich kenne einen von seinen Arbeitern – oder besser Sklaven. Siggi heißt der. Mit dem war ich im Schützenverein. Der ist aber auch ziemlich parterre inzwischen. Der hat mich wohl empfohlen.«
»Und warum macht der Siggi den Job nicht selbst, wenn er so parterre ist?«
»Was weiß ich, Kiste. Weil er zu alt und zu blind dafür ist, weil er Schiss hat. Mir egal.«
Kiste konnte nie lange die Klappe halten. Schon stellte er die nächste blöde Frage. »Und woher weißt du, wo wir suchen müssen? Ich mein, der schlägt ja nicht irgendwo ein Zelt auf und wartet auf uns«, sagte er, während er zu schnell durch eine langgestreckte Kurve auf der Dannenberger Straße Richtung Gorleben fuhr. Der alte Wagen schlingerte beunruhigend. Es war nun fast dunkel.
»Der Bauer hat ihn da gestern Abend rumschleichen sehen, und wenn er heute ein paar Schafe auf seine Weide stellt, dann taucht der Mistkerl wieder auf. Garantiert.«
Karsten schwieg einen Moment und starrte auf die Straße. Er schien nachzudenken. Olaf war sicher, dass er selbst der Intelligentere von ihnen beiden war, doch er vermied es, Kiste das spüren zu lassen.
»Sind ja eigentlich ganz tolle Tiere, oder?«, sagte Kiste versonnen.
»Hä? Alles klar bei dir? Jetzt werd bloß nicht gefühlsduselig. Wir machen das Monster platt. Wir sind nicht im Auftrag von Greenpeace unterwegs.«
»Ja, ja. Keine Sorge. Aber wieso ist der überhaupt alleine? Sind die nicht sonst im Rudel unterwegs?«
»Das ist so ein Einzelgänger. Ein alter Hund. Der macht besonders viel kaputt, wenn er die Gelegenheit dazu hat.«
»Aha, hast du ne Doku gesehen, oder was?«, fragte Kiste und grinste.
»Nee. Hat der Bauer mir erzählt.«
»Und was ist, wenn das Monster auf uns losgeht? Ich mein, wenn der so ein Lonesome Cowboy ist …«
»Mensch, Kiste, kriegste Schiss, oder was?«
»Nee, Quatsch. Wenn der böse Wolf kommt, dann machst du ihn doch mit einem Schuss aus deinem Henrystutzen sofort platt, oder, Old Shatterhand?«, Kiste lachte sich kaputt über seinen eigenen blöden Witz. Fast hätte er den Abzweig verpasst, den Olaf mit einem Fingerzeig angekündigt hatte.
Nun fuhren sie langsam über eine schmale, asphaltierte Straße tiefer in den Wald hinein. Olaf suchte auf seinem Smartphone nach der Stelle, die der Bauer ihm genannt hatte. Bis auf das unrunde Motorgeräusch des Golfs war es totenstill. Keine Menschen, keine Autos, das Ende der Welt.
»Hier halten wir, Kiste. Fahr da rechts in den kleinen Waldweg rein«, kommandierte Olaf und Kiste gehorchte. Er stellte den Motor ab und sie stiegen aus. Olaf nahm das Gewehr aus dem Kofferraum und zog es aus dem Futteral. Er ließ die Hülle im Auto liegen und knickte den Doppellauf der Flinte ab, um sich zu vergewissern, ob wirklich zwei Schrotpatronen in den Läufen steckten.
Kiste musterte den geparkten Wagen. »Der kann doch so nicht stehen bleiben. Wenn den jemand sieht und sich das Nummernschild notiert, dann …«
»Was willste denn machen? Ne Tiefgarage ist hier nicht, Kiste.«
»Ich versteck den da hinter dem Stapel«, sagte Kiste und sprang ins Fahrzeug. Umständlich kurvte er hinter den verwitterten Holzstapel, den sein Besitzer sicher längst vergessen hatte, und bohrte den Golf regelrecht in das Gebüsch. Die paar Kratzer mehr würden neben den vielen anderen nicht auffallen.
Kiste ging einige Schritte und betrachtete aus der Entfernung sein Versteck. »Genial ist das, Olaf, wie weggezaubert, die Karre.«
»Ja, Kiste, bist Siegfried und Roy in einer Person.«
»Und jetzt?«, fragte Kiste voller Tatendrang.
»Jetzt gehen wir in diese Richtung in den Wald rein. Auf der anderen Seite, ungefähr 800 Meter von hier, ist die Weide von dem Bauern, wo er hoffentlich seine stinkenden Heidschnucken platziert hat. So wie der Wind im Moment steht, wird der Wolf die Schafe wittern, aber nicht uns, weil wir aus der anderen Richtung kommen. Verstehste?«
»800 Meter?«, bellte Kiste. »Wird das ne verfickte Nachtwanderung, oder was?« Kiste wollte sich schon wieder eine Zigarette anzünden, doch ein kritischer Blick von Olaf reichte, um ihn zu stoppen.
»Wir gehen jetzt da rein«, sagte Olaf ernst und deutete auf die dunkelgrüne Wand aus Fichten, die sich vor ihnen aufbaute. »Und wir halten die Fresse, kein Wort. Wir sind auf der Jagd, kapiert?«
Kiste nickte.
Leicht gebückt schlichen sie in den Wald. Olaf hatte das Gewehr so über der Schulter hängen, dass er es sofort in Anschlag bringen konnte.
Es war stockfinster. Kein Mond, keine Sterne. Zwischen den dichten Bäumen hätte Licht auch kaum eine Chance gehabt. Natürlich hatten sie Taschenlampen dabei, aber da hätten sie ja gleich laut herumbrüllen können. Olaf hatte einen Kompass mit Leuchtzeigern in der Hand und folgte stur der eingeschlagenen Richtung. Immer wieder stolperten sie über Wurzeln, traten in tiefe Furchen. Sie mussten um Haufen abgestorbener Äste herumgehen. Äste bohrten sich in ihre Beine. Sie kamen recht langsam voran. Das trockene Laub und die kleinen Zweige unter ihren Füßen machten einen Höllenlärm in dieser totenstillen Umgebung. Olaf hoffte, dass der leichte Wind, der zwischen den Bäumen hindurchstreifte, ihre Geräusche von den empfindlichen Ohren des Wolfes fernhielt.
Der Wald war sehr dicht. Unordentlich standen die gut 20 Meter hohen Fichten nebeneinander. Es gab keine Lichtungen, keine Flächen für die Holzarbeiter oder Picknickplätze für Wanderer. Unvermittelt legte Olaf Karsten die Hand auf die Schulter und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. Auch er selbst ließ sich auf den Waldboden sinken. Sie drehten sich in die Richtung, in der Olaf die Weide in ungefähr 200 Metern Entfernung vermutete, und starrten in die Dunkelheit. Olaf bildete sich ein, einen leichten Schafsgeruch wahrzunehmen. Es war offensichtlich, dass sich Kiste zusammenreißen musste, um nicht irgendeinen Quatsch zu reden. Nach einer halben Stunde, in der sich Karsten alle 30 Sekunden anders hingesetzt hatte, hielt er es nicht mehr länger aus.
»Wie lange sollen wir jetzt hier rumhocken?«, flüsterte Kiste.
»Bis er kommt.«
»Der Wolf?«
»Ja, der. Und der Mond.«
Kaum, dass Olaf das gesagt hatte, wurde es über ihren Köpfen hell. Nicht wirklich hell, aber in dieser Dunkelheit wirkte jedes Glühwürmchen wie eine Flutlichtanlage. Nun konnten sie mehr von ihrer Umgebung erkennen. Die Weide, die Heidschnucken oder gar den Wolf sahen sie jedoch nicht.
Eine Viertelstunde später stand Olaf auf und ging langsam in Richtung Weide. Kiste folgte. Irgendwann zeigte er mit dem Finger nach rechts auf etwas zwischen den Bäumen. Zunächst erkannte Olaf nichts, doch dann bemerkte auch er ein schwaches Licht, das zwischen den Stämmen hindurchschimmerte. Irgendwo da hinten musste ein Haus sein. Würde der Wolf hier überhaupt auftauchen, wenn so nah Menschen lebten? Aber der Bauer hatte ihn in der Nähe gesehen, also würde er kommen.
Langsam gingen sie weiter. Kiste platzte fast vor Mitteilungsdrang.
»Hat die ganze Aktion überhaupt noch Sinn?«, maulte er in einer Lautstärke, die nicht mehr als Flüstern durchging.
»Halt den Rand«, zischte Olaf ihn an, »sonst können wir wirklich gleich abhauen.«
Und plötzlich, an einer Stelle, an der die Bäume etwas unregelmäßiger verteilt wuchsen und sich ein kleiner Hügel erhob, stand auf diesem Hügel: der Wolf. Sie sahen ihn von der Seite und er blickte in die Richtung, in der sie kurz zuvor das Licht entdeckt hatten. Olaf brach augenblicklich der Schweiß aus. Nie zuvor war er einem Wolf in freier Wildbahn begegnet. Klar, im Wildpark Schwarze Berge, da gab es auch Wölfe, aber hier im Wald, keine 50 Meter entfernt, das war schon verdammt krass.
Olaf