der Synagoge schaute Chaim nochmals hinter sich. Achtsam trug David den Tehillim zu dem kopfhohen Regal an der Seitenwand der Synagoge, in dem sich unzählige Schriftrollen, Bücher und andere Dokumente befanden, wohlgeordnet in verschiedenen Abteilungen. Eine süße Wehmut umfing Chaim, sein Vaterherz sehnte sich danach, dass auch David einmal ein Rabbi werden würde.
Chaim trat auf den Platz vor der Synagoge. Mit schnellen Schritten eilte er den kurzen Weg zum Haus von Kalonymos ben Meschullam, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Mainz.
Auf einem Acker nahe Gerstendorf
Letztendlich hatte Peter sich losreißen können und war zurückgekehrt zu seiner Arbeit auf dem Feld. Auch Bernhard war nach Hause gegangen, jedoch nicht, bevor er die letzte Pflaume aus Peters Beutel genommen hatte.
Die Ritter mit den Fahnen waren längst hinter der Flussbiegung in Richtung Mainz verschwunden, aber noch immer kamen Menschen von der Wormser Seite, jedoch weitaus spärlicher.
Die Fähre und ein kleineres Boot machten sich gerade daran, den Rhein zum hiesigen Ufer hin zu überqueren. Der Fährmann schob ein Ochsengespann auf seine Ladefläche. Der Wagen trug keinerlei Fracht, aber ein Ritter und sein Knappe gesellten sich zu ihm, nachdem der Ferge das Gespann unter großen Mühen eingeladen hatte.
In dem kleineren Boot saßen einige Mönche in braunen Gewändern. Ein Priester in einer feuerroten Kutte stand am Bug. Aufmerksam tastete der Blick des großen schlanken Mannes die Hügel des diesseitigen Ufers ab, ein großes silbernes Kreuz hing um seinen Hals. Nun schaute er genau in Peters Richtung. Nahm der Priester ihn wahr? Das Kreuz spiegelte das Sonnenlicht zu ihm herüber und eine Welle des Wohlbehagens durchfloss Peters Körper. Dann schweifte der Blick des Mannes weiter.
Das kleine Boot glitt über das Wasser.
Auf ihrer Seite angekommen, verteilten sich die Mönche in der Landschaft. Wie ein schmaler roter Strich zeichnete sich der Priester vor den grünen Wiesen und braunen Feldern ab. Langsam kleiner werdend, bewegte er sich einen Hang hinauf, bis er schließlich in einem Wald verschwunden war.
Mainz – auf der Langen Gasse
Speyer, hatte Chaim gesagt. In Gedanken versunken ging Raimund die Lange Gasse zurück zum Dom. Für den nächsten Morgen war Raimund beim Bischof einbestellt, zusammen mit dem Vogt. Ob das irgendetwas mit der Nachricht an Chaim zu tun hatte? Sein Freund schien seltsam reserviert und bekümmert. Raimund war so damit beschäftigt, sich einen Reim auf die ganze Sache zu machen, dass er beinahe mit einer Waschfrau zusammengeprallt wäre, die einen Zuber Wasser in den Rinnstein gießen wollte. Das Weiblein wollte schon zu einer Schimpftirade ansetzen, als sie den Domdekan trotz seines Wamses erkannte.
Raimund entschuldigte sich knapp. In seinem Kopf durchwalkte er die verschiedensten Möglichkeiten, wie es Jehudiths flinke Hände mit dem Sauerteig getan hatten. Wenn der Vogt involviert war, dann musste es um etwas gehen, das sich außerhalb der Bischofspfalz abspielte. Das gehörte nicht zu seinem Einflussbereich als Domdekan, das lag in der Verantwortung des Propstes. Raimunds Aufgabe bestand normalerweise nur in der Organisation des geistlichen Lebens innerhalb der Domdiözese.
Aber nun befand sich Dompropst Manfried seit einigen Wochen auf Reisen. Lange hatte sich der alte und wegen seines Pflichtbewusstseins allseits geschätzte Stiftskollege danach gesehnt, eine Pilgerreise zum Grab des heiligen Viktor in Xanten anzutreten. Seitdem musste Raimund den Propst vertreten.
Raimund stöhnte vor sich hin. Gerade er, dem das Machtpolitische gleichermaßen fremd wie zuwider war. Ein Empfang beim Bischof zusammen mit dem Vogt? Chaims besorgte Reaktion ließ Raimund mit noch größerem Unwohlsein auf das morgige Treffen blicken. Entsprechend beunruhigt trat er durch das Tor der Bischofspfalz, deren Wachen ihm erst den Weg versperren wollten, da auch sie ihren Domdekan in seinem Wams zunächst nicht erkannten. Erst jetzt bemerkte Raimund, dass er besser den weitaus diskreteren Weg durch den Dom über die einziehbare Holzbrücke genommen hätte.
Mainz – im Haus des Parnas
Noch bevor er klopfen konnte, wurde Chaim die Tür geöffnet.
»Sie warten schon auf dich, oben im Empfangsraum«, raunte ihm die Frau des Parnas zu. Sie war umgeben von einer Duftwolke, die Chaim für einen Moment irritierte. Auch Jehudith machte ab und an Gebrauch von Duftwasser, jedoch zu seinem Gefallen in einer weitaus dezenteren Art.
Beim Gang die Treppe hinauf bestaunte Chaim die Respekt einflößende Gleve, die an der Wand hing, als wolle sie den Weg zu dem großen Saal im ersten Stock weisen. Er widerstand der Versuchung, mit seinen Fingern die Schärfe der Klinge an der Seite dieser furchterregenden Lanze zu erfühlen. Mit seinen kindlichen Bewegungen hatte David, als er noch einige Jahre jünger gewesen war, seinem Vater anhand einer Gartenharke die mannigfaltigen Anwendungsmöglichkeiten dieses Mordinstruments vorgeführt. Selbst wenn der erste Stich mit der Spitze sein Ziel verfehlen sollte, hatte ihm sein Sohn damals stolz erklärt, könnte man immer noch die Klinge als Haken benutzen und den Gegner durch eine schnelle Zugbewegung umreißen. Mit dem zwei Handbreit langen Schlagdorn, der der Klinge gegenübersaß, ließ sich dann auf den hilflos am Boden liegenden Körper einhacken. Selbst die härtesten Panzerungen würden dem nicht standhalten, hatte David geschwärmt.
Legenden kreisten um diese Waffe des Geschlechts der Kalonymos: Kaiser Otto II. habe diese Waffe dem Ururgroßvater des Parnas vermacht. Dieser habe dem Kaiser das Pferd geschenkt, auf dem er nach der Schlacht bei Cotrone vor den Sarazenen flüchten konnte. Aus Dank habe der Kaiser die Familie aus Lucca eingeladen, sich in Mainz niederzulassen. Dies sei der Anfang ihrer nun so stolzen Gemeinde am Rhein gewesen, so die Legende.
War es Kalonymos selbst, der diese Geschichten verbreitete? Oder waren sie Teil der Überlieferungen, die Menschen befähigten, eine Gemeinschaft wie die ihre zu bilden? Chaim war in jedem Falle froh gewesen, als sich Davids Interesse für Waffen gelegt hatte und er stattdessen anfing, sich für das Schreiben und Zeichnen zu begeistern.
Er trat in den großen Raum, der fast die ganze Etage einnahm. Der Parnas begrüßte ihn an der Tür. Kalonymos’ festen Handschlag angemessen zu erwidern, kostete Chaim Mühe, und er musste seinen Blick nach oben richten, um dem Parnas in die Augen schauen zu können.
Die Sonne warf harte Schattenkanten durch die Fensteröffnungen auf den Dielenboden. In der Mitte des Raumes saßen sich zwei Männer an einem großen Holztisch gegenüber. Mit seinen faltigen Händen hielt der alte Mosche, der zweite Rabbi der Gemeinde, ein kleines Pergament nah an seine Augen. Ein Lächeln grub sich in sein zerfurchtes Gesicht. Ihm gegenüber saß Salomo, ein in Mainz nicht nur von den Juden geschätzter Arzt. Chaim nickte den beiden freundlich zu. Mosche blickte nicht auf, und wie so oft beschlich Chaim ein Gefühl der Verunsicherung. Nahm Mosche ihn aufgrund seiner schlechten Augen nicht wahr oder war es seine Art, ihm gegenüber Verachtung auszudrücken? Der alte Rabbi war doch sonst so warmherzig zu allen in der Gemeinde.
Die letzten Jahre waren von schmerzlichen Auseinandersetzungen mit seinem älteren Kollegen geprägt gewesen. Mosches großes Wissen beeindruckte Chaim immer wieder, jedoch verspürte er gegen dessen überpräzise Auslegung der Torah immer häufiger einen Unwillen, den er selbst bei den Gottesdiensten nur noch schwer verbergen konnte. Die Qualität von Mosches Stimme, der oft als Vorbeter die Torahtexte aus der Bimah vorsang, war jedoch unbestritten. Aus der Fülle seines Leibes entluden sich eine Tiefe und Wärme, die die ganze Gemeinde verzauberten. Und auch Chaim liebte es in diesen Momenten, dem alten Mosche zuzuhören.
Salomo begrüßte Chaim mit einem verschmitzten Lächeln, das dieser zwar nicht zu deuten wusste, das ihm jedoch keinerlei Unbehagen bereitete. Chaim vertraute dem erfahrenen Arzt, der David, Benjamin und Hannah gesund zur Welt gebracht hatte und auch manches Wehwehchen der Kinder mit den Kräutern seines geheimnisvollen, üppigen Gartens lindern konnte. Auch gegen Chaims gelegentliche Schwermut wusste Salomo Rat. Und wenn es nicht anders ging, so fand er mit Sicherheit eine Mixtur, die es Chaim ermöglichte, die Woche bis zum Sabbat zu überstehen. Deshalb strebte Chaim sofort auf den freien Stuhl neben dem Arzt zu. Er legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und setzte sich.
Der Kaufmann Schmuel Hendlein stieß als Letzter hinzu. Beim Eintritt wanderte sein Blick flüchtig über die Anwesenden,