zu dem freien Platz neben Mosche und reichte diesem die Hand. Erst jetzt sah Mosche auf, und Schmuels feine, gepflegte Hände versanken in den Pranken des alten Rabbis.
Kalonymos schloss die schwere Eichentür, begab sich zum Kopf des Tisches und zeigte auf ein eingerolltes Pergament, das vor ihm lag. »Liebe Mitglieder des Rates, dieser Brief wurde uns von unseren jüdischen Freunden aus Speyer gesandt.«
Der Parnas schaute jedem der Anwesenden in die Augen. Nachdem er sich der Aufmerksamkeit aller Mitglieder des Rates sicher war, fuhr er fort. »Wir haben viele Gerüchte über das Heer der Unbeschnittenen gehört, auch dass es vor Speyer gelagert hat.«
Er ließ seinen Blick für einen Moment auf Schmuel verweilen. »Manche von uns haben gar schon an Flucht gedacht.«
Schließlich wandte sich der Parnas wieder an den ganzen Rat. »Nun bekommen wir endlich Klarheit. Der Brief enthält wichtige Nachrichten. Hoffnungsfrohe, aber auch besorgniserregende. Deshalb habe ich nach euch schicken lassen. Habt Dank, dass ihr so schnell gekommen seid, und hört nun selbst, was uns die Gemeinde aus Speyer zu berichten hat.«
Der Parnas rollte das Blatt auseinander und las vor. »Liebe Brüder und Schwestern in Mainz! Bewegende Dinge sind geschehen bei uns in Speyer, von denen wir euch in Kenntnis setzen möchten. Elf Gemeindemitglieder haben wir verloren, und viele von uns wurden in schwere Glaubensnöte gebracht. Jedoch schenkte der Eine uns in seiner großen Güte Rettung zu guter Letzt. Aber lasst uns von unserem Geschick berichten, damit ihr Vorsorge treffen könnt.« Kalonymos blickte auf. Sorgenfalten durchzogen sein Gesicht. »Am Sabbat, dem achten Tag des Monats Ijjar, kam die schwere Prüfung des Herrn über uns. Schon seit dem Freitag lagerte das Heer der Unbeschnittenen in Zelten vor unserer Stadt und verbreitete großen Schrecken unter uns. Sie hefteten ein verwerfliches Zeichen, ein Kreuz, an ihre Kleider, sowohl Mann wie Frau, alle die sich bereitfanden, den Irrweg nach dem Grab ihres Messias zu ziehen, sodass die Männer, Frauen und Kinder zahlreicher waren als die Heuschrecken auf der Fläche des Erdbodens. Emicho von Flonheim – seine Gebeine mögen in einer eisernen Mühle zermalmt werden – führte das Heer an. Als sie nun auf ihrem Zuge durch die Städte kamen, in denen Juden wohnten, sprachen sie untereinander: ›Sehet, wir ziehen den weiten Weg, um das Haus der Schande aufzusuchen und uns an den Ismaeliten zu rächen, und siehe, hier wohnen unter uns Juden, deren Väter Christum unverschuldet umgebracht und gekreuzigt haben! So lasset zuerst an ihnen uns Rache nehmen und sie austilgen unter den Völkern, dass der Name Israel nicht mehr erwähnt werde; oder sie sollen unseresgleichen werden und zu unserem Glauben sich bekennen.‹«
Auf Mosches Stirn traten Zornesfalten. »Der Gekreuzigte, der gehängte Bastard, Verderben und Blut bringt er.«
Chaim verschloss die Augen. Musste Mosche solche Worte wählen? Auch ihm war die Vorstellung eines gekreuzigten Messias zutiefst fremd. Noch schlimmer war, dass sie den Nazarener zu einem Gott erhöht hatten. Durch nichts, was in den Schriften stand, war dies zu rechtfertigen. Aber was half es, den, welchen die Christen als ihren Heiland anbeteten, einen Bastard zu nennen? Insbesondere die Kinder schnappten so etwas gerne auf. Und dann verbreiteten sich solche Worte und stifteten Missgunst unter den Städtern.
»Speyer, das sind nur zwei Tagesreisen mit dem Schiff.« Schmuels Bemerkung unterbrach Chaims Gedanken. »Knapp vier Tage mit dem Pferd, sieben Tage zu Fuß.«
Kalonymos ben Meschullam fuhr fort: »Es wurden mehr von den Gottlosen jeden Tag, und sie trieben sich herum in der Stadt, dass es uns bange wurde. Unter der Führung Emichos, er soll auf ewig verflucht sein, wandten sie und einige der Städter sich gegen uns, töteten elf Menschen und zwangen viele, sich zu beschmutzen mit ihrem übel riechenden Wasser.«
»Elf Seelen ermordet in Speyer«, raunte Schmuel.
Mosche fügte hinzu. »Und viele zu ihrer Verderben bringenden Taufe gezwungen. Wir …«
»Wartet, wartet. Lasst mich den Brief zu Ende lesen«, unterbrach der Parnas den alten Mosche. »Als dies Bischof Johann zu Ohren kam, sammelte er seine Krieger und hielt seine Hand über uns. Er gewährte uns Juden Einlass in seine Pfalz und schützte uns vor den Mördern.«
»Seht«, bemerkte Chaim, »wir können dem Bischof vertrauen!«
Schmuels Gesicht war die Erleichterung anzusehen.
»Und er ergriff manche der Aufwiegler und verfügte, dass ihnen die Hand abgeschlagen werde, wie es vom Kaiser Heinrich bestimmt worden war. Durch diesen frommen Bischof wurde uns die Gnade des Herrn zuteil.«
Chaim nickte zufrieden. »Die Hände des Mörders abschlagen, das ist die vorgesehene Strafe nach kaiserlicher Rechtsprechung. Das wird dieses Räubervolk in ihre Grenzen verweisen. Sie werden es nicht noch einmal wagen, sich an unsereinem zu vergehen.«
»Unter Berufung auf den Kaiser gewährte Bischof Johann den übrigen Gemeindemitgliedern in seinen Festungen Schutz«, fuhr Kalonymos fort.
Über Mosches Gesicht zog ein dankbares Lächeln, mit kämpferischem Optimismus raunte er: »Gott ist groß.«
»Der Ewige nahm sich unser an, denn sein Name ist heilig. Und der Bischof verteidigte uns, bis die Horden fortgezogen waren.« Kalonymos ließ das Pergament sinken und atmete tief durch.
Ein betretenes Schweigen lag im Raum. Langsam setzte sich die Nachricht in den Köpfen, und die möglichen Folgen für ihre Gemeinde, die aus den Ereignissen erwuchsen, drängten sich auf.
Mosche ballte die Faust. »Was ist mit denen geschehen, die von ihrem Schmutzwasser besudelt wurden? Müssen die Armen in der Hölle darben?«
»Mich interessiert vor allem, wohin Emichos Heer weitergezogen ist«, warf Schmuel ein.
»Der Brief geht noch weiter, lasst mich bitte zum Ende kommen«, setzte Kalonymos noch einmal an. »Rabbi Mosche bar Jakuthiel, unser Parnas, brachte Rettung. Durch seine Intervention beim Bischof durften all die zum wahren Glauben an den Einen zurückkehren, die gegen ihren Willen getauft worden waren.«
»Des Ewigen Gnade kennt keine Grenzen.« Mosche breitete die Hände aus, als ob er einen himmlischen Segen entgegennehmen würde.
Auf Schmuels Stirn zeigten sich dagegen Schweißperlen. »Ich frage noch einmal. Wohin ist das Heer der Unbeschnittenen gezogen?«
Kalonymos erwiderte: »Das sagt der Brief nicht. Aber der Bote, der ihn brachte, hat ein großes Zeltlager der Feinde Gottes vor Worms gesichtet. Ein wilder Haufen von beiden Seiten des Rheins hätte sich dort versammelt. ›Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen und mit jedem Tag wurden es mehr.‹ Das hat er mir noch gesagt, bevor er weiterzog.«
»Sie sind schon in Worms, nur zwei Tagesmärsche entfernt.« Schmuels Stimme überschlug sich.
»Der Bischof von Speyer, der gute Johann, hat eingegriffen. Das wird auch in Worms geschehen, und das würde auch in Mainz so sein. Bischof Ruthard ist auf unserer Seite«, bemerkte Chaim, unsicher darüber, ob seine Stimme die Festigkeit hatte, die er ihr geben wollte.
»Ich hoffe, du hast recht. Ganz sicher hast du recht.« Kalonymos kratzte sich an seinem mächtigen Hinterkopf. »Aber auch wir sollten unseren Teil beitragen, falls Emichos Heer vor Mainz auftauchen sollte. Wir müssen dem Bischof unsere Unterstützung anbieten. Ich schlage vor, wir fordern unsere Männer auf, sich zur Verteidigung der Stadt bereitzuhalten.«
Schmuel zog den Kopf zwischen die Schultern. »Für die Kampferfahrenen unter uns ist dies sicherlich angemessen.« Er richtete sich auf und fügte hinzu: »Aber Geld werden wir auch benötigen, um den Bischof für uns einzunehmen. Er wird sich gut überlegen, ob er das Leben seiner Männer für uns riskieren wird.«
Chaim schüttelte den Kopf. »Es ist seine Pflicht, uns zu schützen. Er hat dem Kaiser gehorsam zu sein.«
»Sei kein Narr! Uns Juden wurde schon viel versprochen«, ereiferte sich Schmuel. »Und wenn es darauf ankam, wurden die Christen zu geknicktem Rohr. Erinnert euch daran, was vor zwölf Jahren geschah, nach dem großen Feuer. Wir Juden sollten es gelegt haben, wurde von einigen der Bürger behauptet, obwohl die Häuser der Unseren mit den anderen gebrannt haben. Daraufhin