als der Betrieb der Rothausens. Der Stall neben dem in die Jahre gekommenen Wohngebäude war halb so groß wie der Pferdestall, den Jessica gestern gesehen hatte.
Nachdem sie mehrfach an der Haustür geklingelt hatte, sah sie einen jungen Mann in grüner Arbeitshose um die Hausecke biegen. Er hob grüßend seine rechte Hand und lief weiter durch die offen stehende Stalltür.
»Entschuldigung«, rief Jessica ihm nach. »Wissen Sie, ob Michael Mühlbrunner oder seine Frau hier sind?«
Der junge Mann blieb stehen, drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. Jessica schätzte ihn auf Mitte 20. Ein gut aussehender Bursche mit blondem Haar, moderner Kurzhaarfrisur, aufgeweckten, himmelblau leuchtenden Augen, einem schmalen Gesicht und sportlicher Figur. Nur der grün-violette Bluterguss an seiner linken Schläfe und die mit Schorf verkrustete Unterlippe trübten das adrette Erscheinungsbild.
»Die Mühlbrunners sind auf dem Wochenmarkt in Oberstdorf. Dort sind sie samstags immer«, sagte er und lächelte höflich. »Aber es ist schon nach 13 Uhr. Sie müssten gleich zurück sein. Wenn Sie warten wollen …« Er wies auf eine Bank, die direkt neben der Haustür in der Sonne stand und mit karierten Kissen dekoriert zum Verweilen einlud. »Soll ich Ihnen einen Kaffee holen?«
»Vielen Dank, ich möchte nichts«, sagte Jessica, nahm jedoch die Einladung an, sich zu setzen. »Wie ist das mit Ihrem Gesicht passiert? Sieht übel aus.«
Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ein Unfall auf dem Hof. Das passiert, wenn man nicht aufpasst«, sagte er. »Darf ich fragen, was Sie von den Mühlbrunners wollen?« Er blieb neben der Bank stehen.
»Ich bin von der Kripo Kempten. Mein Name ist Jessica Grothe. Ich habe zwar gestern mit Michael Mühlbrunner gesprochen, doch jetzt habe ich noch ein paar Fragen. Ist Herr Mühlbrunner Ihr Vater?«
»Nein. Ich bin hier angestellt. Maximilian«, stellte er sich vor und reichte der Hauptkommissarin die Hand. »Sind Sie wegen Viktor hier? Michael hat mir erzählt, dass er tot ist.«
»Richtig. Kannten Sie Viktor Weixler gut? Wissen Sie, ob er Feinde hatte?« Jessica rückte auf der Bank etwas zur Seite und lud den jungen Mann ein, sich neben sie zu setzen.
Der blieb lieber stehen. »Er hat hier als Hofhelfer gearbeitet. Genau wie ich. Er war ein netter Kerl. Ich glaube nicht, dass ihn irgendwer nicht mochte«, berichtete er unsicher, schaute zum Horizont in Richtung Allgäuer Alpen und hustete verlegen. »Darf ich gehen? Ich muss noch den Stall ausmisten, bevor Johanna und Michael zurückkommen. Es ist viel Arbeit auf dem Hof, seit Viktor weg ist.«
»Klar«, sagte Jessica. »Ich will Sie nicht von der Arbeit abhalten. Aber eins hätte ich gern noch gewusst.«
Maximilian sah sie an und wartete höflich.
»Ihre Verletzungen stammen von einer Schlägerei, oder?«, fragte sie rundheraus. »Haben Sie sich vielleicht mit Viktor Weixler geprügelt?«
Jessica sah, wie Maximilians Hand zu zittern begann. Erst jetzt bemerkte sie die Verletzungen an seinen Fingerknöcheln. Seine Hände waren aufgeschürft und wund.
Er wollte gerade etwas sagen, als ein Mädchen neben ihn trat und nach seinem Arm griff. »So ein Quatsch. Der Maxi tut keiner Fliege etwas zuleide.« Sie war das genaue Gegenteil von Maximilian und hatte es mit ihrem Aussehen sicher nicht leicht. Ihre Zähne waren schief, ihre Nase zu groß und ihre Augen standen viel zu weit auseinander. Sie hatte mattes, strähniges Haar und extrem dürre und lange Gliedmaßen. Sie war etwas größer als Maximilian, doch ein paar Jahre jünger. Ihr Gesicht glänzte fettig und war blass. »Der Maxi ist ein ganz Lieber.«
»Und wer bist du?«, fragte Jessica das Mädchen, das nun heftig an Maximilians Arm zog. »Bist du auch eine Hofhelferin?«
»Ich bin die Wilma. Wilhelma Mühlbrunner. Ich bin Maximilians Freundin. Wenn ich endlich 18 bin, werden wir heiraten«, verkündete sie stolz.
Maximilian sah erst zu Wilma, dann schaute er die Hauptkommissarin lange an. »Sie hat recht«, sagte er schließlich, drehte sich auf dem Absatz um, lief mit weit ausholenden Schritten Richtung Stall und ließ die beiden Frauen stehen.
Plötzlich packte jemand von hinten Jessicas Oberarm.
»Was machen Sie hier?«, brüllte eine tiefe Stimme direkt hinter ihr.
Geistesgegenwärtig riss Jessica sich los und fuhr herum.
»Hallo, Opa«, hörte sie Wilma Mühlbrunners fröhlichen Singsang. »Das ist Hauptkommissarin Grothe. Sie wartet auf Mama und Papa.« Ohne die Hauptkommissarin anzusehen, ging das Mädchen auf ihren Großvater zu und stellte sich direkt neben ihn.
»Herr Mühlbrunner«, sprach Jessica Grothe den Senior an. »Vielleicht können auch Sie mir weiterhelfen. Können Sie mir sagen –«
»Ich kann Ihnen gar nichts sagen, werte Frau«, blaffte er sie an. »Außerdem ist mein Name Behrbihler. Donatus Behrbihler. Und jetzt verschwinden Sie von meinem Hof.«
»Opa«, säuselte seine Enkelin beschwichtigend. »Du kannst eine Kriminalbeamtin nicht einfach fortschicken.« Dann wandte sie sich an die Hauptkommissarin. »Er ist der Papa meiner Mutter«, erklärte sie. »Und er ist manchmal etwas … verwirrt«, flüsterte sie in Jessicas Richtung, verdrehte die Augen, hob grüßend die Hand und schob ihren Großvater zur Haustür. »Komm, Opa. Zeit fürs Mittagessen.«
9
»Da stimmt etwas nicht.« Jessica stellte ihr Glas auf dem Wohnzimmertisch ab und ließ sich aufs Sofa fallen. »Die beiden passen überhaupt nicht zusammen. Es heißt zwar ›Wo die Liebe hinfällt‹, aber selbst wenn man vom Aussehen absieht – das Mädchen ist viel zu jung für ihn. Ich habe von Herrn Mühlbrunner erfahren, dass Maximilian 27 Jahre alt ist. Wilma ist erst 17.«
»Hast du ihn nach den Heiratsplänen seiner Tochter gefragt?«, wollte Florian wissen und legte die Füße auf den niedrigen Glastisch vor dem Fernsehsessel. Gleich darauf nahm er sie wieder herunter. Der drohende Blick seiner Freundin sagte alles, und er wollte sie gerade heute nicht zu sehr reizen. »Was sagt denn der zukünftige Brautvater dazu?«
»Na ja, so direkt habe ich nicht gefragt«, gab Jessica zu. »Ich wollte dem Mädchen keinen Ärger machen. Sie schwärmt vielleicht nur für den gut aussehenden Hofhelfer. Das wird sich geben, denke ich.«
»Aber dieser junge Mann hat die Hochzeitspläne bestätigt, sagtest du«, bemerkte Florian. »Meinst du, er will nur in einen reichen Hof einheiraten und nimmt dafür auch eine Liaison mit einem kleinen hässlichen Entlein in Kauf?«
»Das glaube ich nicht«, entschied Jessica nach kurzer Überlegung. »Finanziell steht der Hof seit Langem kurz vor der Insolvenz. Vor zwei Jahren ist der Betrieb auf Biolandwirtschaft umgestiegen. Herr Mühlbrunner sagte, spätestens nächstes Jahr müssen sie Gewinn einfahren, sonst sehe es schlecht aus.«
»Dann kann es das Geld nicht sein.« Florian lachte. »Vermutlich hat das Entlein andere Qualitäten, von denen wir nichts ahnen.« Er starrte eine Weile auf den schwarzen Bildschirm des Fernsehers, rieb sich den Nacken und wandte sich wieder an Jessica. »Dein Fall klingt jedenfalls wesentlich spannender als meiner. Wenn der junge Herr Lorenz nicht mein Täter ist, habe ich nichts mehr. Es gibt bisher absolut keinen verwertbaren Hinweis auf andere anwesende Personen im Haus der Michelsbachs. Ein paar fremde Fingerabdrücke zwar, aber die können wir nicht zuordnen. Die könnten auch von einem Nachbarn stammen, der zu Besuch war. Wenn Matteo Lorenz das Ehepaar nicht getötet hat, kann ich den Fall vermutlich nicht aufklären.«
»Beschwere dich beim Chef und nicht bei mir. Götze wollte, dass wir tauschen.«
Die gespielte Strenge in ihren Worten ließ Florian schmunzeln.
Jessica setzte sich auf die Armlehne des Sessels und legte ihre Beine über seine. »Ich hoffe nur, dass Henriette nicht der Grund für den Toten in der Felsspalte ist. Die Kuh wird von allen befragten Personen eindeutig zu häufig erwähnt!«
»Tja, du wirst schon herausfinden, ob die Kuh oder die Ente die Mörderin ist«, bemerkte Florian