Mia C. Brunner

Tod zum Viehscheid


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nein. Das kann ich ohne Untersuchung nicht. Jedenfalls macht es nicht den Anschein. Die Muskulatur an seinen Beinen ist gut entwickelt. Außerdem ist ein Bein angewinkelt, was bedeuten könnte, dass er es bewegt hat – oder dass es nach seinem Tod so drapiert wurde«, mutmaßte Ewe. »Doch der wichtigste Hinweis – natürlich werde ich das alles in der Rechtsmedizin noch einmal überprüfen – sind seine Schuhe. Siehst du? Die Sohlen sind abgenutzt. Ergo – er ist damit gelaufen.« Ewe grinste breit.

      »Der Rollstuhl gehörte also der Frau?«, wollte Jessica wissen. Dann fielen ihr ein paar gerahmte Fotos über dem Kaminsims auf der anderen Seite des Wohnzimmers auf. Sie ging hinüber, um sich die Bilder genauer anzusehen. »Schau mal, Ewe. Der junge Mann auf dem Foto sitzt im Rollstuhl. Ihm gehört er vermutlich. Ist das der Sohn? Wo könnte der Junge sein?« Jessica dachte angestrengt nach und starrte dabei wie gebannt aus dem großen Fenster in den Garten.

      Plötzlich kam ihr ein grausamer Gedanke. Erschrocken sah sie zu Ewe. »Oh Gott, hoffentlich finden wir hier nicht noch eine Leiche.«

      Etwa eine Stunde später traf der Bereitschaftsdienst des Jugendamtes zusammen mit einem Krankenwagen ein und veranlasste den Transport des jungen Mannes in die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Stadtrand von Kempten. Glücklicherweise war dem Sohn des Ehepaares Michelsbach, der wie ein junger Teenager aussah, doch fast 20 Jahre alt war, nichts passiert.

      Jessica und die Beamten hatten das Haus durchsucht und Felix Michelsbach in seinem Bett liegend vorgefunden. Er hatte sie voller Angst angesehen, als sie sein Zimmer betreten hatten, aber keinen Ton herausgebracht. Ob er des Sprechens nicht mächtig war oder ob die Panik ihn lähmte, weil er den Mord an seinen Eltern mitbekommen hatte, konnte bisher niemand sagen. Allerdings stand außer Frage, dass er seine Eltern getötet hatte, denn er war nicht in der Lage, sich eigenständig aus dem Bett zu bewegen. Seine Arme waren spastisch gelähmt, was mit seinen Beinen war, wussten sie nicht. Seinen Kopf allerdings konnte er problemlos heben und bewegen. Jessica hatte das Gefühl, dass er verstand, was sie sagte. Er sah sie direkt an, wenn sie mit ihm sprach, gab aber keine Antwort.

      Die Jugendamtsmitarbeiter brachten ihn vorerst in eine Klinik. Dort sollte er untersucht werden, auch um einzuschätzen, wo der junge Mann in Zukunft untergebracht werden konnte.

      Vor Anfang nächster Woche brauchte Jessica nicht mit Untersuchungsergebnissen zu rechnen, und die DNA-Analyse der gefundenen Spuren würde mit Sicherheit noch ein paar Tage länger dauern. Wenn die Klinikleitung sie also am morgigen Sonntag nicht anrief, um ihr zu verkünden, dass der junge Michelsbach doch mit ihr reden konnte, würde sie erst am Montag an dem Fall weiterarbeiten können. Die Befragung der Nachbarn hatten die Kollegen der Streife bereits übernommen. Mehr gab es erst einmal nicht zu tun.

      3

      »Herrgott, warum ausgerechnet hier?« Ewe war mit seinen Kräften am Ende und ließ sich auf einen kleinen Felsen am Wegrand nieder. »Wie weit ist es denn noch?«

      »Ich vermute, wir müssen dort hinten bei dem großen Holzstapel neben der Baumgruppe um die Ecke und dann in diese Richtung weiter. Vielleicht noch 500 Meter«, schätzte Florian und wies auf den Gipfel des Berges, der über den hohen Tannen auf der rechten Pfadseite gerade noch zu sehen war. »Wozu schleppst du auch immer so viel mit? Hätten ein paar Latexhandschuhe nicht ausgereicht? Glaub nur nicht, ich helfe dir mit dem schweren Koffer. Ich finde es auch anstrengend, dass es ständig bergauf geht. Bin doch keine Bergziege.« Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und schob die Ärmel seines Pullovers bis zum Ellenbogen hoch. Seine Jacke hatte er wohlweislich im Auto gelassen, das gute zwei Kilometer weiter unten am Wegrand stand. Dort, wo die Straße an einem Wanderparkplatz aufhörte und der ausgetretene schmale Pfad über üppig mit Gras und Kräutern bewachsene Bergwiesen anfing. Aufgrund des unebenen und recht steilen Weges war der Aufstieg zur Alpe äußerst kräftezehrend und sehr mühsam.

      »Kann es endlich weitergehen?«, fragte Florian ungeduldig. »Wenn du ständig Pausen brauchst, sind wir nicht zurück im Präsidium, bis es dunkel wird. Hoch mit dir!«

      »Es ist gerade mal 10 Uhr vormittags.« Ewe erhob sich stöhnend und griff nach seinem Metallkoffer. »Runter geht es sicherlich etwas schneller«, bemerkte er sarkastisch. »Ich habe jetzt schon das Gefühl, dass mein Koffer nichts lieber will, als nach unten zu kommen. Warum müssen Leichen auch immer an so unzugänglichen Stellen liegen?«

      Heute in der Früh hatte sich ein Anrufer direkt an die Kemptener Dienststelle gewandt und von einer Leiche gleich neben seiner Alphütte berichtet. Er sei heute Morgen um kurz vor 4 Uhr quasi über diesen toten Menschen gestolpert, als er nach seiner einzigen Milchkuh rufen wollte, um sie zu melken. Über die Identität oder das Aussehen konnte dieser Alphirte nichts sagen, nur, dass es sich um einen Mann handelte.

      Da Jessica mit dem Fall des ermordeten Ehepaares in Kempten betraut worden war, musste Florian diesen Todesfall übernehmen. Das kam ihm ganz gelegen, denn mit allergrößter Wahrscheinlichkeit war der Mann durch einen Unfall zu Tode gekommen. Niemand würde sich diesen schmalen Weg zur Alpe hinaufquälen, um dort oben einen Mord zu begehen. Da gab es bequemere Möglichkeiten.

      Die Kluxhagener Alpe lag auf etwa 1.300 Metern Höhe an einem grasbewachsenen Berghang gegenüber dem imposanten Fellhorn und mit Blick auf das schöne Stillachtal. Die Hütte bestand aus einem einzigen Zimmer mit winzigen Fenstern. Wenn man durch die alte Holztür ins Innere wollte, musste man seinen Kopf einziehen, sonst stieß man mit der Stirn gegen den Türsturz. Florian sah durch eins der Fenster hinein, konnte aber niemanden sehen.

      Direkt neben der Hütte aus dunkelbraunem, teilweise verwittertem Holz stand ein kleiner Verschlag, der als Stall diente. Für die etwa 50 Rinder, die weitab der Alpe in den Berghängen grasten, reichte der winzige Unterstand niemals aus. In den kleinen Stall passten höchstens drei oder vier Kühe.

      Am heutigen Tag hielten sich der Nebel und die tief hängende Wolkendecke bis in die frühen Mittagsstunden in den höheren Berglagen. Eben noch hatte die warme Augustsonne den mühsamen Aufstieg erschwert, hier oben auf der Alpe war es dagegen kühl, feucht und neblig.

      »Ich habe keinen Empfang«, stellte Florian nach einem kurzen Blick auf sein Smartphone fest. »Haben Sie uns angerufen?«, fragte er den jungen Mann, der aus dem Stall trat, seine dunkelgraue Strickjacke auszog und neben der Tür an einen Haken hängte. Er schob die Ärmel seines karierten Hemdes nach oben und fuhr sich mit beiden Händen durch sein dunkelbraunes Haar.

      »Ja, das habe ich«, bestätigte der Mann nickend und reichte dem Hauptkommissar die Hand. »Und bevor Sie fragen, ich bin auf dem Pfad etwas weiter ins Tal gelaufen. Nach ungefähr 600 bis 700 Metern hat man Handyempfang. Hier oben gar nicht«, erklärte er und stellte sich dann vor. »Georg Bruchstein. Ich bin der Alphirte.«

      »Hauptkommissar Florian Forster. Und das ist Erwin Buchmann, der Rechtsmediziner. Sie haben die Leiche hoffentlich nicht bewegt«, mahnte Florian und sah sich suchend um. Einen Toten konnte er im Umkreis der Hütte jedenfalls nicht ausmachen. Von hier aus konnte man trotz des Nebels ungefähr 50 Meter weit sehen. Vielleicht lag der Tote hinter dem Gebäude.

      »Sehen Sie den Zaun dort drüben?« Georg Bruchstein wies mit ausgestrecktem Arm auf einen Punkt östlich von ihnen. »Dahinter ist ein tiefer Spalt im Berg. Mir sind dort in den letzten Jahren einige Tiere verunglückt, deshalb habe ich diese Absperrung zum Schutz gebaut. Ich kontrolliere regelmäßig, ob trotz Zaun ein Tier hineingefallen und verendet ist. Heute Nacht hatten wir ein Unwetter mit heftigen Blitzen und Donner. Da weiß man nie, ob eines der Schumpen durchgeht und abstürzt. Heute früh habe ich dort unten aber kein Rindvieh, sondern eine Leiche gefunden.«

      »Wie tief ist denn der Spalt?«, wollte Ewe wissen. »Kommen wir da runter?«

      Der Alphirte griff nach einem Seil, das über einer niedrigen Mauer aus losen Steinen zu seiner Rechten hing. »Der Spalt – wir nennen ihn Klux-Klamm – ist etwa drei Meter lang, teilweise bis zu acht Meter breit und zwischen 10 und 15 Meter tief. Ich kann Sie mit dem Seil sichern und an einer ungefährlicheren Stelle runterlassen.«

      »Ausgezeichnet«, brummte Ewe. »Es reicht ja nicht, dass ich heute einen Berg besteigen muss. Jetzt muss ich auch noch klettern gehen.«