die Neigung ist gering, doch er macht keine Anstalten stehen zu bleiben. Also dreht sich der Bub wieder um, und läuft – über die Stiegen auf allen vieren – zurück ins Haus.
»Vati, komm doch, das Auto lollt noch immer!«
»Lass mich, ich hab’ zu tun.«
Doch Frau Bisenius, die Dame neben ihm, sie ist Vertreterin für pharmazeutische Produkte, schöpft Verdacht. Sie weiß, als sie ankam, war sie die Einzige mit einem Fahrzeug im Hof. Sie geht zum Fenster, blickt hinaus: Dort, wo sie ihren blauen VW abgestellt hat, ist nun gähnende Leere.
»Herr Doktor«, sagt sie, »wir sollten doch nachsehen!«
Der Bub läuft ihnen hinterher. Am Haustor angekommen, sehen sie gleich, dass sie zu spät dran sind. Obwohl – der Wagen rollt nicht mehr. Er ist neben der Holzhütte, die den Hof nach Norden abgrenzt, zum Stehen gekommen. Nicht etwa, weil er keinen Schwung mehr hatte, sondern weil er nun halb am Abgrund, über einer Betonmauer hängt, die Vorderräder in der Luft, darunter – das weiß Frau Bisenius freilich nicht – ist eine Senkgrube, mit einem Betondeckel einigermaßen gut abgesichert.
»Man hätte doch auf den Buben hören sollen«, sagt der Herr Doktor, »zum Glück ist nicht mehr passiert.«
Irgendwann kommt ein Traktor und zieht den Wagen mit einem Seil rücklings aus seiner Misere, alle vier Räder stehen wieder auf festem Boden.
Damals war ich noch keine drei Jahre alt, meine Leidenschaft für alles, was mit Autos zu tun hatte, war gerade erst im Entstehen. Das mag auch daran gelegen haben, dass zu der Zeit und in der Gegend, wo ich aufwuchs, Autos noch ausgesprochen selten waren – wenn man davon absieht, dass im Hof, eher etwas versteckt hinter dem Haus, ein total verrosteter, ehemals weiß lackierter Rot-Kreuz-Wagen stand, in dem wir gelegentlich am Lenkrad drehten und uns nicht einmal vom stark modrigen Geruch der immer wieder nass gewordenen Sitze davon abhalten ließen, Rettungsfahrer zu simulieren.
Nur sechs Wochen nach meiner Geburt hatten meine Eltern Wien verlassen und waren nach St. Kanzian am Klopeiner See gezogen. (Aus dem Notizbuch meines Vaters vom 26. Juni 1951: Nach knapp über 25 Jahren aus der Trauttmannsdorffgasse ausgezogen. Um 7.15 Uhr mit Inge, den Kindern und Inges Mutter mit dem Zug nach Klagenfurt – eigenes Coupe – von dort Bus nach Kühnsdorf … über Nacht bei Holzer.) Dort war eine Stelle als Gemeindearzt ausgeschrieben, mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass meine Eltern mit den zwei Kindern auch eine Wohnung zur Verfügung gestellt bekamen. Nicht sofort, denn erst mussten wir aufs Mobiliar warten. Die erste Nacht verbrachten wir bei »Holzer«, genauer gesagt im Hotel Amerika-Holzer. Meine Erinnerung ist zwar verständlicherweise getrübt, doch ich kann mich wieder auf die Eintragungen meines Vaters in einen kleinen Taschenkalender stützen. Die Besitzer waren zwei Damen, Mutter und Tochter, deren Mann bzw. Vater wenige Monate vor unserer Ankunft verstorben war. Das »Amerika-Holzer« war damals das erste Haus am Platz (ist es übrigens bis heute), doch zu teuer für einen längeren Aufenthalt. Also zogen meine Eltern am nächsten Tag mit Sack und Pack ins Gasthaus Wank nach St. Kanzian.
Ein paar Wochen nach unserer Ankunft lud das Fräulein Holzer meine Eltern zum Abendessen ein. Wir waren – relativ – fremde Menschen, wir kannten ja noch niemanden, und so wurde diese Einladung spontan ausgesprochen. Das neue Ärzteehepaar wurde übrigens für halb acht erwartet, gekommen ist es um halb zehn, nach den Visiten, aber nicht einmal diese Verspätung stellte die junge Freundschaft auf die Probe.
* * *
Inzwischen war der Umzug in die Wohnung erfolgt, direkt in der Volksschule. Über uns wohnten drei Lehrer, neben uns die Schulwartin mit ihrer Familie.
Unsere Wohnung begann hinter einer Glastür mit einem Vorraum, in dem sich sechs Sessel aneinanderreihten. Sie standen den Patienten zur Verfügung, die dort vormittags vor der Konsultation Platz nahmen. Gleich beim Eingang gab es eine Toilette, die wir mit den Kranken teilten – das machte uns resistent gegen allerlei Viren. Am oberen Ende des Warteraums blickte der jeweils erste Patient in die Küche – ein schmaler Schlauch–, in der als einziges modernes Elektrogerät ein Kühlschrank (Marke »Famulus«) stand. Der Herd wurde mit einer Gasflasche betrieben, Waschmaschine gab’s keine, das musste im Waschbecken erledigt werden, in der auch das Geschirr gereinigt wurde. Darunter war ein Holzkasten, ein Drittel davon war für unsere Spielzeuge reserviert. Der braune, fast lebensgroße Holzdackel mit Rädern, den ich immer wieder nachzog, wurde 1956 in eine Schachtel für Ungarnflüchtlinge verpackt, zusammen mit gebrauchten Kleidungsstücken für Kinder.
In dieser Küche arbeiteten unsere »Dienstmädchen« – weil meine Mutter ja in der Ordination mitmachte. Sie hatte drei Kinder in vier Jahren zur Welt gebracht, ums Aufräumen, Putzen und Kochen konnte sie sich nicht zusätzlich kümmern. So standen also im Laufe der Jahre Peppa, Anni, Vida, Mizzi, Toni, Greti, Frida und Hilde hinter dem Herd und sorgten am Ende des Tages dafür, dass wir gewaschen und gekämmt ins Bett kamen. Ab einem gewissen Alter war das äußerst peinlich für uns: Wir spielten draußen mit den anderen Kindern – Heini und Trixi, zwei Lehrerkinder, waren ein paar Jahre jünger als wir – und plötzlich rief Anni oder Mizzi oder eine der anderen aus dem Fenster in den Hof: »Silvi, Pepsi (das war mein Kosename), Buscha (auch Claudia hatte sich als Name nicht durchgesetzt) – reinkommen, waschen, baden, schlafen gehen.« – »Noch fünf Minuten, bitte!«, riefen wir fast im Chor zurück. Die Sonne stand noch relativ hoch am Himmel, um sieben Uhr schlafen gehen, das wollten wir nicht akzeptieren. »Gut, noch fünf Minuten, aber dann …« Drei Minuten später hörten wir sie wieder rufen. Die Kindermädchen – das waren die Haushaltshilfen ab dem Nachmittag – wollten natürlich auch Schluss machen und nach Hause gehen, je früher desto besser. Und so trotteten wir dann resigniert mit hängenden Köpfen über die Stiegen hinein. Im Kinderzimmer, ein Raum neben dem Wartezimmer, den wir nach dem Auszug der Familie Wolkinger 1957 dazubekamen, wartete bereits ein Kupfer-Bottich. Darin befand sich heißes Wasser aus dem Herd, das mit kaltem gemischt wurde, und so landete ein Freund-Kind nach dem anderen in der »Badewanne«. Als ich etwa neun Jahre alt war – so erzählte mir Mizzi bei einem Besuch, als ich sie um Erinnerungen an ihre Zeit bei uns fragte, als Neunjähriger flüsterte ich ihr ins Ohr, dass ich das nun allein machen möchte. Und so geschah es dann auch.
Das Wohnzimmer war gleichzeitig erste Anlaufstation für die Patienten: Brauchten sie nur Medikamente, musste der Blutdruck gemessen werden, reichte eine Injektion in den Po oder war eine intensive Untersuchung durch den Arzt notwendig, teilte das meine Mutter ein, verabreichte Rezepte oder Medikamente, zumindest jene, die wir in einer kleinen Hausapotheke verwahrt hatten. Die war im Schlafzimmer daneben untergebracht, das mit Kleiderkästen und fünf Betten (im Jahr 1953 war noch Claudia – also Buscha – hinzugekommen) ohnehin schon ziemlich vollgestopft war. Weil die fünf Betten nebeneinander keinen Platz gehabt hätten, schliefen die beiden Schwestern in einem Stockbett, mein Schlafplatz war ein Eisengestell, das wie ein auf den Längsseiten stehendes U unter und über dem Fußteil des Doppelbetts der Eltern stand (ich schlief darüber, nicht darunter). Mittels einer Eisenleiter kletterte ich so jeden Abend in mein Bett. Ein schwarzer Glaskasten war abgeschlossen, dort waren die eher gefährlichen Arzneiwaren untergebracht, doch der Schlüssel steckte immer im Schloss. An alle anderen Pharmaka, die in mehreren offenen Stellagen untergebracht waren, kamen wir Kinder leicht heran: »Siogen« Halswehtabletten (klein, rund, gelb, glatt) oder auch »Merfen« (weiß, viereckig, pulvrig) schmeckten wie Lutschbonbons und waren daher beliebtes, wenn auch nicht unbedingt genehmigtes Naschzeug.
Die meisten Patienten waren geduldig, es konnte durchaus vorkommen, dass sich 20 oder auch mehr Kranke versammelten, dann wurden Nummern ausgegeben, damit die Reihenfolge immer gut eingehalten wurde. Viele vertrieben sich die Zeit im Hof, rauchten eine Zigarette und saßen auf einer Bank, um den Aufruf ihrer Nummer abzuwarten. Gelegentlich gab es auch Patienten, die sich für etwas Besseres hielten. Baron Friedrich Latscher-Lauendorf, aus altem österreichischem Adel, einer von vielen Wiener Sommergästen, die sich in Unterburg eine Villa gebaut hatten, betrachtete auch den Arzt als seinen Untertanen. Und so gewöhnte er es sich an, einfach ohne anzuklopfen an allen anderen Patienten vorbei in das Wohnzimmer zu stürmen. Meine Mutter war wütend. Als sie ihn eines Tages wieder einmal mit dem Fahrrad ankommen sah, richtete sie sich eine Schüssel mit kaltem Wasser her und stellte sich zur Tür. Als der Baron diese mit einem schnellen Schwung öffnete,