der Grube ja nicht zu nahe zu kommen, denn würde man dort hineinstürzen, könnte das tödliche Folgen haben. Einer unserer Nachbarbuben, Manfred, er war damals fünf Jahre alt, hatte sich offenbar nicht an die Mahnung gehalten. Durch einen Spalt, der für seinen kleinen Körper zu breit war, fiel er hinein und war binnen weniger Minuten so schwer verbrannt, dass ihn mein Vater, der sofort am Unfallort war, nicht mehr retten konnte.
Josef Kert, genannt »Joza«, war ein Schwerarbeiter. Sein Gesicht war braun gebrannt, er war ja immer im Freien, sein schütteres Haar war früh angegraut, viele Furchen zogen sich über die Stirn, seine Hände waren knochig, die Schwielen auf den Fingern stammten von der Schaufel, der Hacke oder der Säge, die er tagaus, tagein in der Hand hielt. Er war bei der Gemeinde St. Kanzian »angestellt«, oder jedenfalls wurde er von dieser Institution für seine Tätigkeiten bezahlt. Wann immer es etwas zum Aufgraben, Zuschaufeln, Betonieren, Sägen, Hacken, Aufbauen oder Abreißen gab, »Joza« war dabei, von Montag früh bis Freitagabend – oder besser: Freitagnachmittag, denn da gab es die Auszahlung. Seine Frau, die Schulwartin, wartete dann immer mit Bangen auf seine Heimkehr. Gelegentlich kam er stockbetrunken, das schwarze Steyr-Fahrrad neben sich herschiebend, zuhause an. Seine Frau war wütend, hatte er doch wieder fast sein ganzes Wochengehalt im Gasthaus versoffen. Durch alle Räume des Hauses hörte man dann die beiden miteinander lautstark streiten, das gebrüllte »Prekled hudič«, »Moj duši« oder das etwas verzweifeltere »Marija Devica« klingt mir noch heute in den Ohren. Wenn es noch später wurde, hatte Frau Kert oft schon die Wohnungstür versperrt. Joza suchte und fand dann auf den Sesseln bei uns im Vorraum einen Platz, wo er seinen Rausch ausschlief. Wenn wir Kinder in der Früh auf die Toilette mussten, konnte es schon vorkommen, dass wir über ihn drübersteigen mussten, weil sein Körper in der Nacht langsam vom Sessel auf den Boden heruntergerutscht war.
Seine Frau war Schulwartin und gleichzeitig eine strenge Hausbesorgerin. Sie war eine stattliche, schöne Frau mit vollem, dunklem Haar, einem faltenlosen Gesicht, das in den wenigen Momenten, in denen sie sich entspannt zeigte, durchaus auch als freundlich bezeichnet werden konnte. Auch wenn sie »nur« für die Schule verantwortlich war, fühlte sie sich als Aufseherin auch für den Wohnungsbereich. Wir fürchteten uns vor ihr fast genauso wie ihr Mann, obwohl wir ja mit Alkohol nicht in Berührung kamen. Für die Frau Kert waren wir immer zu laut, zu lebhaft und zu umtriebig, was immer wir im Hof unternahmen, es passte ihr nicht. Das hatte sich in uns schon eingeprägt und so schlichen wir uns, wenn wir ihrer ansichtig wurden, wie die Mäuse in unsere Zimmer zurück, um nur nicht ihren Zorn zu erregen. Sie war auch eine ungeheuer fleißige Frau. Allein musste sie jeden Tag den Dreck hinter allen Schulkindern wegputzen, am Vormittag kochte sie für die rund 100 Volksschüler eine (fast immer) warme Mahlzeit: Montag Nudelsuppe, Dienstag Milchreis, Mittwoch Kakao, Donnerstag Ritschert und freitags Tee mit einer Käsesemmel. Das Ganze wurde in der Pause gegen 10 Uhr im Keller serviert. Dort standen mehrere lange Tische, um die sich die Schüler versammelten. Vor dem Essen sprachen wir ein kurzes Gebet: »Komm Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!« Die fünf Klassenlehrer bewachten uns dabei. Frau Adamek, eine Kärntner Slowenin (nicht, dass man das damals erahnen konnte), brachte den Erstklasslern das Lesen und Schreiben bei (»DER VATER ARBEITET. DIE MUTTER KOCHT«). Frau Luise Prah, sie wohnte in der Schule, war für die zweite Klasse zuständig. Frau Siebitz, die später den Pharmavertreter Willibald Diexer heiratete, sorgte sich um die Schüler der dritten Klasse, und Herr Hubert Rebernig – der Schuldirektor – bereitete seine Schützlinge in der vierten Schulstufe darauf vor, den nächsten großen Schritt zu machen: entweder in die Hauptschule nach Kühnsdorf zu wechseln oder in das Gymnasium nach Klagenfurt. So manches arme Bauernkind bekam aber auch die Disziplin und Härte des Direktors zu spüren, die er als Nationalsozialist im Zweiten Weltkrieg erlernt hatte: Wer nicht spurte, stotterte oder sonst sein Missfallen erregte, wurde flugs mit einer »Kopfnuss« bestraft. Dann zog der Herr Direktor mit dem Fingerring oder dem Schlüsselbund in der Hand scharf über das Haupthaar, blutige Wunden waren keine Seltenheit.
Nur wenige blieben bis zur achten Schulstufe in St. Kanzian, wo sie von Oberlehrer Felix Schwarz unterrichtet wurden. Er, seine Frau Gerda und später die beiden Buben Heini und Michi wohnten über uns und waren jahrzehntelang, auch als sie und wir schon aus der Schule ausgezogen waren, so etwas wie unsere Ersatzeltern. Es gab kaum einen Tag, an dem nicht irgendein Familienmitglied der Freunds in den ersten Stock zu den Schwarzischen ging, wo wir dann mit Kaffee und Kuchen bewirtet wurden und uns über dieses und jenes unterhielten. Über dem Küchentisch hing eine Uhr aus Porzellan, auf der mit blauer Schrift »NUETZE DIE ZEIT« zu lesen war. Ich verstand lange nicht, was NU-ETZE bedeutet, fragen traute ich mich auch nicht, ich wollte ja nicht als dummer Bub dastehen.
Nicht im Traum rechnete ich damit, dass sich hinter der freundlichen Fassade des Volksschullehrers auch rohe Gewalt verbergen konnte. Eines Tages hörte ich elende Schreie über den Schulhof schallen. Ein Junge brüllte wie am Spieß durch ein geschlossenes Fenster des Lehrerzimmers, dazwischen vernahm ich etwas, das ich als Stockhiebe identifizierte. Felix Schwarz verdrosch den etwa 15-jährigen Hermann. Er war bei seiner Tante, der Lehrerin Prah, untergekommen, die dürfte aber mit dem pubertierenden Buben völlig überfordert gewesen sein. Und so prügelte Herr Schwarz auch noch den letzten Widerstand aus dem bedauernswerten Geschöpf heraus. Doch niemand sprach darüber. Das blieb ein Tabu-Thema bis zu seinem Tod.
Neben dem normalen Stoff in der Schule gab es natürlich auch noch den Religionsunterricht, hier war die slowenische Sprache dominant: Die Kirche war der einzige Stützpfeiler der slowenischen Volksgruppe in Kärnten, wo der verpflichtende Unterricht in dieser Sprache 1956 abgeschafft wurde. Pfarrer Josef Kogelnik strahlte zwar eine achtbare Autorität aus, aber auch die musste er immer wieder mit »Kopfnüssen« untermauern. Sein Adlatus, der kleinwüchsige Kaplan Valjavec, war jedoch der ganzen Bösartigkeit der Buben und Mädchen ausgesetzt. Er konnte kaum eine Geschichte aus der Bibel erklären, ohne dass nicht große Unruhe im Klassenzimmer herrschte. Einmal schlich ich mich hinter ihn und äffte ihn zum Gaudium meiner Mitschüler mit Grimassen und Handbewegungen nach. Valjavec, der immer einen Stock bei sich trug – eigentlich war der für die Schreibtafel gedacht – drehte sich plötzlich um und schlug mit dem Holzstück so fest er konnte auf mich ein. Mit dem Effekt, dass der Stock in zwei Teile brach und eine Hälfte durch das halbe Klassenzimmer über die Köpfe der Schüler und Schülerinnen nach hinten flog.
Am Ende des Schuljahres wurde dann das obligate Klassenfoto geschossen. Das Prozedere war immer das gleiche: Wir mussten uns in Reih und Glied im Hof aufstellen, aus dem Turnsaal wurde noch eine Bank herangeschleppt, damit die Kinder in der hinteren Reihe auch sichtbar waren, und der einzige Fotograf in der Umgebung schoss dann die Schwarz-Weiß-Fotos. Sein Name war Anton Bohinc, ein kleiner, hagerer Mann. Er trug eine Brille auf seinem schmalen Gesicht, fast immer auch einen weißen Mantel. Bevor er abdrückte, sorgte seine Frau dafür, dass alle Schüler und Schülerinnen auch ordentlich gekämmt, geschniegelt und geschnäuzt waren. Dafür spuckte sie sich in die Hände, ging durch die Reihen, bügelte die Haare glatt, strich jeden Scheitel gerade, knüpfte die Zöpfe der Mädchen zurecht oder putzte mit dem Taschentuch die Nase. Mit einem Taschentuch die Nasen aller.
Ein weiterer Höhepunkt unseres schulischen Alltags spielte sich immer rund um den 10. Oktober ab, dem Kärntner Landesfeiertag. Am Abend zuvor pilgerte die ganze Schule mit allen Lehrerinnen und Lehrern auf die »Kura« – einen anderen Namen gab es für den Hügel hinter der Schule nicht. Dort hatten die Gemeindearbeiter schon einen riesigen Haufen aus Ästen, Zweigen und Kartons hergerichtet, um den herum wir uns alle aufstellten. Der Direktor hielt eine Ansprache, die im Wesentlichen so verlief:
»Kinder, wir haben uns heute hier versammelt, um einen ganz besonderen Tag in der Kärntner Geschichte zu begehen. Am 10. Oktober 1920 stimmte die Mehrheit der Kärntner (damals gab es noch kein Binnen-I) dafür, dass unser schönes Heimatland bei Österreich verblieben ist.
Dass es überhaupt dazu gekommen ist, haben wir den Abwehrkämpfern zu verdanken, die ihr Blut dafür hergegeben haben, dass Kärnten nicht Teil des damaligen jugoslawischen Reiches geworden ist. Ihnen allen sind wir heute zu großem Dank verpflichtet …«
Ein runder Feiertag, wie etwa der 40. Jahrestag der Kärntner Volksabstimmung, wurde groß begangen. Dann stellten sich Schüler, Lehrer, der Gesangsverein, die Feuerwehr und zahlreiche Gäste im Schulhof