Franz-Josef Nocke

Was können wir hoffen?


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Hochschulgebäude. Studierende hatten es Anfang der siebziger Jahre auf die Waschbetonwand gesprayt. Kaum noch entfernbar, als sei es ein Motto für die Ewigkeit. Kritische Dauerreflexion sollte zu besseren Strukturen der Gesellschaft und dadurch zu einem neuen, besseren Menschen führen. Viele, die später „Achtundsechziger“ genannt wurden, lebten von dieser Hoffnung.

      Der Spruch war schon von einigen vor die Wand gepflanzten Sträuchern halb verdeckt, als ich in der Mensa mit einem Studenten über seine persönliche Zukunft sprach. Er hatte das Erste Staatsexamen hinter sich, trug aber Bedenken, den Vorbereitungsdienst für das Lehramt anzutreten: „Nicht für diese Schule!“ Ich wollte ihn überreden, wenigstens noch das Zweite Staatsexamen zu machen, dann habe er doch bessere Berufschancen. „Wofür?“, fragte er, „ich bringe dreimal in der Woche Waren herum, davon kann ich leben.“ Ich fragte ihn, ob er in dreißig Jahren immer noch als Gelegenheitschauffeur arbeiten wolle. Darauf er: „In dreißig Jahren? Meinen Sie denn im Ernst, dass unsere Erde dann noch existiert?“ Und er sprach von Rüstungswettlauf, Luftverschmutzung und tödlichen Verteilungskämpfen zwischen reichen und armen Ländern.

      Welch ein Kontrast binnen weniger Jahre! War es im Raum der Kirche anders?

      In den Himmel kommen

      „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“ – das war in der Zeit meiner Kindheit das bekannteste Kindergebet. Die Akzentuierung war nicht zufällig. Der Einheitskatechismus von 1925 begann mit der Frage: „Wozu sind wir auf Erden?“ Die Antwort lautete: „Wir sind dazu auf Erden, dass wir den Willen Gottes tun und dadurch in den Himmel kommen.“ In diesem Sinne definierte die zeitgenössische neuscholastische Theologie auch die Hoffnung, nämlich als „Tugend, durch welche wir die übernatürlichen Güter von Gott unter eigener Mitwirkung zu erlangen vertrauen“.2 Mit den „übernatürlichen Gütern“ war vor allem die ewige Seligkeit nach dem Tod gemeint.

      Ich sah damals keinen Grund, solche Definitionen zu kritisieren; aber meine persönliche Hoffnung richtete sich eher auf „natürliche Güter“: darauf, dass der Krieg zu Ende ginge, dass unser Vater aus Russland heimkehre, dass wir wieder in unsere Heimat ziehen könnten, später: dass man ohne Bezugscheine einkaufen und wir ohne Reisemarken auf Fahrt gehen könnten, dass eine Freundschaft wachsen würde, und schließlich, als sich mein Blick weitete: dass es gelingen möchte, aus dem zerstörten Deutschland ein demokratisches, friedliebendes, nach christlichen Grundsätzen aufgebautes Land zu machen. Mit anderen Worten: Meine Religionsunterrichts-Hoffnung war zunächst weit entfernt von meiner Lebens-Hoffnung. Die beiden Hoffnungen gerieten nicht unbedingt in Konkurrenz zueinander; aber sie schienen auch wenig miteinander zu tun zu haben.

      Ich denke, so wird es vielen Christen und Christinnen meiner Generation gegangen sein: Was man die göttliche Tugend der Hoffnung nannte, hatte weniger mit der Lebensperspektive oder der politischen Zukunft zu tun als mit dem, was nach diesem Leben und nach dem Ende der Welt käme. Auf die Gestaltung des irdischen Lebens hatte die eschatologische Hoffnung nur insofern Einfluss, als dieses Leben als Zeit der moralischen Bewährung galt, welche im Endgericht heilsentscheidend sein würde.

      Reich Gottes

      Das wurde für mich anders, als ich mit der Spiritualität von Jugendbewegung und Liturgischer Bewegung in Berührung kam. Wir lernten „Natur“ und „Übernatur“ enger zu verbinden, theoretisch und praktisch. Wir verbanden die Erfahrung von Freundschaft in unserer Gruppe mit der Erfahrung, dass Christus in unsere Runde kommt. Wir sprachen vom „Jugendreich der Freude“ (das klingt heute arg romantisch und weltfremd, aber wir meinten damit eine jetzt und hier zu erlebende Wirklichkeit) und vom „Gottesreich“ – und die Grenzen zwischen beidem wurden fließend. Nicht, dass ich „fromm“ würde, stand im Mittelpunkt, sondern dass wir dem Reich Gottes dienten.

      Zwischen dem Kindergebet „dass ich in den Himmel komm’ “ und der Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme“ entdeckten wir, freilich erst nach und nach, vier gravierende Unterschiede: (1) Dort betet ein Einzelner, hier betet eine Gruppe. (2) Dort betet der Einzelne um sein individuelles Heil, hier betet die Gruppe um das Gelingen der Sache Gottes. (3) Dort geht die Bewegungsrichtung von der Erde weg in einen fernen Himmel, hier verläuft sie umgekehrt: Gottes Reich soll zu uns kommen. (Das wurde noch deutlicher durch die damals gültige Übersetzung „Zu uns komme dein Reich“.) (4) „Himmel“ ließ sich als eine rein zukünftige und jenseitige Wirklichkeit denken, „Reich Gottes“ dagegen meint eine Zukunft, die schon begonnen hat, und zwar auf dieser Erde. Deshalb führte die Entdeckung, dass nicht das genannte Kindergebet, sondern das Vaterunser das grundlegend christliche Gebet war, zu einer Hoffnung, die stärker geerdet und stärker sozial orientiert war.

      Das Reich Gottes sollte wachsen. Wir, die wir als Kinder noch Nazi-Herrschaft, Krieg, Verfolgung und Zerstörung erlebt hatten und nun den Aufbau der Städte, wachsenden Wohlstand, ein neues Ansehen der Kirche und neue Wertungen im schulischen Unterricht wahrnahmen, hatten den Eindruck, dass sich in diesem Wandel das Wachstum des Gottesreiches ereignen könne. Und es legte sich die Hoffnung nahe, dass es weiter aufwärts gehen würde.

      Fortschritt

      Wir sangen in unserer katholischen Jugendgruppe: „Wann wir schreiten Seit an Seit…, fühlen wir, es muss gelingen: Mit uns zieht die neue Zeit.“ Es war uns fast selbstverständlich, dass „die neue Zeit“ eine bessere Zeit sein würde, es schien uns auch nicht zu hoch gegriffen, dass diese bessere Zeit „mit uns“ kommen, uns „gelingen“ werde. Als wir erfuhren, dass dieses aus der Arbeiterbewegung stammende (und ursprünglich nicht ausdrücklich christliche) Lied erst nachträglich, nach seiner Rezeption in der kirchlichen Jugend, mit der Zeile „Christus Herr der neuen Zeit“ „getauft“ worden war, fanden wir das ganz logisch. Natur und Übernatur gehörten ja zusammen. Und so verband sich die Hoffnung auf Gottes Reich gern mit dem Glauben an den sichtbaren und spürbaren Fortschritt.

      Das Wort „Fortschritt“ galt zwar im traditionellen Katholizismus als verdächtig. Aber dann kam uns der französische Jesuit Pierre Teilhard de Chardin mit seiner Vision vom universalen Fortschritt zu Hilfe: In der biologischen Evolution, im technischen und politischen Fortschritt sah er den Schöpfer Gott und den Weltvollender Christus am Werk. Teilhards Werke, deren Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten kirchenamtlich verboten war, erschienen mit seinem Tod 1955 und gingen sofort wie ein Lauffeuer durch die katholische Welt. Sie wurden von vielen, die nach einer weltbejahenden Gestalt des Glaubens suchten, mit Heißhunger studiert und angeeignet. Einen Widerhall dessen konnte man in der Konzilskonstitution „Die Kirche in der Welt von heute“ (1965) erkennen, wo von der „Gestaltung dieser Erde“ die Rede ist, „auf der uns der wachsende Leib der neuen Menschenfamilie eine umrisshafte Vorstellung von der künftigen Welt geben“ könne.3

      Erschrecken

      Diese optimistische Sicht wurde in Frage gestellt durch ein Erschrecken, das allerdings erst in einem sehr langsamen Prozess das öffentliche Bewusstsein erreichte: das Erschrecken über die bis dahin unvorstellbaren Ausmaße, in denen die Verfolgung und Vernichtung des jüdischen Volkes in Deutschland zwischen 1933 und 1945 betrieben worden war. Für viele der Opfer war ihr Geschichtsbild zerbrochen, nicht wenige rangen um ihren Glauben an einen mächtigen Gott. „Nie werde ich diese Nacht vergessen“, schrieb Elie Wiesel, der als Jugendlicher nach Auschwitz kam, „die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat… Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen.“4 Hans Jonas, dessen Mutter in Auschwitz umkam, ging die alten Hoffnungsmotive Israels durch, die einmal gegenüber geschichtlichem Elend Lebensperspektiven geboten hatten, das Exodus-Motiv von Gottes starkem Arm, das prophetische Motiv von Schuld und Heimsuchung, das makkabäische Motiv von Zeugenschaft und Martyrium, aber: „Nichts von all dem verfängt mehr bei dem Geschehen, das den Namen ‚Auschwitz‘ trägt.“5