Bernhard Dieckmann

Verblendung, Volksglaube und Ethos


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Kleidung und sozialer Geltung interessiert die Erzählung besonders. Wie Hanna ihre Schönheit nutzt, um zu kostbarer Kleidung zu gelangen, so benutzen die Herren und Frauen ihre kostbare Kleidung dazu, um schön zu erscheinen und sich so ihrer sozialen Geltung zu vergewissern. Ein radikaler Angriff auf den Adel und seine gesellschaftliche Macht mag das nicht sein.50 Doch zumindest werden feudalistische Fehlhaltungen angegriffen, wird die Verknüpfung von körperlicher Schönheit – Ansehnlichkeit – und gesellschaftlichem Ansehen51 kritisch thematisiert. Herren und Volk, Hanna und anfangs auch Hanns sind beherrscht von einem Verständnis von Schönheit, das primär auf die äußere Schönheit – des Körpers und der Kleidung – eines Menschen schaut. Seine charakterliche Eigenart gerät dagegen nicht in den Blick. Schon das ist eine kritische Akzentuierung, denn bei Stifter gibt es eine Spannung zwischen äußerer Schönheit der Erscheinung und innerer, sittlicher Schönheit des Herzens; letztere hat eindeutig den Vorrang.

      In der „Brigitta“ von 1843 beschreibt Stifter den schweren Lebensweg einer Frau, die von Jugend an unansehnlich ist und deren Ehe daran scheitert. Erst nach vielen Jahren kommt es zu einer Versöhnung der Gatten. Brigitta umarmt ihren Mann; der Erzähler kommentiert: „... und so herrlich ist das Schönste, was der arme, fehlende Mensch hienieden vermag, das Verzeihen – daß mir ihre Züge wie in unnachahmlicher Schönheit strahlten“ (HKG 1,5; 472, 27–30). Ihr Ehemann sagt: „Es zieht uns das Gesetz der Schönheit, aber ich mußte die ganze Welt durchziehen, bis ich lernte, daß sie im Herzen liegt.“52 Dieses Wort „Herz“ wird, wie weiter unten gezeigt wird, Hanna verweigert. Dagegen wird in der Nathalie des „Nachsommer“ eine junge Frau vorgestellt, bei der sich Schönheit der Erscheinung und des Herzens gegenseitig durchdringen. Von ihr heißt es: „Der Mund war hold und unsäglich gütig, sie schien mir unermeßlich schön.“53 Stifter kann definieren: „Das Schöne ist also das Sittengesez, in seiner Entfaltung und durch sinnliche Mittel wahrnehmbar.“54

      3. Das Jagdfest und das Ansehen

      Körperliche Schönheit führt zu sozialer Geltung; soziale Geltung strebt danach, sich als anschauliche, körperliche Schönheit darzustellen und zu legitimieren. Darum geht es beim Jagdfest des Grundherren. Es wird als ein großes Schauspiel aufgezogen, das Zuschauer braucht.55 Um Ansehen geht es dabei im doppelten, im ästhetischen und sozialen Sinn. Die Herren56 wollen angesehen werden, um sich ihres Ansehens zu vergewissern. Deshalb ist das Volk unverzichtbar. Durch sein Zuschauen soll es die Geltung der Herren bestätigen. Darin vollziehen und erfahren die Herren ihre Geltung. So sind die Bewohner von Oberplan nicht nur Zaungäste, die aus der Ferne dem Treiben der Vornehmen zuschauen dürfen, sondern wesentlicher, unverzichtbarer Teil des Festes. Bei der Netzjagd sind für sie Tribünen aufgeschlagen, „denn die Herren hätten es selber gerne, wenn viele Zuschauer kämen und ihre Kunst bewunderten“ (410,3–5). Das Volk lässt sich bereitwillig darauf ein. Es kamen „sehr viele zum Zuschauen [...], und ihre Augen und Mienen verriethen fast die brennende Neugierde und das klopfende Herz“ (411,20–22). Zwar wird erwähnt, dass sich die Bewohner von Oberplan in soziale Schichten teilen, aber alle freuen sich, dass die Herren so „sehr leutselig“ (418,10) sind und nehmen begeistert am Fest teil. Ebenso ist es beim abschließenden Maskenball: „Unermeßliche Zuschauermengen strömten von allen Gegenden zusammen.“ (430, 26–27) Ein prächtiges Gebäude aus Holz, Blumen und Illuminationen sorgte für den überwältigenden Glanz des Festes. Bislang waren die Herren und ihre Frauen beim Jagdfest vielfältigen Belustigungen nachgegangen. Nun ist es für sie der Höhepunkt aller Vergnügungen, sich in ihrer „außerordentlichen“ Schönheit dem Volk zur Schau zu stellen und von ihm bewundert zu werden.

      Damit hat das Jagdfest Rückwirkungen auf das Volk. Sein „Vorstellungskreis“ (418,3) wird – im wörtlichen Sinn – „verrükt“.57 Alles geschieht „nach ganz anderem Maßstabe“ (419,20). „Es kam ihnen vor, als ob Jahrmarkt wäre, oder als ob Theaterspieler gekommen wären, oder als ob zur Fastnachtszeit Vermummungen aufgeführt würden.“ (418,4–6) Zusammenfassend heißt es: Alle hatten nur noch „schöne Kleider und Hoffahrt“ vor Augen (419,22).58 Campes „Wörterbuch“ definiert: Hoffart ist „derjenige Stolz, welcher sich durch äußeres Gepränge, Aufwand in Kleidung etc. äußert, also mit einem hohen Grade der Eitelkeit verbunden ist und sich mehr bei geringern Personen findet.“59 In diesem Wort „Hoffart“ fasst Stifter seine Kritik an Herren und Volk zusammen.

      In den Partien der Teile 3 und 4, die das Jagdfest beschreiben, findet sich auffallend häufig das Wort „alle“ bzw. „allgemein“: „... und da das Vergnügen allgemein gewesen war, so redeten jezt auch Alle miteinander“ (413,8–9). Das Jagdfest wird als ein suggestives Geschehen beschrieben, das Herren und Volk gleichermaßen begeistert und zusammenführt – zu einer Einhelligkeit, die alle blendet.60

      Folge dieser kollektiven Berauschtheit ist es, dass erst ein „Mann aus dem Volke“ (413,22–23), dann ihm folgend das ganze Volk „gleichsam mit einer Stimme“ (413,31), Hanna und Guido zum schönsten Paar ausruft. Diese Akklamation betrifft das Volk sowie Hanna und Guido auf je spezifische Weise. Schaut man auf das Volk, so spiegelt der spontane Ruf eine kollektive Stimmung, keinen rationalen, ernsthaften Plan. Das Fest hat das Volk ausgelassen gemacht; in seinem spontanen Ruf fasst es den Kult der Schönheit und die Tendenz zur Aufhebung der Standesunterschiede zusammen, die sich beim Fest zeigen. Schaut man auf Hanna, so ertappt sie dieser Ruf bei ihren tiefsten Wünschen und Erwartungen. Durch die Nähe des vornehmen Herrn, der sie mit „scharlachroth[em]“ Gesicht anblickt (414,1–2), sind ihre hochgespannten Erwartungen, die sie bei der Erstbeichte erstmals äußerte, nicht mehr völlig irreal.

      Die Szene könnte ein lustiges Intermezzo bleiben, wenn Guido anders reagiert hätte. Aber er lässt sich von diesem Ruf leiten, er begehrt Hanna und heiratet sie sogar – offenbar, weil er zusammen mit ihr als das schönste Paar bewundert werden will. Sein ganzes Verhalten zeigt diese Orientierung an der Meinung und Anerkennung der anderen: Er fällt auf und will gefallen. Deshalb verstößt er gegen die gesellschaftlichen Konventionen. Er liebt es, „der allgemeinen Sitte zuwider“ zu handeln (413,13–14); er schießt riskant und beweist so, welch ein guter Schütze er ist; seine prächtige Kleidung sticht in die Augen, und unter den Herren ist einzig sein Haar ungepudert (413,12–17).61

      Die Motivation von Hanna und Guido ist nur indirekt zu erschließen. Hannas Zuwendung zu Guido erscheint als Konsequenz ihres Verhaltens seit dem Erstbeichttag. Es wird kein Wort Hannas oder Guidos berichtet, mit dem sie ihre Heirat rechtfertigen; auch der Erzähler gibt keinen direkten Kommentar. Das entspricht Stifters Stil, dessen „Erzählstandpunkt“ sich strikt auf die „Außensicht“ beschränkt62 und damit auf die Allwissenheit des Erzählers verzichtet, also auf direkte Einblicke in das Innere seiner Personen, auf den Gebrauch psychologischer Kategorien, auf die Beschreibung von Bewusstseinsvorgängen wie Denken und Fühlen, schließlich auch auf den „auktorialen Kommentar“.63 Entsprechend werden die Emotionen von Hanna und Guido nur indirekt angesprochen. „Der menschliche Körper dient als Ausdrucksträger des Seelischen.“64 Angesichts der bewundernden Rufe des Volkes bei ihrer ersten Begegnung reagieren beide ähnlich: Sein Gesicht wird „scharlachroth“ (414,1–2); „ihr Antlitz gleichsam mit dem dunkelsten Blute übergossen“ (414,6–7). Hannas Verhalten wird noch weiter beschrieben: „Sie sah ihn eine Weile mit offenen Augen an, dann drängte sie sich unter das Volk und ging über die Treppe hinab. Ihr Benehmen war wie das einer Trunkenen.“ (414,7–9) Das Erröten der beiden und Hannas schwankender Gang machen deutlich, wie sehr sie der Ruf des Volkes getroffen hat.65 Diese knappe Beschränkung des Erzählers auf unwillkürliche, averbale Reaktionen wirkt eindringlicher als wortreiche Beschreibungen. Ähnlich wird nur in „Außensicht“ von der Werbung Guidos bei Hanna berichtet. Guido hat man „vor ihr im hohen Erlengebüsche auf den Knieen liegen gesehen, ihre Hand mit inbrünstigem Bitten haltend“ (418,20–22).66

      Nach Meinung des Erzählers ist die Heirat von Hanna und Guido keineswegs eine „Liebesheirat zwischen Arm und Reich“,67 sondern törichter Leichtsinn. So wie die Jagdgesellschaft sich darstellt, besteht sie aus Menschen, die zur Liebe unfähig sind. Dafür gibt es ein Indiz, auf das schon J.