Bernhard Dieckmann

Verblendung, Volksglaube und Ethos


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Stifters „Entpersönlichung“.68 Doch, wenn man – was weiter unten geschehen soll – den Gebrauch des Wortes „Ich“ im „Tännling“ untersucht, zeigt sich, dass diese Stelle als harte Kritik an den Herren – also auch an Guido – zu verstehen ist.

      Kritik zeigt sich ebenso im Gebrauch des Wortes „Liebe“. Bei der Freundschaft von Hanna und Hanns reden zumindest die Leute von Liebe; sie sagen, Hanna „fürchte und liebe ihn“ (396,8). Am Schluss von Teil 1 heißt es – wie schon zitiert: „Alle Menschen wußten, daß sie Liebende und Geliebte seien.“ (396,23–24) Auch wird nur bei Hanns von seiner Liebe zu Hanna gesprochen: „Die Liebe, die Zuneigung und die Anhänglichkeit wuchs immer mehr und mehr. Hanns that Alles, was ihm sein Herz einflößte.“ (404,27–29)69 Später, bei der Verbindung von Hanna und Guido, wird das Wort „Liebe“ nicht gebraucht.

      Weiter wird mit einer gewissen Betonung gesagt: „Da wollte es der Zufall ...“ (413,9), dass Hanna neben Guido zu stehen kam. Das Wort „Zufall“ ist zu beachten. Denn ein paar Seiten später wird noch einmal von ihrem „zufälligen Nebeneinanderstehen“ gesprochen (418,13). Dieses ist nicht nur Anlass für die Verbindung von Hanna und Guido, es ist – zumindest von Guidos Seite her – zudem der entscheidende Grund für die Heirat: der Eindruck, den ihre gemeinsame Schönheit auf das Volk macht.

      Auf eine Differenz zwischen Guido und Hanna ist hinzuweisen: An ihrem Erstbeichttag glänzten ihre Gefährtinnen durch feine Kleidung und gepudertes Haar. Sie dagegen trug ein grobes Kleid und litt darunter, dass die Mutter ihr keinen Puder kaufen konnte (392,22–27). Später beim Jagdfest ist dann allein Guido nicht gepudert. Während die anderen Herren alle weiß gepudert sind (411,4), will Guido mit seinen schönen Locken auffallen (413,14–16). Was soll diese Differenz bedeuten? Sie mag auf die unterschiedlichen Ausgangspunkte hinweisen: Hanna will ihre Schönheit in Reichtum verwandeln. Guido ist sein Reichtum so selbstverständlich, dass er seine Schönheit in der Unterscheidung von seinen Standesgenossen zur Geltung bringen will – er will anders sein als sie.70

      Charakteristikum dieser adeligen Gesellschaft ist die Orientierung an glänzender Selbstdarstellung, am Scheinen. Die kostbaren Kleider, die ihr so wichtig sind, bezeugen, dass es ihr vor allem um ihr Ansehen, ihre Geltung bei den anderen geht. Wenn aber so das Ansehen bei den anderen, ihre Anerkennung oder Bewunderung zum entscheidenden Kriterium des Handelns und Verhaltens wird, macht man sich von den anderen, ihren Erwartungen und Meinungen abhängig, wie das bei Guido besonders deutlich wird. Das alles ist kritisch gemeint. Die Erzählung tadelt die Herren, weil sie die Maßstäbe des Volkes verderben, es zu einem illusionären Rausch verlocken. Dem Volk wird vorgeworfen, dass es sich so selbstverständlich darauf einlässt. Niemand distanziert sich von diesem Jahrmarktstreiben.

      Dabei kann man das Jagdfest nicht als den Einbruch verdorbener höfischer Lebensweise in die archaisch heile Welt von Oberplan verstehen. Dazu lässt sich das Volk zu bereitwillig auf das Fest ein. Schon oben wurde auf die Spannung zwischen Oberplan und den Dörfern in seiner Umgebung hingewiesen. Sie wird durch das Erscheinen der Jagdgesellschaft gewissermaßen aktiviert. Von Jugend an orientiert sich Hanna an den Werten, die auch die Herren bestimmen; bei Hanns ist es anfangs ähnlich. Das Erscheinen der Herren hat Neigungen verstärkt, die schon vorher in Oberplan und seiner Umgebung virulent waren, aber bislang nicht offen hervorgetreten sind. Auch deshalb hat die Erzählung drei Hauptfiguren: Hanna und Hanns repräsentieren die beiden unterschiedlichen Lebensmöglichkeiten, die in der Gegend von Oberplan nebeneinander stehen; Guido dagegen repräsentiert die Lebensweise der Herren allein, weil es bei ihnen nichts zu differenzieren gibt.

      Der Leser soll sehen, dass sich in dieser Heirat die Faszination außerordentlicher Schönheit ad absurdum führt, sie zeigt die Gefährdung dieser Gesellschaft, ihre innere Hohlheit und Oberflächlichkeit. Zudem richtet sich der Ruf des Volkes „Das ist das schönste Paar“ negativ gegen Hanns. Der Ruf ist auch als mehr oder weniger aggressive Äußerung des Unbehagens über die unmögliche Verbindung von Hanns und Hanna zu verstehen,71 als ein Anruf an Hanna, sich nicht auf einen so unansehnlichen Kerl einzulassen. Erst durch die unvorhergesehene Reaktion Guidos gewinnt die Akklamation eine positive Bedeutung. In dieser Rücksichtslosigkeit des Volkes Hanns gegenüber kommt die Wahrheit des Festes zutage. Die Orientierung an der Schönheit, das Streben nach Ansehen zerstört die Ordnung, droht in Gewalttätigkeit und sogar Mord abzugleiten.

      4. Gewalt als Konsequenz

      Hanna und Guido werden vom Volk als schönstes Paar ausgerufen, obwohl es weiß, dass Hanna schon mit Hanns verbunden ist. Mehrmals wird hervorgehoben, dass alle das wissen – so schon im Schlusssatz von Teil 2: „Alle Menschen wußten, daß sie Liebende und Geliebte seien.“ (396,23–24) Als Hanns später die Wallfahrtskirche betritt, um für das Gelingen seines Anschlags zu beten, trifft er dort „zwei sehr alte Mütterlein, die vielleicht die einzigen waren, welche von dem Verhältnisse zwischen Hanna und Hanns nichts wußten“ (424,25–27). Sogar die Kinder wissen darum: Als Hanns auf dem Weg zur Wallfahrtskirche ist, sieht ihn ein Mädchen und macht seine Mutter auf ihn aufmerksam. „ ‚Laß ihn gehen‘, sagte diese, ‚das ist eine sehr unglükselige Geschichte.‘ “ (423,28–29)72

      Das Volk hat Hanns in eine Lage gebracht, dass ihm – beachtet man, wie er sich bislang in Konflikten verhalten hat – keine andere Möglichkeit bleibt, als sich gewaltsam gegen den erfolgreichen Rivalen zu wenden. Gegen Schluss von Teil 1 heißt es von Hanns: Er „litt keinen Schimpf und Hohn, wie gering er auch war, sondern nahm den Schimpfenden an dem Kragen des Hemdes oder an der Schulter, und warf ihn in das Gras, oder in den Sand, oder in eine Rinne, wie es kam“ (396,12–15). In Teil 2 heißt es: „Hanns war wie ein König in seinem [...] Schlage.“ (400,27–29) Als einer der drei Gründe für sein Ansehen wird angeführt: „... theils scheuten sich manche, weil er große Körperkräfte besaß“ (400,31–32) – sich also in körperlichen Auseinandersetzungen durchzusetzen wusste. Das herausfordernde oder einschüchternde Auftreten von Hanns mag sich in der Aussage spiegeln: „... die Leute sagten, Hanna fürchte und liebe ihn“ (396,7–8).73 Es ist naheliegend, dass ein Holzfäller mit so „ungemeiner Kraft in seinem Körper“ (396,7) zu seinem vertrauten Werkzeug als Mordwaffe greift. Schon in Teil 2 wird bei der Beschreibung von Hanns’ Arbeit im Wald hervorgehoben, dass er oft „die Axt oder die Keile auf der Schulter tragend“ auftritt (403, 22–23), wie es bei den Holzfällern üblich ist (400,17–18).

      Gemeinsam drängen die Herren, Hanna und das Volk Hanns in eine Situation, in der Gewalt für ihn fast unausweichlich wird. Damit kommt seine Rolle einem Sündenbock recht nahe. Diesen Vergleich rechtfertigt auch der Bezug auf weit verbreitete Sündenbock-Motive: Hanns ist ziemlich unansehnlich – „vielleicht weniger schön, als alle Andern“ (396,5–6). Zudem hat er „röthlich leuchtendes Haar“ (401,16), ein traditionelles Zeichen, das Außenseiter und Bösewichte kennzeichnet.74 Das Volk ist vom Jagdfest und der Schönheit, die es feiert, so fasziniert, dass ihm die Unansehnlichkeit von Hanns anstößig wird. Hanns wird zum Außenseiter gemacht. Man kann fast sagen: Er wird dafür bestraft, dass er nicht schön ist. Oder: Das Volk bestraft ihn für den Ehrgeiz, Hanna erobern zu wollen.

      Die Aggressivität des Jagdfestes hat eine Dynamik, die auf den Menschen ausgreift.75 Auf Hanns konzentriert sich die latente Gewalttätigkeit der Gesellschaft. Erst treibt sie ihn in die Enge, dass ihm Gewalt als einziger Ausweg erscheint, aber beginge er dann einen Mord, würde sie sich mit aller Wucht gegen ihn wenden. Nur weil Hanns fast in letzter Minute seinen Mordplan aufgibt, kann diese Dynamik ins Leere laufen.

      Eine analoge Situation gab es schon bei der früheren Netzjagd, die der alte Schmied als Kind miterlebt hat: Damals war ein Bär ins Netz geraten,76 er diente „bald zum allgemeinen Ergözen [...], indem Jeder so schnell als möglich sein Geschik an ihm versuchen wollte“ (406,28–29). Obwohl bereits verwundet, gelang es dem Bären, das „furchtbar starke Geflecht“ zu zerreißen (407,1): „Der Bär und der ganze gehezte Schwarm, der noch übrig war, fuhr nun mit großem Getöse durch das Loch hinaus ...“ (407,4–6) Entsprechend wird vor der zweiten Netzjagd gefragt, ob sich unter dem eingekesselten Wild ein Bär befinde. Die Antwort lautet: „Ob ein Bär eingegangen sei, wisse man nicht genau,