Matthias Sellmann

Was fehlt, wenn die Christen fehlen?


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wird, wenn diese Leute fehlen.

      – Denen, die sich sicher sind, dass Christsein in ‚Moral‘ aufgeht, in ‚Dogma‘, ‚Kirche‘ oder ‚Gehorsam‘ oder dass man den Anspruch erhebt, mit einem bestimmten ‚Glauben‘ den ‚Weg‘ aus allen Schwierigkeiten gefunden zu haben, möchte es sagen: Weit gefehlt.

      – Und denen, die selber Christen sind und die in den letzten Jahren durch so viele verwirrende Prozesse (Skandale um Missbräuche, Zusammenlegung von Gemeinden, Schließung von Kirchen, Fehlen von Priestern usw.) unsicher geworden sind, warum man überhaupt noch dabeibleibt, möchte es zurufen: Vielleicht darum.

      Das Buch wird von jemandem geschrieben, der selber zu den Christen gehört. Der Autor ist einer dieser ambivalenten Gutmenschen. Natürlich ist es darum parteiisch. In Wahrheit will es dafür werben, die Option des Christseins für ein Leben auf der Höhe der Zeit für sich zu prüfen. Aber es entspringt einem bestimmten Zorn; und der macht (hoffentlich) die Energie des Buches auch für die aus, die keine Christen sind.

      Christsein hierzulande ist nämlich zu einer Karikatur seiner selbst geworden. Es steht in einem Ruf, in den es nicht hineingehört – jedenfalls meiner Meinung nach. Christinnen und Christen werden als hüftsteif erlebt, als schnell beleidigt, oberlehrerhaft, vergangenheitsorientiert, langsam, überheblich, diskriminierend, autoritätshörig, lebensuntüchtig, bieder, blutleer. Sie scheinen auf der Bühne des modernen Lebens herumzustehen wie die Requisiten des Volkstheaters, die man wegzuräumen vergessen hat.

      Für viele dieser Zuschreibungen gibt es gute Gründe und sicher auch viele unschöne Erlebnisse. Und trotzdem: Wer das Christsein weglegt, sollte sich nicht von irgendwelchen Papp-Kameraden befreien, sondern von jener realen kulturellen Kraft, die nachweislich eine Menge geschafft hat. Alles andere wäre ein zu billiger Gegner. Man bestreitet ja auch nicht die Schönheit Skandinaviens nur deswegen, weil man noch nie dort sein konnte.

      Insofern freuen sich Buch und Autor tatsächlich vor allem, wenn die Karikatur des Christseins zugunsten eines realeren Bildes durchbrochen werden kann. Wenn es gelingen kann, die Aufmerksamkeit von Nicht-Christinnen und -Christen zu bekommen. An diesem Gespräch fehlt es nämlich. Das Minimum, was ich hier erzielen will, ist Respekt für eine bestimmte Form von Lebensklugheit, die das Christsein entdeckt hat und die – das ist versprochen – auch von denen genutzt werden kann, die keine Christen werden wollen. Das Gegengeschenk für diese wertvolle Dosis Lese- und Lebenszeit wird sein: Kürze; verständliche Sprache; Relevanz für existenzielles, freies, selbstbestimmtes Leben; ein Mix aus Information und Unterhaltung; Multimedialität (siehe die Vorbemerkung).

      Die leitende Frage ist diese: Wie kommt man anständig und kreativ durch das eigene und durch das gemeinsame Leben? Und inwiefern kann Christsein hier inspirieren?

      Damit sei bereits der erste Punkt gesetzt: Christsein ist eine Ressource für positive, gelingende Existenz. Und alles, was dazugekommen sein mag – komplizierte Dogmen oder schlichte Marienandachten, einschüchternde theologische Bibliotheken oder anpackende Sozialarbeiter-Nonnen, Weihnachtsläuten im Schnee oder Messdienerlager am See –, all dies will nichts anderes sein und bedeuten als eine Hilfe zum Leben. Noch der Gottesdienst, den man zur Ehre Gottes feiert und in dem eben nicht jeder Moment vor den Karren der gelingenden Biografie gespannt wird, entspringt einer existenziellen These: dass es nämlich zu sich hinführt, von sich wegzukommen.

      Der übliche Beleg für diese Zentralstellung eines vollen, reichen, satten Lebens ist aus dem Neuen Testament der Ausspruch Jesu: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Aus dem Alten Testament kann man dieselbe Idee über die Rede von der andauernden Schöpfung beziehen, der creatio continua. Den bekannten ersten Vers der Bibel „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ kann man nämlich auch so übersetzen: „Als Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ – und schon nimmt das Ganze Fahrt auf. Leben ist Bewegung, Bewährung, Veränderung. Lebensfülle ist machbar, Herr Nachbar.

      Aber Achtung: Hier wird es sprachlich schon brenzlig. Diese Rede vom ‚Leben in Fülle‘ oder vom ‚dauernden Anfangen‘ kriegt schnell Patina, klingt nach Predigt und Kalender und muss dringend aus einer drohenden Seichtigkeit gerettet werden. Daher schlage ich vor, einen weit unbequemeren Begriff anzupeilen: den der Lebensleistung.

      Genau die Fixierung auf den Punkt der Lebensleistung ist dem Christsein hierzulande verlorengegangen. Darum wirkt es oft so einstudiert, weil man es wie einen Energydrink zu sich nimmt, ohne dass man für irgendetwas wachbleiben will.

      Dabei ist es so simpel zu schreiben wie schwer zu tun: Menschen, wer und wo immer sie sind, müssen und wollen ihre Lebensleistung bringen. Ob wir es mögen oder nicht: Leben heißt performen. Je erwachsener Menschen werden, desto mehr geht ihnen auf, dass ihr Leben auf zwei Dimensionen eine Antwort geben muss: erstens auf die Belange anderer, ihnen zugeordneter Menschen, Situationen und Aufgaben (sei diese Zuordnung freiwillig und erfreulich oder nicht); und zweitens auf die in ihnen als Subjekte spürbaren Impulse, seien es Träume, Ängste, Grenzen oder Ideen. Menschen leben in dieser Doppel-Grammatik von ‚Widerstand‘ und ‚Impuls‘.

      Unsere Situationen sind das Material, das in dieser Grammatik durchzudeklinieren ist Und die Vokabeln ‚Schönheit‘, ‚Krankheit‘, ‚Glück‘, ‚Liebe‘, ‚Versagen‘, ‚Armut‘, ‚Pflicht‘ usw. bilden manchmal Sätze mit Sinn – manchmal sogar stimmige Reime und ganze Gedichte –, oft, sehr oft aber auch versickerndes Geschwätz. Dann steht man vor den eigenen Lebenssätzen, sieht weder Satzbau, Punkt noch Komma und wünscht sich sehnlichst, dass kein Deutschlehrer um die Ecke kommt.

      Man kann Bücher über Bücher darüber schreiben und Film über Film darüber drehen – es ändert doch nichts daran: Ein Leben lebt sich nicht von selbst; man muss Entscheidungen treffen, Antworten geben, Mitstreiter/innen finden, es mit sich aushalten und im Ganzen sein Glück versuchen. Und je mehr man sich dem stellt, desto mehr steht man in seiner Lebensleistung.

      Und das heißt: Das Allgemeinste, was uns als Menschen verbindet, ist der Bedarf an Hilfen für die Lebensleistung. Darum ist jede und jeder interessant und nützlich, der hierzu einen Vorschlag einbringt: sei dieser philosophisch, religiös, skeptisch, lebenspraktisch, esoterisch, karrieristisch oder wie auch immer.

      Die Christen gehören dazu. Sie haben eine Idee, wie ‚es‘ gehen kann. Und sie machen einen Vorschlag.

      Diesen Vorschlag kann man nun in vielen Varianten rüberbringen. Das Christentum ist eine große komplexe Sache; es ist immerhin eine Weltreligion – und so viele gibt es davon nun auch nicht; es gliedert sich in unzählbare Konfessionen und Denominationen; es hat früher anders geschmeckt als heute; und natürlich hat auch noch jede und jeder seinen eigenen Reim aufs Leben, Christ hin, Christin her.

      Um der Komplexität in diesem Buch gerecht zu werden, die Einfachheit aber nicht zu verlieren, möchte ich mir mit einem Projekt behelfen, das theologisch etwas aus der Mode gekommen ist: Ich werde eine Kurzformel ihres, der Christen, Glaubens entwickeln. So heißt es ja schon im Buchtitel. Was eine ‚Kurzformel‘ ist und was nicht, dazu später im nachfolgenden Kapitel.

      Hier aber schon mal dieses: Wer den Christen begegnet, der stößt sehr schnell auf ihre Lieblingszahl – und das von Kiel bis Garmisch und von Syrien bis Tokio. Es ist die Zahl Drei. Diese Zahl muss ihnen etwas sehr Wichtiges bedeuten. Und darum muss jede Kurzformel, die den Punkt treffen will, diese Zahl aufmerksam beachten.

      Einige Belege. Die Christen feiern drei große Feste im Jahr, Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Das sind ihre großen Christusfeste – die Zeit von Mai/Juni bis Dezember ist dagegen der Alltag, der ‚Jahreskreis‘. Egal ob Dorfkapelle oder Dom, in ihren Kirchen setzen sie mindestens drei fromme Stationen in Architektur um: eine inszenierte Eingangssituation (Portal, Vorhof, Weihwasser), einen Durchgang (Prozession, Gabenbereitung, Interaktion), einen Vorleseort und einen Altar (Lesung, Gebet, Wandlung, Segen). In ihrer Hauptfeier, der sogenannten Eucharistie, bekennen sie in einem zentralen rituellen Gebet das ‚Geheimnis ihres Glaubens‘. Es ist eigentlich