Christian Hennecke

Gottes Design entdecken - was der Geist den Gemeinden sagt


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gesagt wurde, die schmerzvollen Erfahrungen sprachen und sprechen weiterhin für sich. Denn wenn Menschen energiegeladen und „einsatzbereit“ von einem solchen Seminar zurückkamen und -kommen und es dann keinen Ort gibt, ihre (neu) entdeckte Gabe ins Spiel zu bringen oder sie ins Spiel bringen zu dürfen, sind Enttäuschung und Frustration vorprogrammiert.

      Hier zeigen sich erste Spuren, denen wir in diesem Buch weiter nachgehen wollen: die Frage nach dem konkreten Kontext und nach unserem Verständnis von Partizipation. In der Willow-Creek-Gemeinde, in der das D I E N S T-Seminar entstanden ist, war und ist das ganz klar: es geht darum, in einer konkret existierenden Gemeinde Menschen zu ermöglichen, dass sie ihre Gaben genau dort einbringen können. Konkret also um einen Dienst an und in einer fest definierten Gemeinde.

      Sehr anschaulich zeigt dies eine kleine Geschichte, die der Gründer und Pfarrer der Gemeinde, Bill Hybels, oft erzählt hat: es kamen zu ihm zwei Männer, die zur Gemeinde gehörten und sich dort gern konkreter einbringen wollten. Sie wussten aber nicht wie, denn „wir können nichts, was man in der Kirche braucht!“ (nebenbei, was genau ist eigentlich gemeint, wenn hier von „Kirche“ die Rede ist? – eine weitere Frage, der wir in diesem Buch auf die Spur kommen wollen). Bill Hybels fragte sie dann, was sie denn könnten, und die Antwort war ganz klar und sehr praktisch: „Wir können Autos reparieren!“ Entstanden ist daraus das „car ministry“: zwei bis drei Mal in der Woche stellen diese beiden Männer Zeit zur Verfügung, in der sie Autos reparieren; Autos von Menschen, die das Geld für eine Reparatur in einer „offiziellen“ Autowerkstatt nicht hätten. Wer die USA kennt, weiß, was das bedeutet. In einem Land, in dem das öffentliche Transportwesen sehr beschränkt ist und fast alles im Individualverkehr abläuft, ist das in der Tat ein großer Dienst an den Bedürftigen – der sich im Kontext einer konkreten Gemeinde vollzieht.

      Als wir angefangen haben, mit dem D I E N S T-Seminar zu arbeiten, scheint uns aber genau dieser wesentliche kontextuelle Aspekt entgangen zu sein. Deutlich wurde zwar sehr schnell, dass dieses Seminar nicht immer „passt“, z. B. bei den Gabenfragebögen, die ganz klar an den amerikanischen freikirchlichen Kontext der Willow-Creek-Gemeinde angepasst sind. Aber dies haben wir zunächst eher als einzelnen „Stolperstein“ gesehen, etwa in Formulierungen, die in unserer anderen kirchlichen Kultur nicht aus sich heraus verständlich sind (wie z. B. „den ‚Zehnten‘ geben“). Die tiefer liegende, sehr grundsätzliche Frage nach der Relevanz des Kontexts, in dem sich hier Gabenfindung ereignet, rückte erst sehr langsam in unseren Blick. Nach wie vor scheint es oft eher darauf hinauszulaufen, dass überall dort, wo über Gabenorientierung nachgedacht wird und erste Schritte gegangen werden, am Anfang eben ein Gabenseminar steht. Und ein wesentlicher Aspekt – nämlich der Kontext – erst nach einem solchen Seminar bedacht wird. Aber wenn Gabenorientierung tatsächlich ein Baustein von Kirchenentwicklung sein soll, dann reicht eben kein „schön, dass wir’s mal gemacht haben!“.

      Aus dem US-amerikanischen Raum findet neben D I E N S T-Seminaren auch die katholische Variante „Called and Gifted“, die aus dem „Catherine of Siena-Institut“ in Chicago kommt, Verbreitung. 1993 in Amerika entwickelt, wird mit dieser Seminarreihe als „process of spiritual discernment“ (Prozess einer geistlichen Unterscheidung) auch in Europa, besonders in England, gearbeitet.4 Aber es zeigt sich auch hier, vor allem in den Gabenfragebögen, dass eben nichts so einfach übertragbar wäre, geschweige denn zu kopieren.

      Und so wurden auch im deutschsprachigen Raum Gabenseminare entwickelt, von denen wir hier, neben einer Reihe anderer, das Gabenseminar „Ich bin dabei“ von Silke und Andreas Obenauer5 erwähnen wollen. Entstanden im evangelischen Kontext der Landeskirche Baden, wird auch im katholischen Raum viel mit diesem Gabenseminar gearbeitet. Das hat Gründe: „Ich bin dabei“ spricht von und erläutert Gaben in einer Sprache, die wenig „Übersetzung“ für Menschen braucht, die nicht aus einem kirchlichen oder theologischen „inner circle“ kommen. Und bei der Arbeit mit den Gabenfragebögen zeigt sich sehr schnell, dass die Teilnehmer gut damit umgehen können und nicht ständig an einem fremden Kontext hängenbleiben.

      Aber auch hier: im Untertitel schreiben Obenauer/Obenauer von gabenorientierter Gemeindearbeit. Der Rahmen ist also klar gesetzt und klar begrenzt. Was aber jenseits dieses (binnenkirchlichen) Raumes sein könnte – und ja auch ist –, dem wollen wir in diesem Buch weiter auf die Spur kommen.

      Eine weitere interessante Frage stellte sich uns immer wieder neu: zu welcher Entdeckungsreise laden wir denn eigentlich ein, wenn wir von Gabenorientierung sprechen – und entsprechende Workshops durchführen? Geht es nicht, jenseits aller Seminare, vielmehr darum, die Menschen – eben alle Menschen – an einem konkreten Ort mit ihren Gaben wahrzunehmen und sie zu ermutigen ihrer eigenen Sendung zu folgen?6 Diese Klärung ist wichtig, weil sie letztlich den Kern unseres kirchlichen Selbstverständnisses berührt. Wenn es also in der Tat nicht darum geht, Menschen zu finden, die die anstehenden Aufgaben irgendwie noch erfüllen können, wenn Kirche, wie Klaus Hemmerle7 sagt, die Gemeinschaft vieler unterschiedlicher Charismen ist, wie können dann die Charismen als „göttliche Berufung und Begabung“ entdeckt und ins Spiel gebracht werden – „als göttliche Berufung und Begabung zum Engagement!“8.

      Genau hier stellt sich dann nämlich die Frage nach dem größeren Ganzen: Wie eng denken wir „Kirche“, „Leib Christi“ in der Perspektive von Gottes Reich – und wie weit könnten oder sollten wir denken? Dies ist ein weiterer Faden, den es in diesem Buch aufzunehmen gilt.

      Dieses Ringen um Klärung hat auch die Workshops und Seminare verändert – und verändert sie immer wieder neu, gerade auch im Blick auf Zielrichtungen und Zielgruppen. Denn wenn es darum geht herauszufinden, wie die Menschen an einem konkreten Ort ihre Gaben miteinander entdecken und ins Spiel bringen können, dann stellt sich uns ganz klar die Frage, ob Gabenseminare das leisten können. Oder ob nicht, wie eingangs erwähnt, Gabenseminare sinnvollerweise eher ein dritter oder vierter Schritt im gesamten Feld der Gabenorientierung sind.

      Wir taten einen weiteren Blick über den Tellerrand: Be-Gabung und Be-Rufung sind auch anderenorts ein wichtiges Thema, aber eben anders als oft bei uns und schon gar nicht im Zusammenhang mit Gabenseminaren. Wir schauten in das Erzbistum Poitiers. Dort hat sich eine Kultur des Rufens entwickelt und die ist hier zentral für Leben der communantes locales. „Örtliche Gemeinde“, so haben wir das übersetzt, aber die Wirklichkeit, die sich hinter diesem Begriff verbirgt, umfasst eben nicht nur das, was wir „kirchlich“ hören, wenn wir Gemeinde sagen, sondern alle Menschen, die an diesem Ort leben. Menschen, die miteinander in Beziehung stehen, rufen sich gegenseitig in einen Dienst an der Gemeinschaft. Ihnen wird zugesprochen und sie sprechen sich gegenseitig zu : du kannst das, wir sehen das in dir und wir trauen dir das zu! Es geht also auch hier um einen konkreten Ort, aber hier kommt das alltägliche gemeinsame Leben ins Spiel, das Sich-Wahrnehmen und In-Beziehung-miteinander-Sein.

      Und wie ist das bei uns? Gerade die Erfahrung von Poitiers hat diese Fragen in uns noch einmal verstärkt. Ein Gabenseminar quasi flächendeckend und für „alle“? Oder gilt nicht vielmehr auch für uns, dass wir ein Gespür dafür haben, welche Gaben Gott in uns hineingelegt hat – und auch in die Menschen, mit denen wir leben? Und trauen wir uns zu, dies – in aller gebotenen Form – anderen zuzusprechen? Und trauen wir Gott zu, dass alle Gaben, die am konkreten Ort gebraucht werden, auch geschenkt sind?

      Das wäre in der Tat ein radikaler Paradigmenwechsel. Ein Paradigmenwechsel, der Vertrauen, Zutrauen, Wahrnehmen und Beziehung-Aufbauen als wesentliche Merkmale hat.

      „Unsere erste Aufgabe in der Annäherung an eine andere Person, eine andere Kultur, eine andere Religion ist es, unsere Schuhe auszuziehen, denn der Ort, dem wir uns nähern, ist heilig. Sonst könnten wir uns dabei ertappen, wie wir auf dem Traum eines Anderen herumtreten. Noch ernster ist: wir könnten vergessen, dass Gott schon dort war vor unserer Ankunft“ (Marc Alexander C. Warren). Diesen Satz hörten wir zum ersten Mal auf den Philippinen, auf der Insel Mindoro. Und der, der ihn uns sagte, war Pater Ewald Dinter, ein deutscher Missionar, der dort seit 26 Jahren mit den Ureinwohnern der Insel, den Mangyanen, in den Bergen lebt. Wahrzunehmen und wertzuschätzen, was schon da ist, was Gott schon getan und geschenkt hat, dies hat sich uns seit der Begegnung mit Pater Dinter noch einmal ganz neu eingeprägt. Und wenn wir von Kirchesein und -werden