Christus nicht nur wegen der menschlichen Taten und Errungenschaften, sondern mehr noch wegen der unsäglichen Leiden ein besonderes Gewicht, das um keinen Deut geringer ist als das der Vergangenheit und Vorvergangenheit, also des alten Äons, der durch Christi Kreuz und Thronbesteigung überwunden ist.
Dass dessen Herrschaft bereits in der Jetztzeit einsetzt, zeigt Ps 2 gewissermaßen als Antwort auf den Machtanspruch der Nationen und ihrer Herrscher: »Dann aber spricht er zu ihnen im Zorn, / in seinem Grimm wird er sie erschrecken: ›Ich selber habe meinen König eingesetzt / auf Zion, meinen heiligen Berg‹« (Ps 2,5 f.). Daraufhin folgt die Bekundung der Zeugung als Sohn, der Christus wohl dem Wesen nach immer gewesen ist, doch als der Gesalbte, also als messianischer Herrscher, erst jetzt proklamiert wird im Sinne einer Selbstproklamation. (In Hebr 5,6 wird hier noch nach Ps 110,4 Christus als ewiger Priester nach der Ordnung Melchisedek bekannt.) Ihr schließt sich die Aufforderung Gottes des Vaters an: »Fordere von mir, und ich gebe dir die Völker zum Erbe, / die Enden der Erde zum Eigentum. / Du wirst sie zerschlagen mit eiserner Keule, / wie Krüge aus Ton wirst du sie zertrümmern« (Ps 2,8 f.). Das ist eine eindeutige Sprache, die nichts mit einer lediglich innerlichen Beherrschung zu tun hat, sondern mit dem Erweis messianischer Macht gegenüber den Machthabern der Geschichte. Ihm schließt sich der Aufruf zur Einsicht an die Könige und Gebieter der Erde an, »damit er nicht zürnt / und euer Weg in den Abgrund führt. Denn wenig nur, und sein Zorn ist entbrannt. Wohl allen, die ihm vertrauen!« (Ps 2,12). Man muss kein Anhänger einer neuscholastischen natura pura sein, um sich über Augustins abschließende Auslegung über die »Richter der Erde« zu wundern: »Was unter dem geistlichen Menschen steht, wird mit Recht ›Erde‹ genannt, weil das Irdische von dem Makel der Erde versehrt ist.« Setzt doch gemäß der Apokalypse (vgl. Offb 11,18) mit dem Ertönen der siebten Posaune ein »die Zeit, alle zu verderben, die die Erde verderben«. Immerhin ist die Erde noch im Stand des Sündenfalls Schöpfung Gottes, kein Machwerk des Bösen.
So vorbildlich nicht zuletzt Augustins Psalmauslegungen sind, so haben wir hier Ps 2 deshalb ausgiebig »gegengelesen«, weil der augustinische Dualismus von Zeit und Ewigkeit die Einsicht in den komplementären Zusammenhang von Zeit und Ewigkeit verstellt hat, so dass die Theologie gewissermaßen die Deutungshoheit über die Geschichte einbüßte, die sich in die geistliche Welt der Civitas Dei und in die irdische einer Civitas terrena gabelte. Solange letztere – wie im Mittelalter – unter der Obhut von christlichen Herrschern stand, mochte es zwar Konflikte gleichsam interner Art wie den Investiturstreit geben, jedoch über die jeweilige Ausübung der Herrschaft hinaus keine grundlegenden Gegensätze. Mit zunehmender religiöser Wendung nach innen, im Zuge der sog. Verinnerlichung des religiösen Lebens, bei gleichzeitig wachsender Säkularisierung der Außenwelt, schließlich des gesamten neuzeitlichen Weltbildes, trat die messianische Dimension der Gottesherrschaft, von der eschatologisch-apokalyptischen gar nicht zu reden, zusehends in den Hintergrund. Aus religiöser Sicht war das Interesse bereits in der Neuzeit nicht sonderlich groß, der apokalyptischen Dimension der Geschichte ins Auge zu sehen, wie der von Walter Benjamin in seinem Trauerspielbuch mit Blick auf das Zeitalter der Gegenreformation, also auf das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, registrierte »Ausfall der Eschatologie« belegen mag. »Nichts war ihr ferner als die Erwartung einer Endzeit, ja auch nur eines Zeitenumschwungs«, heißt es da, was unter anderen Vorzeichen nicht weniger für unser säkulares Zeitalter zutreffen könnte, das ein permanentes Krisen- und Katastrophenbewusstsein pflegt, ohne einen Blick auf das Ende zu verschwenden. »Der religiöse Mensch hält an der Welt so fest, weil er mit ihr sich einem Katarakt entgegentreiben fühlt. Es gibt keine barocke Eschatologie; und eben darum einen Mechanismus, der alles Erdgeborene häuft und exaltiert, bevor es sich dem Ende überliefert.« An solcher »Weltverhaftung« hat sich bis heute nicht sonderlich viel geändert, als hätten die Christen die Wiederkunft des Menschensohnes und den Anbruch des Gottesreiches zu fürchten. Oder aber es erscheint ihnen in einer geradezu sagenhaften Ferne, wie im ausgehenden Mittelalter, an der Schwelle zur Neuzeit. »In der Geheimen Offenbarung lesen wir«, vermerkt der Mystiker Johannes Tauler († 1361) in einer Predigt zum Fest Kreuzerhöhung, »dass große unsägliche Plagen über die Menschheit kommen werden, nicht viel geringer als die des Jüngsten Gerichtes, obwohl dieses noch nicht da ist.« Und weiter heißt es: »Die Zeit der Geschichte ist erfüllt; wir warten auf sie alle Tage, alle Jahre, jeden Augenblick und wissen nicht, wann diese Plagen eintreten und von wo sie kommen werden.«
Man reibt sich nach diesen Zeilen die Augen: Immerhin war Tauler ein Zeitgenosse jener gewaltigen Pestepidemie, die in Europa mehr als ein Drittel der Bevölkerung hinraffte; allein in Florenz kamen binnen eines Jahres mehr als 100000 Menschen ums Leben. Dann das Exil der Päpste in Avignon, das den Niedergang der mittelalterlichen Kirche beschleunigte. Schließlich der Hundertjährige Krieg, der den Übergang zur Neuzeit mit seinen Nationalstaaten einleiten sollte, wenngleich dessen Ende freilich Tauler nicht absehen konnte. Heute, nach dem »Ende der Neuzeit« (Romano Guardini), ja nach dem Ende der klassischen Moderne sowie des zwanzigsten Jahrhunderts, können Theologie und Kirche es bei einer bloßen Innenschau so wenig belassen wie bei Anleihen von außertheologischen Zeitdiagnosen, die ohnehin nur selten über bloße Kulturkritik und historische Kulturvergleiche („Kampf der Kulturen«) hinausfinden. Wie schon in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts ist heute mehr denn je eine theologische Deutung der Vorgänge in der Gegenwart gefordert. Und wenn sich säkularistische Geister dagegen verwahren, ja manche säkularisierte Theologen es bei einer rein historischen Aufbereitung der überlieferten Texte belassen wollen, dann seien sie an eine »Methodenanweisung« zu Benjamins Passagen-Werk erinnert, die wir uns im Laufe unserer theologischen Arbeit zu eigen gemacht haben: »Sich immer wieder klar machen, wie der Kommentar zu einer Wirklichkeit (…) eine ganz andere Methode verlangt als der zu einem Text. Im einen Fall ist Theologie, im andern ist Philologie die Grundwissenschaft.« Denn die Philologie der überlieferten Texte ist eine Sache; eine andere ist die Wirklichkeit, aus der sie hervorgehen. Es gehört zu den Illusionen des menschlichen Geistes seit den Tagen des Deutschen Idealismus, dass diese Wirklichkeit als eine Schöpfung unserer selbst missverstanden wird: Zumal in unseren Tagen wird überdeutlich, wie wenig wir die erste und die zweite Natur beherrschen; uns Naturkatastrophen wie Nuklearanlagen, die für Naturbeherrschung und technologischen Fortschritt stehen, in Atem halten.
Deshalb ist es an der Zeit, Abschied von einer rein immanenten Geschichtsdeutung zu nehmen, die sich letzthin in einer Rekonstruktion der Vergangenheit erschöpft, nachdem alle Versuche einer historischen Sinngebung – bis in die Theologie hinein – gescheitert sind. Und wenn das Zweite Vatikanische Konzil in seiner dogmatischen Konstitution über die Kirche diese wiederholt als »dieses messianische Volk« (vgl. Cap. 2,9) bezeichnet, dann hat auch endlich die heutige Theologie die Geschichte im Spannungsbogen zwischen der messianischen Gegenwart Jesu Christi und ihrer eschatologischen Vollendung in der Wiederkunft Christi zu deuten, ganz wie es im Neuen Testament grundgelegt ist. Die derzeitige Krise der Kirche in der westlichen Welt beruht nicht zuletzt darauf, dass ihr Zusammenhang seit geraumer Zeit überhaupt nicht mehr gesehen wird, sieht man einmal von wenigen Ausnahmen ab. Wir sind vor Jahren nicht zuletzt durch die einschlägigen Arbeiten Erik Petersons angeregt worden, jenem Zusammenhang nachzugehen; doch bereits vor vier bis drei Jahrzehnten haben uns die Überlegungen des jüdischen Philosophen Walter Benjamin zum »Einstand von Moderne und Apokalypse« auf die Spur einer theologischen Deutung der Moderne gebracht. Denn nicht allein die Menschen in der kriegsneutralen Schweiz der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren an einer theologischen Deutung der Vorgänge in der Gegenwart interessiert. Vielmehr waren die Zeichen der Zeit längst absehbar, wie die folgenden vier Aufsätze belegen mögen, die sich auf den Zeitraum von 1834 bis 1936 beziehen; also gut ein Jahrhundert umfassen, das die Geschichte grundlegend verändern sollte. Kaum ein Zufall, dass es sich bei dem Gegenstand der betreffenden Aufsätze um Gedanken aus dem ästhetischen Bereich handelt, gewissermaßen um Vorausbilder der heraufziehenden Wirklichkeit, insofern nach einem Wort Kafkas die Kunst eine Uhr ist, die vorgeht, während die Theologie, der eigentlich die Aufgabe zufiele, die Zeichen der Zeit zu deuten, seit geraumer Zeit eher wie ein erschöpfter Läufer abgeschlagen hinterherhinkt oder dem jeweiligen Zeitgeist hinterherhechelt.
Man muss jedoch nicht aus dem Geist des Evangeliums auf irgendwelche lärmende Parolen des Zeitgeschehens »abfahren«, um in Erfahrung zu bringen, was die Stunde geschlagen hat. Im Schweigen der Kunstwerke, ihrer Deutungen oder von