eigentlichen Sinn pflegebedürftig sind.14 «Wann sollen wir dazwischenfunken? Bei vielen Menschen könnte man einiges aufgleisen: Körperpflege, Haushaltshilfe, Mahlzeitendienst wären von aussen gesehen vielleicht angebracht, aber persönlich nicht erwünscht», stellt Regina Germann fest. «Wenn Leute zufrieden leben, wo sie seit ewig verwurzelt sind und sich trotz gesundheitlicher Einschränkungen gut arrangieren, dann müssen wir die Dinge einfach mal stehen lassen können.» Die diplomierte Pflegefachfrau arbeitet in einem Koordinationsteam der Spitex Zürich. Änderungspotenzial gebe es immer. Doch das Recht auf Selbstbestimmung gelte mehr. «Es kann in einem privaten Zuhause nicht nach unseren Vorstellungen ablaufen. Würden wir alles durchorganisieren und standardisieren, wäre es wie in einer Institution» – was der Aufgabe der Spitex, den Menschen ein gutes Leben in der selbst geschaffenen Umgebung zu ermöglichen, widersprechen würde.
Auszuloten, was jemanden entlasten oder aber überfordern könnte, ist für Regina Germann ein spannender und immer wieder lehrreicher Aspekt der Spitex-Arbeit. Indem sie die Menschen dort erlebe, wo sie sich aufgehoben und am sichersten fühlen, trete sie in ihr reales Leben ein und lerne ihre echten Bedürfnisse, Schwierigkeiten und Ressourcen kennen. Beim Zuhören und beim Beobachten der Gewohnheiten und der Risikobereitschaft lässt sich erkennen, was Würde für das Gegenüber bedeutet. «Von unzähligen Leuten habe ich wichtige Dinge mitgenommen, die ein selbstbestimmtes, gelungenes Leben kennzeichnen mögen.» Sie erzählt von einer Frau, die hundert Jahre alt wurde, viele ihrer Fähigkeiten verloren hatte, nicht aber ihre Lebensfreude. Auch wenn es umständlich, ja beschwerlich war, so ging sie immer noch regelmässig nach Pontresina in die Ferien. Die Bahnreise unternahm sie allein und sagte mehrmals: «Alles, was ich abgebe, kommt nie mehr zurück.» Wenn etwas nicht mehr möglich war, konnte sie es loslassen und sich stattdessen auf etwas anderes konzentrieren.
Der Respekt der individuellen Lebensweise gegenüber, so Regina Germann, stärke die Menschen, damit sie ihren Alltag meistern können. Die Besuche der Spitex sind für viele Menschen, die aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität oft zu Hause sind, der einzige regelmässige Bezug zur Aussenwelt. «Die meisten freuen sich, wenn sie mich sehen. Da wir viele Leute während Jahren begleiten, entstehen starke Beziehungen. Die meisten Klientinnen und Klienten habe ich gern.» Regina Germann spricht an, was für viele Pflegende zur Berufsethik gehört und zweifellos zum Wohl der Leute beiträgt, aber unter Zeitdruck verloren gehen kann: die Bezugspflege. Regina Germann erzählt von einer allein lebenden, älteren Frau, für die sie pflegerisch enorm viel überlegt, geplant, organisiert und ausgeführt hatte. Eines Tages habe die Frau zu ihr gesagt: «Ihr Besuch nützt mir mehr als all die Tabletten, die Sie mir bringen. Wenn ich einen Moment mit Ihnen reden kann, geht es mir nachher besser.» Das war ein Schlüsselerlebnis für Regina Germann. «Manchmal geht es mehr um Menschlichkeit, weniger um ausgeklügelte, wissenschaftlich begründete Pflege. Und ob diese Frau täglich geduscht und perfekt frisiert wird, ist zweitrangig.»
Spitex gehört zum Alltag von Einzelpersonen, Paaren und Familien
In vielen privaten Häusern und Wohnungen gehen Mitarbeitende der Spitex über Jahre mehrmals täglich ein und aus. Kinder, Jugendliche, jüngere und ältere Menschen mit einer chronischen Krankheit oder einer Behinderung können daheim leben, wenn die Spitex berät, pflegt, unterstützt. Sei es, weil eine querschnittgelähmte Frau allein lebt und Hilfe braucht für den Transfer zwischen Bett und Rollstuhl, oder weil Angehörige nicht alle Aufgaben übernehmen können und sollten. Manchmal ist es von Aussenstehenden schwer nachvollziehbar, wie jemand mit einem grossen Bedarf an Pflege zu Hause sein kann und vielleicht sogar die meiste Zeit allein verbringt. Besser verstehen lässt sich die Situation, wenn man diese Person und einige ihrer unverzichtbaren, persönlichen Gewohnheiten kennenlernt. Es entsteht eine individuelle Sicherheit durch die alltäglichen Rituale – mögen sie noch so klein sein wie beispielsweise ein Glas Tomatensaft und zimmerlaute Radiomusik zum späten Frühstück. Für viele Personen ist es unvorstellbar, sich in einer Institution, in einem grossen Haus mit identischen Räumen und fremden, nicht selbst gewählten Mitmenschen anpassen zu müssen.
Die Pflegepläne der Spitex sind individuell abgestimmt und werden veränderten Gegebenheiten angepasst. Gut möglich, dass es genügt, beim An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe und manchmal bei der Körperpflege zu helfen, oder jedes Mal vor dem Essen den Blutzucker zu messen und Insulin zu spritzen. Während dieser regelmässigen Einsätze der somatischen Spitex oder auch während sporadischer, sogenannter präventiver Kontaktbesuche zeigen sich im Gespräch und beim Beobachten, wie eine angemessene Unterstützung der Klienten und der Angehörigen einen Spital- oder Heimeintritt verhindern oder hinauszögern kann. Dank der in der Schweiz überall und für alle präsenten öffentlichen Spitex und deren Vernetzung mit weiteren ambulanten Angeboten gelingt es häufig, die Situationen daheim zu beruhigen. Auch sozial nicht integrierte Menschen, die aufgrund einer körperlichen oder seelischen Erkrankung von der Ärztin oder vom Arzt bei der Spitex angemeldet wurden, können so unterstützt werden. Regula Fehr, diplomierte Pflegefachfrau der Spitex Bassersdorf, erzählt: «Wir haben eine sechzigjährige Klientin, bei der wir beim ersten Besuch merkten, dass sie verwahrlost lebt. Sie ist krank, musste deswegen ins Spital und kam nach einer Operation zurück in ihre Wohnung – weil sie es unbedingt so wollte, auch wenn sie allein nicht zurechtkommt. Diese Frau kann wirklich nur dank der Spitex zu Hause sein.»
Für die erwähnte Klientin bildet die Spitex zusammen mit der kommunalen Fachstelle für Altersfragen und der Nachbarschaftshilfe eine stabile Versorgungskette für alle Lebensbereiche. «Wir gehen zwei Mal täglich zu ihr, üben mit ihr Treppensteigen oder helfen dort, wo es gerade notwendig ist», erklärt Regula Fehr. «Solche Fälle sind komplex, und auch diese Menschen wachsen einem ans Herz. Oft denke ich schon morgens bei der Fahrt zur Arbeit an diese Frau.» Regula Fehr schätzt es, Leute über eine längere Zeit begleiten zu können. «Es ist mir wichtig, etwas beizutragen, das tatsächlich hilft, damit Menschen nicht von zu Hause fortmüssen. Von klein auf wollte ich jenen etwas geben, denen es nicht so gut geht. Wenn Anerkennung und Dankbarkeit zurückkommen, freut es mich.»
Wenn das Blumengiessen schwerfällt
Manche Spitex-Basisorganisationen haben ein psychiatrisches oder ein psychosoziales Team für seelisch und sozial belastete Menschen, die manchmal akute Hilfe benötigen, meist jedoch eine langzeitige Begleitung. «Morgens aufzustehen, den Tag zu strukturieren und in eine Handlung zu kommen, ist gerade für schwer depressive Menschen ein grosses Problem», sagt Andrea Hilfiker. Die diplomierte Pflegefachfrau arbeitete lange in psychiatrischen Institutionen und leitet heute bei der Spitex Aarau das psychosoziale Team. Sie erzählt von einer Frau, die sie regelmässig für eine bis anderthalb Stunden besucht, um sie im Alltag zu unterstützen. «Sie hat einen wunderschönen Garten, schafft es aber nicht, hinauszugehen, obwohl sie sagt, es täte ihr gut. Wenn sie weiss, dass ich sie besuche, ist sie motiviert, aufzustehen und sich anzukleiden.» Sie tut dann zwar nichts weiter, als auf dem Sofa sitzend auf die Besucherin zu warten, doch mit ihr zusammen ist es möglich, den Garten zu giessen, Blumen zu schneiden, Unkraut zu jäten. «Indem ich sie in den Alltagsfertigkeiten unterstütze, kommt sie in eine Handlung. In unseren Gesprächen thematisieren wir immer wieder solch kleine, aber mögliche Schritte.»
Andrea Hilfiker sagt, es sei wichtig, die Leute zu Hause zu stützen und durch eine Krise begleiten zu können. Werden sie aus dem vertrauten Umfeld herausgerissen, verlieren sie den seelischen Halt erst recht. «Sie sollen erleben dürfen, dass sie es mit Unterstützung der Spitex und von Therapeutinnen und Therapeuten schaffen, die Krise durchzustehen, und zwar im privaten, wirklichen Leben. Wir übergeben ihnen viel Eigenverantwortung, deshalb braucht es eine vertrauensvolle Beziehung zwischen den Klientinnen, Klienten und uns. Die ambulante Betreuung ist vorwiegend Beziehungsarbeit, die Zeit, Fachwissen, Verständnis, Toleranz und viel Geduld braucht. Klar, manchmal ist der schützende Rahmen einer Institution notwendig, wenn jemand zum Beispiel suizidal ist, einen Drogenentzug machen muss oder eine krank machende Situation verlassen sollte.»
Oft sind es gerade die in einer psychiatrischen Klinik gemachten Erfahrungen, die den Willen stärken, alles daran zu setzen, um nicht wieder eingewiesen zu werden. Die Spitex zu akzeptieren, gehört dazu. «Es gibt Menschen, bei denen es extrem lange dauert, bis eine tragende Beziehung aufgebaut ist. Andere sitzen da wie ein offenes Buch. Beides ist gut. Von der somatischen Pflege sind wir uns gewohnt, dass sich etwas