Bewohner und Bewohnerinnen regierte.
Der Kapitalismus freilich ist so klug, sich weder ans protestantische Gewissen noch an kirchenanaloge Sozialformen zu heften, so sehr er bekanntlich mit den Formen, Diskursen, Techniken und Medien der Religionen spielt und diese nutzt. Aber festlegen lässt er sich nicht, dazu ist er zu anti-essentialistisch. Die Strategien der Wunschproduktion, Sehnsuchtserfüllung und Kontingenzbewältigung des kulturell hegemonialen Kapitalismus sind effizienter, flexibler, anschaulicher, adressatenorientierter, liquider als jene der Kirchen. Sie sind auch nicht traditionsbehindert.
Der Kapitalismus ist, wie sein zentrales Medium, das Geld, die anti-essentialistische Formation überhaupt. Schon Georg Simmel hatte in seiner Philosophie des Geldes 1900 zur Rolle des Geldes im Kapitalismus festgehalten: „Indem sein Wert als Mittel steigt, steigt sein Wert als Mittel, und zwar so hoch, daß es als Wert schlechthin gilt und das Zweckbewußtsein an ihm definitiv haltmacht. Die innere Polarität im Wesen des Geldes: das absolute Mittel zu sein und eben dadurch psychologisch für die meisten Menschen zum absoluten Zweck zu werden, macht es in eigentümlicher Weise zu einem Sinnbild, in dem die großen Regulative des praktischen Lebens gleichsam erstarrt sind.“58 Für Simmel folgen aus diesem anti-essentialistischen Radikalrelativismus Entgrenzung, Quantifizierung, Entsubstantialisierung und Rationalisierung.
Auf der Basis dieser Überlegungen kann der Begriff des kulturell hegemonialen Kapitalismus präzisiert werden. Der Begriff kulturelle Hegemonie wurde bekanntlich von Antonio Gramsci geprägt. Bei ihm besitzt dieser Begriff in marxistischer Tradition eine stark normative, anti-kapitalistische Stoßrichtung. Er bezeichnet bei Gramsci jenen vorherrschenden gesellschaftlichen Konsens, den die kapitalistische Klasse über diverse zivilgesellschaftliche Institutionen wie das Bildungssystem, die Künste, die Kirchen, die Medien, auch das Erziehungssystem herstellt, um seine Herrschaft als legitime, ja als einzig wirklich mögliche zu plausibilisieren. Ernest Laclau und Chantal Mouffe kritisieren daran zu Recht spezifische „essentialistische Elemente“59, so das Festhalten am Klassenbegriff als Identifikation der hegemonialen (und anti-hegemonialen) Akteure und auch die damit unmittelbar verbundene Annahme, dass „jede Gesellschaftsformation sich um ein einfaches hegemoniales Zentrum herum strukturiert“60. Ihre poststrukturalistische Überarbeitung und Radikalisierung von Gramscis Hegemonietheorie lösen diesen Essentialismus auf und bestehen darauf, dass „das Soziale … ein unendlicher Raum ist, der auf kein ihm zugrundeliegendes einheitliches Prinzip reduziert werden kann“61. Laclau/Mouffe bestehen zudem darauf, dass eine „hegemoniale Formation … auch das (umfasst), was sich ihr entgegensetzt, insofern die entgegengesetzte Kraft das System der grundlegenden Artikulation dieser Formation als das von ihr Negierte akzeptiert, der Ort der Negation jedoch durch die inneren Parameter der Formation selbst definiert ist“62.
Auf der Basis dieses anti-essentialistischen Hegemonie-Begriffs soll der Begriff des kulturell hegemonialen Kapitalismus über das bisher Gesagte hinaus entwickelt werden. Er meint nicht die kulturellen Strategien, mit denen der Kapitalismus seine Alternativlosigkeit in der Zivilgesellschaft platziert, er meint auch nicht, dass nur eine, nämlich die kapitalistische Lebens- und Denkweise existiert, und schon gar nicht, dass diese im Klassenkampf überwunden werden kann, insofern Klassen die exklusiven Träger kultureller Hegemonialität und ihrer Überwindung wären.
Der Begriff des kulturell hegemonialen Kapitalismus meint vielmehr jenen gesellschaftlichen Zustand, in dem kapitalistische Prinzipien wie die Simmelsche Entgrenzung, Quantifizierung, Entsubstantialisierung und Rationalisierung, anders gesagt: Wettbewerb, Verdinglichung,63 Kommodifizierung, Monetarisierung, extrinsische Motivationsanreize, dichte Rückkopplungsnetze und, damit verbunden, jenes berühmte Verdampfen „alles Ständische(n) und Stehende(n)“64, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, wo all diese ungeheuer erfolgreichen Dynamisierungsprozesse, die ja auch Befreiungsprozesse aus den ständischen Schalen des Geschlechts, der Nation, der Religion, der Geburtsfamilie sind, wo all diese große Versprechen des Formalen und Effektiven und Dynamischen, die der Kapitalismus gibt, sozial so dominant geworden sind, dass sie sich tief ins Selbst einschreiben, dass sie dieses Selbst wenn nicht umfassend determinieren, so doch dominieren und seine grundlegende Ordnung bestimmen. Kulturell hegemonialer Kapitalismus meint nicht, zumindest nicht zuerst und nicht nur, wie bei Gramsci, die Hegemonie der kapitalistischen Klasse und ihrer Interessen in den Feldern der Kultur, sondern die Konsequenzen dieser Art von Hegemonie für die Subjektbildungsprozesse des Einzelnen.
Der kulturell hegemoniale Kapitalismus schreibt damit die aktuelle Logik der Welt, denn Innerstes und Äußeres korrespondieren in ihm. Es gibt anderes, der Hegemon ist nicht imperial, und weder das Soziale noch das Selbst sind geschlossene Systeme. Aber der kulturell hegemoniale Kapitalismus setzt die geltende Ordnung im Sozialen und, jenem korrespondierend, jene des Selbst. Denn ein unkorrumpierbares, dekontextualisiertes Selbst ganz im eigenen Inneren ist eine idealistische Fiktion.
4.
Wie wir regiert werden, hat Folgen auch im Außen der Gesellschaft. Hartmut Rosas Buch zu den Zeitstrukturen in der Moderne65 lässt da keine Illusionen und endet mit einer ziemlich desaströsen Alternative: Angesichts der „totalen Mobilmachung“66 der modernen kapitalistischen Zivilisation drohe die Alternative von „finale(r) Katastrophe“ oder „radikale(r) Revolution“67. Diese fatale Alternative ist die Konsequenz einer kulturellen und gesellschaftlichen Diagnose, die „soziale Beschleunigung“ als zentrales, letztlich einziges68 Differenzkriterium moderner Gesellschaften ansetzt und schließlich zu einer apokalyptischen Prognose wird: Wir alle rasen dem eigenen Untergang entgegen.69
Moderne „und nichtmoderne Gesellschaften“ lassen sich nach Rosa „ganz unabhängig von ihrer historischen Einordnung systematisch und trennscharf unterscheiden“, insofern in modernen Gesellschaften nur noch „dynamische“ und eben nicht mehr „adaptive“ Stabilisierung70 möglich sei: Sie „gewinnen Stabilität gleichsam in und durch Bewegung“. Insofern „diese Bewegung“ aber mit der „Trias Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung“ dann „genauer als eine Steigerungsbewegung bestimmt werden“71 könne, ist die „wahrscheinlichste( ) Möglichkeit“ unter den Zukunftsszenarien moderner Gesellschaften das „ungebremste( ) Weiterlaufen in einen Abgrund, der logisch durch das endgültige Zusammenfallen der Antinomien von Bewegung und Beharrung und durch die Realisierung … des rasenden Stillstandes als Kehrseite der totalen Mobilmachung, empirisch aber vermutlich lange vorher entweder durch den Kollaps der Ökosysteme oder durch den endgültigen Zusammenbruch der modernen Sozial- und Werteordnung unter dem Druck der wachsenden Beschleunigungspathologien und der Macht ihrer dadurch begünstigten Feinde bezeichnet wird“72.
Rosa beschreibt das sehr konkret. Den „Verlust der Fähigkeit, Bewegung und Beharrung zu balancieren“, so Rosa, „wird die moderne Gesellschaft schließlich mit der Erzeugung nuklearer und klimatischer Katastrophen, mit sich rasend schnell ausbreitenden neuen Krankheiten oder neuen Formen des politischen Zusammenbruchs und der Eruption unkontrollierter Gewalt bezahlen, die insbesondere dort zu erwarten stehen, wo die von den Beschleunigungs- und Wachstumsprozessen ausgeschlossenen Massen sich gegen die Beschleunigungsgesellschaft zur Wehr setzen“73.
Das ist plausibel und ja auch schon zu beobachten. Wir leben in Zeiten eines erstarkenden Rechtspopulismus, der seine Energien im Kampf gegen die Globalisierung, offenkundig auch ein Codewort für „Beschleunigung“, gewinnt, und der verspricht, die Vorteile der kapitalistischen Dynamisierung genießen zu können, ohne deren kulturellen Verunsicherungsund politischen wie finanziellen Gerechtigkeitskosten bezahlen zu müssen. Es stellen sich denn auch tatsächlich („linke“ wie „rechte“) Massen und nicht die konservativen Eliten gegen die Beschleunigungsgesellschaft und ihre diversen Zumutungen. Die Ahnung, dass der kapitalistische gesellschaftliche Entwicklungsprozess in seiner spätmodernen Phase sich letztlich doch als unsteuerbar erweist, diffundiert gegenwärtig rasant in die letzten Winkel spätmoderner Gesellschaften. Man spürt jetzt auch außerhalb der Eliten, dass die in Gang gesetzten technologischen und kulturellen Entwicklungen komplex interagieren und unsere kognitiven Einsichts- und politischen Steuerungsfähigkeiten immer öfter übersteigen. Systemtheoretisch