Josef Bill

Staunen


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ist das Staunen«. Dort wird berichtet über ein erstaunliches Projekt in Lustenau im österreichischen Vorarlberg. Dort gibt es Philosophieunterricht für Kinder, in dem diese ausführlich zu Wort kommen. Beim Besuch zeigte sich bei den 14 kleinen Philosophen, was für kindliches Denken kennzeichnend ist: »Eine Mischung aus wahrhaftigem Staunen, blitzartiger Erkenntnis und dem Fehlen von Selbstverständlichkeiten.«

      Vielleicht sind auch Heilige in gewissem Sinn Kinder. Jene, die dem Unendlich-Heiligen einmal begegnet sind, konnten nur zitternd und in großer Ehrfurcht darüber berichten, was die Erfahrung des Staunens über das göttliche Geheimnis in ihrem Innern bewirkt hatte. In der Liturgie der Eucharistie feiern wir Gott als den einzig wahrhaft Heiligen: »Quoniam Tu solus Sanctus, Tu solus Dominus, Tu solus Altissimus …«, so heißt es im Gloria der Eucharistie: »Du allein bist der Heilige, Du allein der Herr, Du allein der Höchste …«

      Der Fußballgott: Staunen, Sensation und Fanatismus

      Immer noch wird gelegentlich vom »Wunder von Bern« gesprochen; womit gemeint ist, dass die deutsche Nationalmannschaft 1954 im Endspiel gegen die favorisierten Ungarn sensationell in einem dramatischen Spiel die Weltmeisterschaft gewann. Damit ging für nicht wenige fast so etwas wie ein Ruck durch das vom Weltkrieg fast vernichtete deutsche Nationalgefühl. Im Mai 2019 gab es ein Spiel um den Einzug in das Champions-League-Finale zwischen dem FC Liverpool und dem CF Barcelona. Weil sich die weltweite Berichterstattung dazu oft geradezu religionsschwanger ausdrückt, sei darauf verwiesen. Es scheint, als sei die Ekstase religiösen Erlebens aus den Kirchen oder manchen so genannten charismatischen Gemeinden in die Fußballstadien gewandert: Mit einer 3:0-Schlappe aus dem ersten Spiel ging Liverpool in das Rückspiel. Ein Kantersieg gegen eine spanische Spitzenmannschaft mit absoluter Weltklasse schien unmöglich. Das Unmögliche wurde Wirklichkeit – Liverpool gewann 4:0. Manche Wortwahl in der hymnischen Berichterstattung liest sich, als hätte der Schreiber des Beitrags zuvor in einer päpstlichen Enzyklika oder einem Katechismus herumgeblättert. Einige Formulierungen zeigen, wie sehr Begriffe wie Erstaunen, Wunder, Sensation, begnadet, begeistert, jubeln, huldigen, glauben benutzt werden – nur der sonst oft zitierte »Fußballgott« fehlt in dem Bericht. Jürgen Klopps »Mannschaft begeistert die Fußball-Welt … Nach dem Wunder in der Champions League huldigt die Fußballwelt dem begnadeten Moderator Jürgen Klopp … Jetzt soll auch noch die Krönung in Madrid erfolgen … Es ist unglaublich … Britische Zeitungen reagierten mit Begeisterung und Erstaunen auf die Fußballsensation … Der Begriff ›Fußballwunder‹ war am Donnerstag auf vielen Titelseiten in Großbritannien zu lesen …«2 Die Fans von Liverpool sangen ihre berühmte Hymne »You’ll never walk alone – Du wirst nie allein gehen«. Standing ovations, nicht enden wollender Jubel waren zu erleben. Und der Trainer, der »Supermoderator« Jürgen Klopp, erklärt: »Ich habe zu den Jungs davor gesagt: Ich glaube nicht, dass es möglich ist, aber weil ihr es seid, glaube ich, dass wir eine Chance haben …«

      »I am believer – Ich bin ein Glaubender«, wird ein Fan zitiert. Was aber ist ein Fan? Von seinem lateinischen Ursprung her verstanden kommt dieser Begriff aus dem religiösen Bereich. Ein Fan ist bzw. war zu römischen Zeiten ein von Gott Begeisterter, einer, der außer sich ist vor Begeisterung. Ein Ekstatiker. Auch das Wort »profan« leitet sich von dort her. Es bedeutet wörtlich übersetzt »vor dem Heiligtum«, pro fanum, also alltäglich, normal, weltlich, säkular u. ä. Die Gefährlichkeit des Fans drückt sich in den Bezeichnungen »Fanatiker« und »Fanatismus« aus. In seiner schlimmsten Form wird dieser in der Bibel mit den Worten gebrandmarkt: »Sie werden euch töten und glauben Gott einen Dienst zu tun« (Joh 16,1). Die Szenen von randalierenden Hooligans, Brandsätzen, Schlägereien, Hassgesängen zeigen, dass rund um den Fußball nicht nur Menschen dabei sind, die sich an einem Kampfspiel mit seinen »Wundern« und erstaunlichen Siegen eines vermeintlichen David über einen Goliath freuen wollen, sondern dass dabei noch ganz andere Dimensionen deutlich werden. Identitätsfindung, Gruppenzugehörigkeit, Frustration und Hassgefühle können ihr gefährliches Spiel treiben. Dies ist ein Phänomen, das sich nicht nur beim Fußball, sondern mehr und mehr auch in Ernstfällen gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens zeigt. Dort kann Staunen in Entsetzen umschlagen. Darüber nachzudenken und damit besser umgehen zu lernen ist wohl ebenso schwierig wie notwendig.

      Zappen, innehalten, schauen

      Auf dem Fußballfeld wird der Ball mit den Füßen gespielt – abends beim Fernsehen spielen viele mit den Fingern auf der Wähltaste. Man zappt, d. h., man wechselt schnell und dauernd den Kanal. Das Wort, das aus dem englischen Sprachraum kommt, bedeutet dort so viel wie löschen oder – in Westernfilmen – jemanden abknallen. Wer zappt, der sucht. Oft findet er nichts oder er weiß eigentlich gar nicht, was er sucht. Aber er zappt herum in der Hoffnung, dass er irgendwann etwas findet, das ihn interessiert oder womit er – groteskerweise beim allgemeinen »Zeitmangel« – sich die Zeit vertreiben kann. Mit den steigenden Auswahlmöglichkeiten werden wir immer mehr, könnte man meinen, zu einem Volk von »Zappelphilippen«. Vor der »Glotze« sitzen und herumzappen und sich nicht mehr die Zeit gönnen, in Ruhe oder gar »andachtsvoll« etwas anzuschauen. Es ist, als gewinne man zu Wirklichkeiten immer mehr das Verhältnis von Touristen, die alle möglichen Objekte schnell »in den Kasten der Kamera« bannen, fotografieren, blitzen, um es dann später vielleicht bei irgendeiner Gelegenheit schnell durch den Vorführapparat zu jagen. Situationen werden »objektiv« festgehalten. Aber was bloß geknipst ist, wird immer seltener zu einer »Sehenswürdigkeit«. Zum wirklichen Schauen und Staunen braucht es ein Innehalten, um der Einladung »Schau mal« folgen zu können.

      Es ist bezeichnend, dass ein Roman mit dem Titel »Entdeckung der Langsamkeit« große Beachtung gefunden hat. Immer wieder werden Einladungen zur »Entschleunigung« ausgesprochen, weil alles immer schneller und gehetzter wird. In einem Jahr bekommen wir mehr Informationen geliefert als frühere Generationen in einem ganzen Leben. Alles ist in Gefahr, inflationär zu werden: Worte, Bilder, Menschen. Wie an der Kasse im Kaufladen alles möglichst schnell registriert wird, so sind wir in Gefahr, Wirklichkeit überhaupt immer mehr nur noch zu registrieren, um auf dem neuesten Stand der Information zu sein. Die Zeit, eine Nachricht im wörtlichen Sinn wahr-zunehmen, wird immer kürzer. Die Halbwertzeit des Verfalls, der Überholtheit von Nachrichten nimmt immer mehr zu. In Peter Handkes Roman »Der Chinese des Schmerzes« wird von einem arbeitslos gewordenen Mann berichtet, der auf einmal Zeit hat. Der beschaulich gewordene Mensch drückt seinen neuen, sozusagen gesegneten Zustand in religiöser Sprache aus: Dass das Zeithaben eintrat, »war eine Seltenheit: was üblich ›im Stand der Gnade‹ genannt wurde, sollte vielleicht ›im Stand des Zeithabens‹ heißen.«3

      Wenn die folgende Gegen-Geschichte von der Unfähigkeit zu staunen nicht wahr ist, so ist sie doch gut erfunden; aussagekräftig ist sie auf jeden Fall. Ein Mann, der sich immer sehr cool gab, ließ sich durch nichts richtig beeindrucken; jedenfalls tat er so. Als ihn einige Bekannte zu den weltberühmten Iguazú-Wasserfällen führten – einem einzigartigen Naturschauspiel, manchem aus dem Jesuiten-Film »Mission« bekannt –, erhofften sie, dass er davon doch angerührt sein würde. Weit gefehlt, seine Reaktion war: »Na und? Wasser, das nach unten fällt.« – So kann man es auch sehen und sogar exakt ausdrücken. Vom Ursinn des Wortes »Sehenswürdigkeit« ist da freilich nichts geblieben. Wenn nichts mehr oder immer weniger mit den Augen gewürdigt wird, dann wird wohl der schnelle Hingucker selber immer würdeloser. Vielleicht reicht es noch zu einem Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, in wie wenig Zeit man sensationell viele »Weltwunder« gesehen hat. Das sind dann sicher mehr als die sieben Weltwunder der Antike. Mehr an Lebensqualität ist es freilich nicht. Es kann schließlich dazu führen, dass man niemanden mehr »eines Blickes würdigt«.

      Neben den zeitkritischen Anfragen ist aber auch zu sehen, wie viel an seelischer Gesundung im ruhigen Verweilen in der Natur von Menschen gesucht wird. Wie die Natur betrachtet und bewundert werden kann, zeigen Serien wie »Terra X« und »Elefant, Tiger und Co«. Auch viele einzelne Filme führen »die Wunder der Natur« in Nahaufnahme und Zeitlupe vor Augen. Auch Bildbände gibt es in Hülle und Fülle, manchmal mit sprechenden lyrischen Worten garniert. Auch Dauer-Sendungen wie »nano« lassen mitunter einfach staunen über die Wunder von Technik und Kultur. Die Angebote sind vielfältig. Da liegt es mehr beim Einzelnen, ob er nur eilt oder auch verweilt.

      Den Schauplatz bereiten –