Gisbert Greshake

Kleine Fuge in g-Moll


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natürlich separat, zu sich zitiert. Dabei stellte sich dann aber heraus, dass einer der beiden, der Ältere, ein Schweizer Priester namens Jörg Appenhofer, der an der Gehaltsabteilung des Vatikanstaates für die Entlohnung der Kleriker zuständig ist, überhaupt nicht anzutreffen war. Seit fast drei Wochen war er nicht zum Dienst erschienen; Anrufe in seine Wohnung hier im Vatikan sowie zwei Versuche, ihn persönlich aufzusuchen, schlugen fehl. Kurz: er war und blieb verschwunden. Der Personalchef erlitt fast einen Tobsuchtsanfall, denn man hätte ihm den Dienstausfall von Appenhofer schon längst gemeldet haben müssen. Dann hätte man bereits vor Wochen eine Vermisstenanzeige aufgeben können. Und jetzt das …“

      „Wer hat ihn denn angezeigt?“

      „Der Vater des Opfers, ein Schweizer Gardist, der im Vatikan wohnt und in dessen Familie der Monsignore verkehrte.“ „Und was war mit dem zweiten Täter?“

      „Es handelt sich um einen gewissen Monsignore Vittorio Scarvaglieri, Mitarbeiter an der Ritenkongregation, der zwar nicht mehr wie noch vor einigen Jahren zu den Angestellten des Vatikanstaats gehört, dessen Personalakte aber noch immer hier geführt wird. Als er zum Personalchef geladen wurde, ahnte er wohl schon, um was es ging. Gleich bei der ersten Frage des Cavaliere fing er an, bitterlich zu weinen, gab sofort alles zu und versprach, alles zu tun, was man von ihm verlangen würde: Aufgabe seiner kurialen Funktion und seines priesterlichen Dienstes, Rückzug in ein Kloster usw. Nur bat er darum, ihn nach Möglichkeit nicht der italienischen Justiz für ein Strafverfahren auszuliefern, da dann seine Verwandten alles erfahren und sich zu Tode schämen würden.“

      „Und wie hat der Cavaliere darauf reagiert?“

      „Er wolle sich die Sache überlegen. Auf jeden Fall aber müsse vorher die Anzeige vom Kläger zurückgenommen werden. Doch dann kam ein weiterer Schlag: Als Cavaliere di Nobile ihn nach einigen Tagen zur Klärung offener Fragen abermals in sein Ufficio bat, war Scarvaglieri nicht anzutreffen; er war ab dem Tag nach der Anzeige und seines Gesprächs mit di Nobile auch nicht mehr an seinem Arbeitsplatz in der Ritenkongregation gewesen.“

      „Wer war denn in seinem Fall der Kläger?“

      „Auch das eine merkwürdige Sache: Ein Offizier der Päpstlichen Nobelgarde, ein gewisser Conte Marco Vespucci!

      Bustamante kannte sich im verwirrenden System der früheren und heutigen vatikanischen Wach- und Sicherheitsdienste gut aus. Die Nobelgarde war 1801, also noch zur Zeit des alten Kirchenstaats, von Pius VII. als neue päpstliche Leibgarde gegründet worden und rekrutierte sich aus Angehörigen des römischen Adels. Erst Paul VI. löste sie 1970 als Leibgarde auf. Seither leisten einige wenige von ihnen zusammen mit Offizieren der früheren Palatin-Ehrengarde (einer nicht aus Adligen bestehenden früheren Päpstlichen Garde, die gleichfalls durch Paul VI. aufgelöst wurde) nur noch Repräsentationsdienst bei feierlichen Angelegenheiten, wie zum Beispiel bei Besuchen von Staatspräsidenten, Regierungschefs, Außenministern und bei der Übergabe von Beglaubigungsschreiben neuer Botschafter. Mitglied der Nobelgarde zu sein war also eine höchste „noble“ Angelegenheit.

      „Wie kam es denn, dass ein Offizier der Nobelgarde Anzeige erstattete? War sein eigenes Kind betroffen?“

      „Nein! Seine Kinder sind schon erwachsen. Er erstattete die Anzeige im Namen einer jungen Frau, die im Vatikanstaat arbeitet. Aber Genaues weiß ich dazu noch nicht. Ich bin nach diesen Informationen sofort zu Kardinal Urbani gegangen, dem derzeitigen Präsidenten der Päpstlichen Kommission für den Vatikanstaat, um ihn zu informieren und mitzuteilen, dass beide Fälle unverzüglich an die italienischen Justiz, also an euch, weitergegeben werden. Der Kardinal war entsetzt und hat mir eindringlich ans Herz gelegt, es dürfe dabei nichts, aber auch gar nichts über den Kindesmissbrauch der Prälaten an die Öffentlichkeit gelangen. Es könne nur darum gehen, den Mord an ihnen aufzuklären.“

      „Das glaubst du ja wohl selbst nicht!“

      „Doch! Aber du weißt, es spielt keine Rolle, wie ich darüber denke. Ich muss dir das so weitergeben, wie er es mir gesagt hat.“

      „Also …, du kennst mich ja mittlerweile ein wenig. Und du wirst wissen, dass ich mich auf solche Versteck- und Verdrängungsspielchen nicht einlasse. Aber das werde ich dem Kardinal schon selbst sagen. Wenn wir den Fall übernehmen, und das wird uns nach Rechtslage wohl nicht erspart bleiben, müssen zwei Dinge klar sein: Erstens müssen wir das Recht haben, hier im Vatikan zu recherchieren, und zweitens werden wir nichts unter den Teppich kehren.“

      „Va bene! Aber dann sprich du morgen mit dem Kardinal! Ich werde ihm deinen Besuch ankündigen.“

      „Gut! Und von dir erbitte ich die Adressen all derer, die in diesem Fall oder besser in diesen Fällen im Spiel sind. Bitte, ruf mich deswegen morgen noch vor 8 Uhr 30 an!“

      Es war schon spät geworden, und der Questore spürte die Anspannungen des überlangen Tages in immer häufiger auftretenden „Gähn-Anfällen“. Trotzdem: Was sein muss, muss sein! Das wusste auch Monsignore Morreni, als er noch zu einem „Schlaftrunk“, einem hervorragenden Rotwein, „Brunetto di Montalcino“, Jahrgang 2001, einlud. Wie Bu-Bu nachher dann doch noch nach Hause kam, konnte er am nächsten Morgen beim besten Willen nicht mehr sagen. So sehr hatte der Schlaf sein Erinnerungsvermögen mit dem Mantel des Erbarmens überdeckt.

      ***

      Ganz anders verhielt es sich mit Sua Eminenza, il Cardinale Angelo Urbani, Presidente della Pontificia Commissione per lo Stato della Città del Vaticano (so sein genauer Titel). Eminenza hatte schlecht, sehr schlecht geschlafen. Skandale im Vatikan, und dazu noch unter seiner Verantwortlichkeit, konnte er nicht ertragen. Er liebte „Mutter Kirche“, nicht nur deren „essentials“, sondern ihr ganzes Drum und Dran: Er liebte den völlig überflüssigen Vatikanstaat und seine Behörden, er liebte päpstliche Enzykliken und hierarchische Dekrete, so weltfremd sie auch sein mochten, er liebte die immer mehr im eigenen Saft, in sich selbst und um sich selbst schmorenden kurialen Ämter, er liebte das liturgische overdressing, je mehr umso besser, er liebte den päpstlichen Pomp und dessen byzantinisches Hofzeremoniell mit allem traditionellen Klimbim wie Titulaturen und theatralischen Gewändern, Nobelgarde und Schweizer Hellebardisten usw. usw. All das war für ihn unterschiedslos „Mutter Kirche“, all das liebte er bedingungslos.

      Als ihm Bustamante gemeldet wurde, begrüßte er ihn ebenso überschwänglich wie klerikal-salbungsvoll in seinem wohleingerichteten Büro, welches auch das eines mittleren Managers in einem mittelständischen Betrieb hätte sein können:

      „Onorevole Questore, La saluto! Un cordialissimo benvenuto! Ich bin Ihnen ja so dankbar und ganz überwältigt, dass Sie sich selbst herbemühen. Es ist ja auch eine schreckliche Sache! Terribile! Schrecklich, wirklich schrecklich! Wir müssen nur eines tun: den Schaden von unserer Kirche fernhalten!“

      „Unsere Kirche“? Wuste der Kardinal nicht, dass er, Bustamante, obwohl früher Priester, schon seit längerem sein Amt aufgegeben und die Kirche verlassen hatte und sich seither als „praktizierender Agnostiker“ bezeichnete? Ja, erinnerte er sich nicht mehr daran, dass sie beide vor nunmehr gut 30 Jahren sogar zusammen an der Gregoriana Philosophie und Theologie studiert hatten? Sei’s drum!

      „Eminenza, wir werden diesen wirklich schrecklichen Fall bzw. diese Fälle übernehmen müssen. Aber Voraussetzung dafür ist erstens die Möglichkeit, im Vatikanstaat Untersuchungen anzustellen, z. B. in der Wohnung von Monsignore Appenhofer, sowie in Verhören mit einer Reihe von Betroffenen, soweit sie im Vatikan wohnen oder hier tätig sind, und …“

      Der Kardinal unterbrach ihn. „Diese Voraussetzung wird unter der Bedingung gewährt, dass bei Wohnungsdurchsuchungen hier im Vatikan Monsignore Morreni zugegen ist und jederzeit Einspruch erheben kann. Und was ist die zweite Voraussetzung?“

      Der Kardinal schoss förmlich aus seinem wohlgepolsterten Sessel in die Höhe: „Das verbiete ich Ihnen!“

      „Eminenza, diese Transparenz können Sie gar nicht verbieten. Denn der Kindesmissbrauch