Gisbert Greshake

Kleine Fuge in g-Moll


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ist, das wir aber mit einiger Sicherheit nicht mehr verfolgen werden, da die Täter ja nun tot sind. Ich darf Ihnen vielleicht den Artikel 22 der Lateranverträge in Erinnerung rufen: ‚Auf Ersuchen des Heiligen Stuhles und durch Bevollmächtigung von seiner Seite, die von Fall zu Fall oder für dauernd erteilt werden kann, wird Italien auf seinem Gebiet für die Bestrafung der in der Vatikanstadt begangenen Straftaten sorgen. …‘ Diese Bevollmächtigung ‚auf Dauer‘ ist nun aber per Dekret erteilt worden und gilt so lange, als sie nicht widerrufen wird. Und deshalb werden wir, der italienische Staat, die Verbrechen aufzuklären suchen und zwar auf unsere rechtsstaatliche, transparente Weise.“

      „Nun tun Sie nur nicht so! Sie wissen doch gut genug, wie korrupt der italienische Staat selbst ist!“

      „Aber so weit es an mir liegt, hat Korruption keine Chance, auch wenn die mir von Ihnen, Eminenza, nahegelegt werden sollte.“

      „Unerhört! Wissen Sie eigentlich, mit wem Sie sprechen?“

      „Sehr wohl, Eminenza! Aber Sie kennen vermutlich das Wort: Amicus Plato, magis amicus veritas – Platon ist mein Freund, aber mehr noch ist mir die Wahrheit Freund!“

      „Ich verstehe Sie nicht und beklage in aller Form Ihre mangelnde Solidarität mit unserer Mutter Kirche, die entsetzlichen Schaden nimmt, wenn man hört, dass vatikanische Prälaten in abscheuliche Untaten verstrickt sind! Die Dinge dürfen einfach nicht publik werden!“

      „Abgesehen davon, dass sie meine Mutter nicht ist, glaube ich, dass ich ihr mehr nütze, wenn ich sie zu Ehrlichkeit und Offenheit ermutige und veranlasse. Nichts hat der Kirche in den letzten Jahrhunderten mehr geschadet als fehlende Transparenz, Offenheit und Wahrhaftigkeit. Stattdessen hält sie immer aufs Neue alle „Leichen“, von denen es nicht wenige gibt, im Keller versteckt. Und auch wenn Päpste aus der jüngsten Vergangenheit, so z. B. Johannes Paul II., sich für zahlreiche dieser ‚Kellerleichen‘ entschuldigt haben, waren es nur solche, die schon jahrhundertelang in den Verließen des Vatikans gestunken hatten. Verbrechen, Fehlentscheidungen, Irrtümer, die gegenwärtig geschehen oder noch nicht lange zurückliegen, bleiben immer unangefochten hinter verschlossenen Türen, müssen hinter den Türen bleiben. Nein, Eminenza, so geht das nicht. So nicht! Sie schaden sich damit selbst am allermeisten. Und im Übrigen stehen auch die beiden letzten Päpste mit ihrer Forderungen nach Offenheit und Transparenz durchaus auf meiner Seite!“

      „Ich weiß, ich weiß, aber da ist immer noch die Kurie, die aufgrund der Weisheit und Erfahrung der in ihr weitergehenden langen, langen Tradition eine etwas andere Auffassung vertritt!“

      „Leider, Eminenza, leider!“

      Da der Kardinal sah, dass er beim Questore keine Chance hatte, ihn umzustimmen, brach er abrupt die Audienz ab. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können! Aber wundern Sie sich nicht, was das gegebenenfalls für Sie an Konsequenzen haben könnte. Schließlich können auch Sie einmal in eine Lage kommen, wo Sie uns bitter notwendig gebrauchen könnten.“

      Schrecklich!, dachte Bu-Bu bei sich, als er sich auf den Heimweg machte. Damals im Studium schien dieser Angelo Urbani noch ein relativ vernünftiger Mensch gewesen zu sein. Aber dann …? Ihm fiel ein Wort des großen evangelischen Theologen Karl Barth ein: „Wie kommt es eigentlich, dass je mit dem Steigen eines Mannes auf der Leiter kirchlicher Würden, fast immer ein Absteigen seiner theologischen Offenheit, Beweglichkeit und Verantwortlichkeit stattzufinden pflegt“. Das hatte auch schon Goethe in einem Gedicht zum Ausdruck gebracht:

      „Die Priester vor so vielen Jahren

      waren, als wie sie immer waren.

      Und wie ein jeder wird zuletzt,

      wenn man ihn hat in ein Amt gesetzt. …

      Wird er hernach in Mantel und Kragen

      in seinem Sessel sich wohlbehagen.

      Und ich schwöre bei meinem Leben,

      hätte man Sankt Paulen ein Bistum geben:

      Polt’rer wär’ worden ein fauler Bauch,

      wie coeteri confratres auch.“

      Natürlich hatte Bustamante dieses Goethe-Gedicht nicht selbst im Werk des großen deutschen Klassikers gefunden – so gut Deutsch konnte er auch wieder nicht –, er hatte es vielmehr zufällig im Buch eines älteren deutschen Theologen entdeckt und sich daraus abgeschrieben.

      Zu Hause angelangt, reichte es vor Dienstschluss zeitlich gerade noch für drei Telefongespräche. Das erste ging an seine vorgesetzte Dienststelle im Justizministerium. Diese hatte die römische Kriminalpolizei darüber zu informieren, dass nunmehr „sein Ufficio“ sowohl die Mord- wie die gegebenenfalls damit verbundenen Missbrauchsfälle übernehmen würde. Im zweiten Anruf bat er den Leiter der römischen Mordkommission dringend darum, ihm Filippo Giollini „auszuleihen“. Fil – wie er genannt wurde – war früher zusammen mit seiner jetzigen Frau Carla als Commissario an der Dienststelle Bustamantes beschäftigt gewesen, war dann aber, weil hier wie überall, Stellen gestrichen wurden, zur „normalen“ römischen Sezione der Kripo übergewechselt, half jedoch immer mal wieder, wenn nötig, aus. Auch diesmal wurde Bustamante die Bitte um Fil erfüllt. Der dritte Anruf ging an seine Sekretärin Rosalinda, die für morgen früh um 9 Uhr das ganze Team einberufen sollte.

      Den Rest des Abends verbrachte Bu-Bu zunächst damit, sich nach längerer Zeit mal wieder das zum Abendessen zu bereiten, worauf er unbändigen Appetit hatte: Als sättigende Antipasta gab es einige Scheiben Bruschetta zusammen mit ganz, ganz fein geschnittenem und erstklassigem Olivenöl zubereiteten Tomatensalat. Für den Hauptgang hatte er Zucchiniblüten eingekauft, die er in einen mit nur wenig Mehl verrührten Omelett-Teig tauchte und anschließend frittierte. Dazu aß er eine nur etwa drei bis vier Millimeter dicke Scheibe „Provolone“ (Käse), die nur äußerst leicht angebraten wurde, gerade so lange, bis sie zu fließen begann. Aber nur begann! Köstlich! Zum Trinken gab es Frascati Superiore DOC von einer Qualität, die man nur im Direktkauf von Winzern erhält, die einem gut Freund sind.

      Nach dem Essen schmökerte er noch ein wenig in neuester Literatur zum Thema Pädophilie herum, steckte in Gedanken die nächsten taktischen Schritte ab und schäkerte dazwischen immer wieder mit Meister Jakob herum, der sich jeden Abend neu über eine Portion Zuwendung und Zärtlichkeit freute, diese aber auch stets ungeduldig zu erwarten schien.

      Da Bustamante damit rechnete, angesichts der neuen Fälle eine stressige Zeit vor sich zu haben, setzte er sich zum Tagesabschluss an seine sehr, sehr kleine elektronische Hausorgel und improvisierte meditierend und träumend ein wenig vor sich hin. Plötzlich merkte er, dass er ganz unbewusst nach einem gebrochenen g-moll-Akkord in den Anfang der Kleinen Fuge in g-moll von Johann Sebastian Bach (BWV 578), eines seiner Lieblingsstücke, geraten war. Ihr Thema:

      Diese Fuge war für ihn eines der Meisterwerke dieses gewaltigen deutschen Komponisten. Denn sie war schon rein formal in ihrer äußersten Strenge perfekt gearbeitet, ähnlich den Stücken aus der „Kunst der Fuge“, so dass sie als Musterbeispiel für die musikalische Form der Fuge überhaupt und als Lehrstück für Kompositionsschüler dienen konnte. Aber da war noch viel mehr: Diese Fuge war nicht „klein“, wie Bach sie allein aufgrund ihres geringen Umfangs bezeichnet hatte, sie war in ihrer Qualität „riesengroß“. Man konnte sie einerseits spielen und hören wie einen hübschen und gefälligen „Ohrenschmaus“, und es gab nicht wenige Organisten, die sie wie ein Salonstück präsentierten. Andererseits aber und mit viel größerem Recht konnte man sie spielen und hören wie einen gewaltigen „Mikrokosmos“ oder ein musikalisches „Welttheater“, in welchem sich das Drama menschlichen Lebens abspielt: Im gebrochenen g-moll-Akkord des Anfangs mit der selbstsicher aufsteigenden Quinte stellt sich gewissermaßen das selbstbewusste Subjekt, wie es sich in der Neuzeit herausgebildet hat, mit einem entschiedenen „Hier bin ich!“ dar, nimmt sich dann aber immer mehr zurück, um den später einsetzenden Stimmen Platz zu machen, ihnen nur noch als Begleitung zu dienen und schließlich fast ganz zu verschwinden oder besser: sich mit den anderen Stimmen zu vereinen und sich in einer Art „versöhnter Verschiedenheit“ ganz