Verlag Echter

Lebendige Seelsorge 1/2019


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für Gewalt, die traumatischen Wirkungen ethnischer Säuberung, die Einsicht, dass Menschen nur foltern, wenn sie dafür ausgebildet werden, der Zusammenbruch zivilisatorischer Standards sind für mich immer noch unverstandene und ungelöste Fragen.

       Ottmar Edenhofer

      designierter Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und Gründungsdirektor des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC); Lehrstuhlinhaber für die Ökonomie des Klimawandels an der Technischen Universität Berlin (TU Berlin). Der vorliegende Text wurde in Heft 6/2018 von „zur debatte“ abgedruckt.

      Damals gab es den Begriff der politischen Emotionen noch nicht, aber mir wurde klar, dass Gewalt, Wut und Hass der Entfesselung durch die Politik bedürfen, um massenwirksam zu werden. Diese Entfesselung der Gewalt bedarf der Rechtfertigung entlastender Denksysteme: Die Akademien der Wissenschaften lieferten diese Pseudogründe ebenso, wie Professoren und Intellektuelle bereit waren, nicht nur abscheuliche Gewalttaten zu rechtfertigen, sondern an ihrer strategischen Planung mitzuwirken. Wenn ich damals zwischen Frankfurt, Split und Tuzla pendelte, tauchte ich in Welten ein, die zwei Flugstunden auseinander lagen und doch kaum voneinander wussten – ja auch nichts wissen wollten. Das intellektuelle und politische Deutschland, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nahm diesen Krieg hin und verschwendete nicht viele Gedanken auf diese Tragödie an der Peripherie unseres Kontinents.

      Was hat das mit meiner Tätigkeit heute zu tun? Wer sich die Dynamik des Klimawandels der letzten 15.000 Jahre vor Augen führt, begreift schnell, dass wir die Betriebsweise unseres Erdsystems in einem Ausmaß und in einer Geschwindigkeit verändern, die für das Zeitalter des Holozäns ohne historisches Vorbild ist. Die steigende globale Mitteltemperatur zeigt bereits ihre unumkehrbaren Wirkungen: Steigender Meeresspiegel, heftiger werdende Zyklone, Dürren, Überschwemmungen führen bereits heute dazu, dass Menschen ihre angestammte Heimat verlassen. Knappe Wasserressourcen, Dürren, Einbruch der Agrarproduktion verschärften den Konflikt in Syrien. Die Fidschi Inseln oder Kiribati werden einen erheblichen Teil ihres Staatsgebietes verlieren, zunehmende Fluten versalzen ihre fruchtbaren Böden. In ethnisch fragmentierten und polarisierten Gesellschaften steigt das Risiko von Konflikten und Gewaltausbrüchen erheblich, wenn der Klimawandel zuschlägt. Meine Erfahrungen in Bosnien haben mir gezeigt, wie dünn der zivilisatorische Firn ist und wie schnell Zivilisationen zusammenbrechen können – selbst zwei Flugstunden von München entfernt.

      WIRKLICHKEITSVERLUST DER POLITIK IN DER MIGRATIONSFRAGE

      Seit einiger Zeit beschäftige ich mich zunehmend mit den sicherheitspolitischen Aspekten des Klimawandels und kehre damit zu meinem Ausgangspunkt zurück. Die europäische Flüchtlingspolitik ist eine Zerreißprobe für die deutsche Regierung und die EU geworden. Die Politik hat dabei die Maßstäbe in einem erschreckenden Ausmaß verzerrt. Nach den Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind in der ersten Jahreshälfte 2018 rund 50.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer oder über die türkisch-griechische Landesgrenze nach Europa gekommen. Im weltweiten Maßstab ist das eine verschwindend geringe Zahl. Die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die Landesgrenzen überquert haben, hat mit 25,4 Millionen ein weltweites Rekordniveau erreicht. Nimmt man die Zahl der Menschen hinzu, die innerhalb von Landesgrenzen auf der Flucht sind, addiert sich diese Zahl auf 65 Millionen Menschen. 90 % der Flüchtlinge und Migranten unter UNHCR Mandat leben in Staaten wie der Türkei, Pakistan, Uganda, Libanon und Iran. Europa trägt also keineswegs die Hauptlast der weltweiten Migration.

      Herausforderungen dieses epochalen Ausmaßes können nur durch einen geordneten Multilateralismus gemeistert werden.

      Man kann sich heute den Ruf als Realpolitiker in der Flüchtlingspolitik erwerben, wenn man Härte gegen Migranten und Flüchtlinge fordert. Diese vermeintlichen Realpolitiker verweigern sich jedoch der Wirklichkeit: Europa kann die Kriege im Nahen Osten ebenso wenig ignorieren wie die ethnischen Konflikte und die Folgen des Klimawandels in Afrika und anderen Teilen der Welt. Wer glaubt, man könne Flüchtlinge und Migranten vor allem mit militärischen Mitteln an den Außengrenzen abwehren, hat die Dimension des Problems nicht einmal im Ansatz verstanden.

      Herausforderungen dieses epochalen Ausmaßes können nur durch einen geordneten Multilateralismus gemeistert werden, der Fluchtursachen bekämpft, für ein menschenwürdiges System der Aufnahme von Geflüchteten sorgt und die Lasten der Migration fair verteilt. Wenn Europa seine Identität bewahren will und nicht untätig zusehen möchte, wie es die Kontrolle verliert, muss es sich diesen humanitären Herausforderungen stellen. Es ist für mich eine große Ermutigung, dass die christlichen Kirchen in Deutschland mit aller Klarheit an die Maßstäbe erinnern, die für Christen in der Politik gelten sollten.

      KLIMA, KOHLE, KAPITAL

      Wie kann man den Klimawandel begrenzen? Diese Frage hat mich in der vergangenen Dekade am meisten beschäftigt. Die vielleicht wichtigste Vorbereitung für diese Tätigkeit war das Projekt „Global, aber gerecht“, das wir zusammen mit der Hochschule für Philosophie im Auftrag von Misereor und der Münchner Rück durchgeführt haben. Als die Anfrage kam, war ich skeptisch. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) war ein Institut naturwissenschaftlicher Positivisten, Religion galt daher als sicheres Zeichen eines mangelnden Intelligenzquotienten. Aber die katholische Kirche glich für die meisten meiner Kollegen schon so sehr einem „Alien“, dass nach einer ersten Begegnung das gegenseitige Interesse wuchs. Die Ironie der Geschichte: leidenschaftliche Agnostiker, überzeugte Atheisten, heimliche Sympathisanten und natürlich Jesuiten arbeiteten für Misereor; die Münchner Rück Stiftung war für alle Beteiligten eine Rückversicherung, dass sich die weltanschaulichen Gewichte nicht zu sehr zugunsten einer Seite verschoben.

      Auch wenn es Zweifel über das Ausmaß der Klimaschäden gibt, sollte man lieber handeln.

      Auch wenn das Buch „Global, aber gerecht“ medial kein großer Erfolg war, so kann doch seine Rolle für die Enzyklika Laudato si‘ kaum überschätzt werden. Der damalige Chef von Misereor, Josef Sayer, veranstaltete im Vatikan eine Reihe von Tagungen zum Thema „Armut, Klimawandel und Ungleichheit“. Kardinäle und Bischöfe aus aller Welt diskutierten über dieses Thema. Das war auch dringend nötig, denn es gab einflussreiche Kardinäle wie George Pell, die den menschengemachten Klimawandel rundweg bezweifelten. Die Vorstellung, der Mensch könne und solle das Weltklima steuern, war für sie Ausdruck neuzeitlicher Hybris.

      Aber als in diesen Konferenzen die Bischöfe des Südens die Folgen des Klimawandels darstellten, wurde auch im Vatikan vielen deutlich, dass sie das Thema nicht weiter verdrängen konnten. Die Wissenschaft hat mit geradezu überwältigender Evidenz gezeigt, dass der Mensch durch die Abholzung der Wälder und die Verbrennung fossiler Energieträger für den Anstieg der globalen Mitteltemperatur verantwortlich ist. Je größer die Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Klimawandels ist und je geringer die Kosten, einer Katastrophe rechtzeitig zu begegnen, umso mehr lohnt sich ambitionierter Klimaschutz.

      Mit anderen Worten: Auch wenn es Zweifel über das Ausmaß der Klimaschäden gibt, sollte man lieber handeln. Was Wirtschaftswissenschaftlern aus der Entscheidungstheorie geläufig ist, ist Theologen und Kardinälen aus der Moraltheologie bekannt. Denn gerade das tutioristische Moralsystem spricht sich für die Maxime „in dubio pro lege“ aus, im Zweifelsfall solle man das ethisch restriktivere, vorsichtigere Gebot für richtig halten und ihm folgen. Wer sich davon exkulpieren will, müsse gute Gründe in Anschlag bringen. Die Klimaskeptiker bleiben diese guten Gründe bis heute schuldig – innerhalb wie außerhalb des Vatikans.

      DER WEG ZUM KLIMAABKOMMEN VON PARIS

      Durch meine ersten sieben Jahre am PIK wurde ich für meine spätere Tätigkeit im Weltklimarat gut vorbereitet: Ich konnte mir einen umfassenden Überblick über den Forschungsstand verschaffen, ich lernte Menschen auf allen Kontinenten kennen und begriff, dass das fundamentale Problem der Klimapolitik nicht nur die wissenschaftlichen Fakten sind, sondern Konflikte um Weltanschauungen und Werte. So entwickelte ich mit einem meiner Kollegen philosophische Überlegungen, die helfen sollten, die Konflikte um Werte und Weltanschauungen rational zu durchdringen. Für mich war eine philosophische Grundausbildung ein unentbehrliches Rüstzeug im Umgang mit Konflikten. Das war im Weltklimarat dringend nötig.

      Fakten