in Freiburg i. Br. überführt.
Die Akten der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wurden vollständig vernichtet. Zufallsfunde aus irgendwelchen Gründen sind aber immer noch möglich.
Die aufwändige Aktendurchsicht in den deutschen Archiven – ohne Gewissheit, wirklich alles gesehen zu haben – wurde durch Gespräche mit verantwortlichen Offizieren sowie anderen Personen aus der früheren Staats- und Armeeführung der DDR ergänzt. Diese Kontakte verdanken wir dem vertrauensbildenden Vorgehen von Peter Veleff, der auch einen wesentlichen Teil der Archivforschung übernommen hat.
Hinsichtlich des Archivmaterials in den Ländern des ehemaligen Warschauer Vertrags lässt sich zusammenfassend festhalten, dass der Zugang zu politischen Dokumenten relativ gut möglich war, derjenige zu militärischen Akten dagegen nur in stark eingeschränktem Rahmen. So konnten insbesondere einzig Unterlagen der Armeen der Satellitenstaaten eingesehen werden, während die entscheidenden sowjetischen Dokumente verschlossen blieben.87
Die Erforschung der Militärdoktrin, der Strategie und der Kriegsplanung der UdSSR sowie des Warschauer Vertrags im Allgemeinen sowie in Bezug auf die Schweiz im Speziellen stellte dementsprechend eine grosse Herausforderung dar, was den Fortgang der Arbeit immer wieder verzögerte und teilweise verunmöglichte.
Recherchearbeiten wurden schliesslich auch im Schweizerischen Bundesarchiv (BAR) in Bern getätigt. Hier konnten unter anderem Akten mit Informationen über die östliche Einschätzung der politischen und militärischen Ausrichtung der Schweiz eingesehen werden, insbesondere die Berichte der Schweizer Gesandten und Botschafter in mittel- und osteuropäischen Ländern. Ausserdem interessierten Unterlagen zu den nachrichtendienstlichen Aktivitäten des Ostblocks in der Schweiz. Mit einer Sondergenehmigung wurde der Zugang zu einzelnen Spionagefällen gewährt. Ferner ging es darum, dem schweizerischen «Feindbild» im uns interessierenden Zeitraum nachzuspüren. Besonders aussagekräftig waren diesbezüglich die Sitzungsprotokolle der Landesverteidigungskommission (LVK), Besprechungen operativer Übungen sowie Berichte der Militärattachés und von Auslandkommandierungen.
Im Zusammenhang mit den in dieser Studie verwendeten Archivdokumenten müssen abschliessend noch zwei methodische beziehungsweise quellenkritische Bemerkungen gemacht werden. Die erste betrifft die von den schweizerischen diplomatischen Vertretungen angefertigten und nach Bern gesandten Übersetzungen östlicher Presseberichte über die Schweiz. Diese bringen ja eigentlich nicht – oder zumindest nicht direkt – die «Sicht Ost» zum Ausdruck. Aus sprach- und arbeitstechnischen Gründen wurden sie aber trotzdem in die vorliegende Arbeit einbezogen. Da uns kein Fall bewusster Falschübersetzungen durch schweizerische Diplomaten bekannt ist, erscheint uns dieses Vorgehen verantwortbar. Die zweite Bemerkung bezieht sich auf die Berichte der östlichen Gesandtschafts oder Botschaftsmitarbeiter in der Schweiz an ihre vorgesetzten Stellen in den jeweiligen Heimatländern. Bei der Analyse dieser Berichte fiel auf, dass der vom Gesandten oder Botschafter übermittelte Inhalt sich von jenem des militärischen Geheimdienstmitarbeiters, welcher auf der diplomatischen Vertretung eingesetzt war, tendenziell unterschied: Während der Gesandte beziehungsweise Botschafter meist mittels möglichst linientreuer Berichterstattung seiner politischideologischen Loyalität Ausdruck gab, befleissigte sich der Nachrichtenoffizier einer möglichst realitätsnahen Informationsweise. Auf diesen Unterschied im Gehalt der Berichte angesprochen, sagte der letzte ungarische Geheimdienstchef in einem persönlichen Gespräch geheimnisvoll lächelnd: «Der Diplomat, der nicht das sagte, was man im Ministerium gerne hörte, wurde nicht befördert; der Nachrichtenoffizier, der das berichtete, was man in der Zentrale gerne hörte, und nicht das, was er sah, wurde sofort ersetzt.»
Osteuropäische «Überläufer» als Informationsquellen
Immer wieder als Referenzquelle verwendet wurde in der Vergangenheit – gerade auch in der Schweiz – das 1982 erschienene Buch «We will bury you» des ehemaligen tschechoslowakischen Generals Jan Šejna.88 Der Autor war Erster Sekretär des Hauptkomitees der Kommunistischen Partei im Verteidigungsministerium der ČSSR gewesen, bevor er im Februar 1968 in den Westen flüchtete. In seinem Buch berichtete Šejna ausführlich über einen langfristig angelegten «strategischen Gesamtplan» des Warschauer Vertrags, welcher darauf ausgerichtet gewesen sei, Westeuropa im Fall eines Kriegs militärisch zu unterwerfen. Die Ausarbeitung dieses Plans sei im Januar 1965 vom Politischen Beratenden Ausschuss beschlossen worden, und im Oktober 1966 sei der erste Entwurf davon erörtert worden.89 Der Gesamtplan habe bis 1968 fertiggestellt werden sollen; ab Februar 1967 hätten die Parteiführungen der einzelnen Mitgliedsstaaten regelmässig sowjetische Direktiven erhalten, welche die Rolle des jeweiligen Landes im Gesamtplan festgehalten hätten.90 Bezüglich der «tschechischen Streitkräfte» [sic!] schrieb Šejna, diese hätten bei einem Kriegsausbruch die Aufgabe gehabt, die Westdeutsche Armee – «our principal adversary on the Central Front» – anzugreifen.91 Innert 30 Minuten nach Beginn der Feindseligkeiten hätten sie die eigenen Landesgrenzen überschreiten und innert dreier Tage den Rhein erreichen sollen. Von dort aus hätten die tschechischen Truppen zusammen mit sowjetischen und DDR-Truppen einerseits die Invasion Frankreichs in Richtung Paris vollziehen und andererseits – ohne die NVA – die «progressiven Kräfte» in Deutschland bei deren Machtübernahme militärisch unterstützen sollen. In Bezug auf die Schweiz äusserte Šejna sich dahin gehend, dass bis 1963 in den tschechischen Operationsplänen die schweizerische Neutralität respektiert worden sei. Dann habe der sowjetische Verteidigungsminister Malinovskij eine Abkehr von dieser «reaktionären» Haltung befohlen.92 Im Rahmen des «strategischen Plans» des Warschauer Vertrags sei dementsprechend nicht beabsichtigt gewesen, die Neutralität der Schweiz zu respektieren: «Despite its affirmations of non-alignment, we included its Army in our count of N. A. T. O. forces. We considered Switzerland a bourgeois country and a fundamental part of the Capitalist System.»93 Im Fall des Ausbruchs eines Weltkriegs, so Šejna weiter, hätten tschechische Bodentruppen, verstärkt durch sowjetische Fallschirmjäger, die Schweiz besetzen sollen. Nach nur drei Tagen hätten sich alle wichtigen Zentren der Regierung, der Industrie und der Bevölkerung ebenso wie die militärischen Stützpunkte in der Hand der Besatzungstruppen94 befinden sollen. Zu einer Besetzung der Schweiz wäre es gemäss Šejna auch im Fall eines lokalen Kriegs in Deutschland gekommen – um zu verhindern, dass die Schweiz ein Zufluchtsort für die besiegten «Faschisten» würde – sowie ebenfalls dann, wenn der Westen versucht hätte, militärischen Aktionen des Warschauer Vertrags in Österreich und Jugoslawien entgegenzutreten. In diesem Fall hätte das Ziel des östlichen Militärbündnisses darin bestanden, «die Neutralität der Schweiz zu retten».95
Den «Enthüllungen» Šejnas ist aus verschiedenen Gründen mit grosser Vorsicht zu begegnen.96 Fragezeichen gibt es zunächst einmal hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit als Person: Šejna war vor seiner Flucht ein bedingungsloser Gefolgsmann des konservativen Parteichefs und Staatspräsidenten Novotný gewesen. Im Januar 1968 versuchte er, mittels Mobilisierung einer Panzerdivision den bevorstehenden Sturz Novotnýs zu verhindern. Die Putschvorbereitungen flogen jedoch auf, worauf Šejna beschloss, sich in den Westen abzusetzen. Von tschechoslowakischer Seite wurden gegen ihn in der Folge schwere Anschuldigungen erhoben, und zwar nicht nur wegen des Putschversuchs, sondern auch wegen Amtsmissbrauchs und Veruntreuung von Staatsgeldern. Zudem drückte ihn eine grosse Schuldenlast. Im Westen fielen Šejnas Aussagen über die Absichten des Warschauer Vertrags rasch auf fruchtbaren Boden, sodass er damit seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Zu Beginn der 1980er-Jahre war er als Referent allerdings nicht mehr so gefragt wie noch ein Jahrzehnt zuvor. Dass er in dieser Phase, nicht weniger als 14 Jahre nach seiner Flucht in den Westen, das Buch «We will bury you» veröffentlichte, dürfte nicht zuletzt auf seine Absicht zurückzuführen sein, sich wieder ins Gespräch zu bringen. Verstärkt wird diese Vermutung durch die Tatsache, dass seine Ausführungen über den angeblichen strategischen Plan des Warschauer Vertrags nun wesentlich umfang- und detailreicher ausfielen als früher.
Ein zweiter problematischer Aspekt ergibt sich aus der Frage, woher Šejna denn überhaupt sein Wissen hatte. Als hoher Parteioffizier hatte er wohl mit den verschiedensten Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums Gespräche führen und wohl auch geheimes Material einsehen können. Dass er in seiner Funktion die strengstens geheimen, bloss einem äusserst