Die marxistisch-leninistischen Ansichten bezüglich Krieg und Frieden
Derjenige Aspekt des Marxismus-Leninismus, welcher das Verhalten des Ostblocks in militärischer Hinsicht hauptsächlich und direkt beeinflusste, war dessen Kriegsund Friedenslehre. Aufgrund der Wichtigkeit dieses Zusammenhangs werden die entsprechenden Ansichten im Folgenden ausführlich dargestellt.
1.3.1 Die Ansichten bezüglich Krieg
In diesem Unterkapitel soll die Entwicklung der kommunistischen Kriegstheorie von Marx bis Brežnev aufgezeigt werden. Um die Veränderungen und Kontinuitäten herausarbeiten zu können, sind die zu einer bestimmten Zeit gültigen Ansichten in Bezug auf Krieg systematisch hinsichtlich folgender Teilaspekte untersucht worden:
– die Ansichten über die Ursachen (1), die Funktionen (2) und die (Aus-)Wirkungen (3) von Krieg
– die grundsätzliche Einstellung zum Krieg: Sind alle Kriege schlecht beziehungsweise ungerecht? Oder gibt es auch gute, gerechte Kriege? (4)
– die Haltung zum Akt der Aggression, das heisst zum Beginnen eines Kriegs (5)
– die Ansichten über die Voraussetzungen für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten (6)
– die Ansichten über die Möglichkeit, den Sozialismus auf friedlichem, evolutionärem Wege zu erreichen (7)
– die Ansichten über die Faktoren, die über Sieg und Niederlage in einem Krieg entscheiden (8)
– die Ansichten über das Ausmass beziehungsweise die Form der Austragung eines Kriegs (9)
– die Ansichten über die Voraussetzungen für die Beendigung eines Kriegs (10)
– die Ansichten über die Möglichkeit der gänzlichen Abschaffung beziehungsweise Vermeidung von Krieg (11)
1.3.1.1 Marx’ und Engels’ Kriegsverständnis
(1) Wie sämtliche gesellschaftlichen Erscheinungen erklärten Marx und Engels auch das Phänomen «Krieg» anhand ihrer Theorie des historischen Materialismus.40 Sie gingen beim Aufzeigen der Kriegsursachen also von der materiellen, ökonomischen Grundlage des sozialen Lebens aus, das heisst von der sogenannten «Produktionsweise» mit den beiden Elementen «Produktivkräfte» und «Produktionsverhältnisse»: Wenn – so Marx und Engels – die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse nicht mehr übereinstimmten, verschärften sich die Widersprüche zwischen den sozialen Klassen, von denen die einen durch ihre Interessen mit den alten, die anderen aber mit den heranreifenden neuen Produktionsverhältnissen verbunden seien; die wachsenden Klassengegensätze führten dann zwangsläufig zu Krisen und Kriegen. Diese Vorstellung fassten Marx und Engels wie folgt zusammen: «Alle Kollisionen der Geschichte haben […] nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform.»41 Generell lässt sich festhalten: Marx und Engels sahen den Grund – den alleinigen Grund – für Krieg in der Existenz eines Klassensystems, das heisst einer Gesellschaft, in welcher es eine «Ausbeuterklasse» und eine «ausgebeutete Klasse» gibt.
Im konkreten Fall der kapitalistischen Gesellschaftsform führten Marx und Engels die Entstehung von Krieg letztlich auf die Grundlage der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zurück, nämlich auf die Vorherrschaft des privaten Eigentums über die gesamten Produktionsmittel. Diese habe die Ausbildung eines immer schärferen Gegensatzes zwischen zwei antagonistischen Klassen ermöglicht: der «Ausbeuterklasse» der Kapitalisten, die wegen ihrer Kontrolle über die Produktionsmittel auch immer die herrschende Klasse bildeten, sowie der «ausgebeuteten Klasse» der Lohnarbeiter, welche zwar persönlich frei, jedoch der Produktionsmittel beraubt und deshalb gezwungen seien, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
(2) Marx und Engels hielten grundsätzlich sowohl die «ausbeutende» wie auch die «ausgebeutete» Klasse für fähig, einen Krieg zu beginnen. Allerdings würden die beiden Klassen mit einem solchen Schritt komplett unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen:42 Für die «Ausbeuterklasse» der Kapitalisten, die als herrschende Klasse den Staatsapparat und damit auch die Armee kontrolliere, stelle Krieg ein Instrument zur Besitz- und Herrschaftssicherung dar. So würden die Kapitalisten immer dann einen Krieg entfesseln, wenn sie sich davon wirtschaftliche Vorteile – beispielsweise grössere Märkte für ihre Industrien oder Zugang zu billigen Arbeitskräften und Rohstoffen – und/oder politischen Machtzuwachs versprächen. Solche Kriege würden logischerweise meistens von unabhängigen souveränen Staaten geführt und verfolgten den konkreten Zweck der territorialen Vergrösserung, der Plünderung und/oder der Befriedigung von dynastischen Ambitionen.43 Marx und Engels sahen allerdings nicht nur diesen direkten Nutzen, den die Kapitalisten angeblich aus einem Krieg zogen. Sie wiesen darauf hin, dass die «Ausbeuterklasse» zusätzlich von der blossen Existenz des Phänomens «Krieg» profitiere: Solange es nämlich den Krieg als Erscheinung gebe, müssten Armeen unterhalten werden, und diese könnten von der herrschenden «Bourgeoisie» in Friedenszeiten dafür eingesetzt werden, die eigenen Arbeiter niederzuhalten. Eine ganz andere Funktion als für die «Ausbeuterklasse» erfüllt Krieg gemäss Marx und Engels für die «ausgebeutete Klasse»: Für diese stelle Krieg ein Mittel zum Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft und zur Errichtung der sozialistischen Ordnung dar.
Als Quintessenz des eben Gesagten lässt sich festhalten, dass Krieg aus der Sicht von Marx und Engels ein Mittel zur Durchsetzung der Interessen und Ziele einer bestimmten Klasse ist. Dabei ist anzumerken, dass Krieg für Marx und Engels nur eines von mehreren Mitteln darstellt, welche eine Klasse anwenden kann, um ihre Ziele zu erreichen. Andere – gewaltlose – Mittel stellen beispielsweise Drohungen, Bestechung oder aber Zugeständnisse dar.44
(3) Marx und Engels sahen sowohl negative als auch positive Auswirkungen von Krieg. Als wichtigstes Negativum vermerkten sie, dass Kriege riesigen materiellen Schaden sowie schreckliches Elend und Leiden verursachten.45 Gerade das «Proletariat» und die Bauernschaft seien davon besonders stark betroffen. Wegen der Verbesserungen in der Militärtechnologie, welche um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hätten, würden zukünftige Kriege sogar noch wesentlich blutiger und grausamer sein als die bisherigen. Als weiteren negativen Punkt führten Marx und Engels an, dass die meisten Kriege weitere Kriege nach sich zögen. Dies sei deshalb der Fall, weil die im ersten Konflikt unterlegene Partei früher oder später versuchen würde, gewaltsam die Verhältnisse wieder zu ihren Gunsten zu verändern.
Als positive Auswirkung von Krieg registrierten Marx und Engels demgegenüber die mögliche Beschleunigung des revolutionären Prozesses in Richtung Kommunismus:46 Marx und Engels hatten festgestellt, dass jeder Krieg den gesellschaftlichen Strukturen der beteiligten Länder einen gewissen Druck auferlegte und den Niedergang sowie die Ablösung insbesondere von veralteten wirtschaftlichen und politischen Ordnungen fördern konnte.47 Selbst die aus einem Krieg siegreich hervorgegangenen Gesellschaften waren davon betroffen; die besiegten umso stärker. Diese Erkenntnis hatte Marx und Engels auf die These von der revolutionsfördernden Wirkung von Krieg gebracht: Jeder Krieg – auch ein von der «Ausbeuterklasse» geführter – könne unter Umständen den historischen Prozess in Richtung Kommunismus vorantreiben.48 Eine solche Beschleunigung des revolutionären Prozesses war aus marxistischer Sicht natürlich zu begrüssen. Marx und Engels hegten zeit ihres Lebens hinsichtlich jeder kriegerischen Auseinandersetzung die Hoffnung, sie werde den revolutionären Prozess beschleunigen.
(4) Marx’ und Engels’ Auffassung, die Funktion von Krieg bestehe darin, die von einer Klasse verfolgten Ziele durchzusetzen, sowie ihre These von der revolutionsfördernden Wirkung von Krieg bildeten die Grundlage für ihre Einstellung zum Krieg:49 Obwohl Marx und Engels den Krieg angesichts seiner negativen Begleiterscheinungen und Folgen grundsätzlich für ein Übel hielten,50 lehnten sie ihn – im Unterschied zu den Pazifisten – nicht prinzipiell ab. Sie hiessen einen Krieg immer dann gut und hofften auf seinen Ausbruch, wenn sie der Meinung waren, er sei für die Sache des Kommunismus förderlich. Wenn sie jedoch das Gefühl hatten, ein Krieg diene lediglich den Interessen der «Ausbeuterklasse», dann lehnten sie diesen