Soldaten, welche für die kommunistische Sache kämpften, im Allgemeinen einen viel höheren Einsatzwillen aufwiesen als Soldaten, welche im Dienste der «Bourgeoisie» standen, verleitete Lenin indes nicht zu einer Überschätzung des militärischen Potentials des jungen Sowjetstaates.100 Er war – wohl richtigerweise – der Meinung, dass die Rote Armee zu schwach sei, um erfolgreich Angriffe gegen die kapitalistische Welt führen zu können. Der Idee von offensiven «revolutionären Kriegen» stand er dementsprechend zunehmend vorsichtig gegenüber – erst recht, als 1920 der sowjetische Feldzug gegen Polen fehlschlug. In der Folge kam es unter Lenin nur noch einmal – unter Bedingungen, unter denen man sich des Sieges absolut sicher sein konnte – zu einem offensiven «revolutionären Krieg»: Im Frühjahr 1921 griff Sowjetrussland Georgien an, besetzte es und stürzte die dortige menschewistische Regierung.101 Anschliessend wurde der georgische Staat systematisch zerschlagen, in den Sowjetstaat eingegliedert und bolschewisiert.
(9) Im Unterschied zu Marx und Engels widmete sich Lenin recht intensiv der Frage, mit welchen Mitteln ein bestimmter Krieg geführt werde.102 Den Ausgangspunkt bildeten für ihn dabei zwei Grundaussagen von Clausewitz: Die erste besagt, die bekannte Clausewitz’sche Definition von Krieg anwendend, dass Staaten oder Bevölkerungsgruppen, die sich zum Führen eines Kriegs entschieden haben, solche Mittel und eine solche Strategie wählten, welche sie nicht nur den Krieg gewinnen liessen, sondern auch das dem Krieg zugrunde liegende politische Ziel. Anders gesagt: Die Strategie und die Mittel, die in einem Krieg angewandt werden, werden durch das jeweilige politische Ziel dieses Kriegs bestimmt. Die zweite Grundaussage lautet: Je wichtiger dieses jeweilige politische Ziel für den betreffenden Staat oder die betreffende Bevölkerungsgruppe ist, desto grössere Anstrengungen unternimmt diese Kriegspartei, das heisst, desto mehr und schwerere und grausamere Mittel setzt sie in diesem Krieg ein. Zum grausamsten Krieg, einem Krieg «auf Leben und Tod», kam es gemäss Clausewitz in jenen Fällen, wo das dem Krieg zugrunde liegende Ziel nicht bloss die Erreichung irgendeines materiellen Vorteils war, sondern die Vernichtung des Gegners aus Hass.
Lenin hielt diese Aussagen von Clausewitz grundsätzlich für richtig, mit der Einschränkung, dass dieser die entscheidende Bedeutung der Klassengegensätze auf den Verlauf der Geschichte nicht erkannt habe. Lenin passte die Clausewitz’schen Thesen deshalb im Sinn seines auf Klassenkämpfe fixierten Weltbildes an. Dabei kam er zum Schluss, dass Kriege zwischen unterschiedlichen Klassen – seien es innerstaatliche Bürgerkriege oder zwischenstaatliche Kriege zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten – in Bezug auf das Ausmass respektive die Form ihrer Austragung unmöglich «begrenzt» sein könnten. Er erklärte seine Ansicht wie folgt: Solche Kriege seien nicht einfach Kriege zwischen zwei zeitweilig verfeindeten Bevölkerungsgruppen oder Staaten, sondern Kriege zwischen zwei «von Natur aus» widerstreitenden Klassen. Dabei strebe die «Ausbeuterklasse» der Kapitalisten die totale Unterwerfung der Arbeiterklasse, und die «ausgebeutete» Klasse der Arbeiter die vollständige Vernichtung der «Kapitalistenklasse» an. Ein Krieg zwischen diesen Klassen bedeute somit für jede der beiden einen eigentlichen Existenzkampf, einen Kampf um ihr «Überleben». In einer solchen Situation würden beide Seiten logischerweise alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um einen Sieg des Gegners zu verhindern. Mit anderen Worten: Es komme zu einem «unbegrenzten Krieg».
(10) Die Frage, wann es zur Beendigung eines Kriegs komme, beantwortete Lenin dahin gehend, dass dies dann der Fall sei, wenn das dem Krieg zugrunde liegende politische Ziel vollständig erreicht sei.103 Diese Haltung ergab sich aus der von Marx und Engels aufgestellten und von Lenin wiederholten Forderung, dass ein Krieg nur dann angefangen werden dürfe, wenn kein anderes – friedliches – Mittel der Politik das gleiche Resultat verspreche wie Krieg. Daraus konnten nämlich für den Fall, dass tatsächlich der Entscheid zum Führen eines Kriegs gefällt wurde, die Gebote abgeleitet werden, dass erstens diese Kriegführung darauf ausgerichtet sein müsse, das entsprechende politische Ziel so schnell und ökonomisch als möglich zu erreichen, und dass zweitens der Krieg sofort beendet werden müsse, wenn das politische Ziel erreicht sei. Eine Fortsetzung des Kriegs «um des Krieges willen» kam für Lenin nicht in Frage.
(11) Angesichts der Tatsache, dass Lenin – ausgehend von Marx und Engels – die Existenz einer Klassengesellschaft als Kriegsursache ansah, verwundert es nicht, dass er wie seine Vorgänger die These vertrat, Kriege seien unvermeidbar, solange der Kapitalismus existiere.104 In Lenins Augen hatte diese Aussage durch das Eintreten des Kapitalismus in das Stadium des Imperialismus sogar noch verstärkte Gültigkeit erlangt: Die «Ergebnisse des modernen Monopolkapitalismus im Weltmassstab […] zeigen, dass auf einer solchen wirtschaftlichen Grundlage, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht, imperialistische Kriege absolut unvermeidlich sind.»105
Die Theorie, dass Kriege unvermeidbar seien, solange nicht eine kommunistische klassenlose und staatenlose Weltordnung errichtet sei, bezog sich auf Kriege zwischen kapitalistischen Staaten. Es stellt sich somit die Frage, welche Haltung Lenin hinsichtlich der Vermeidbarkeit von Kriegen zwischen kapitalistischen und kommunistischen Staaten einnahm.106 Die Aussagen Lenins zu diesem Thema fielen zu unterschiedlichen Zeitpunkten sehr verschieden aus. Drei Phasen lassen sich erkennen:
Vor der Oktoberrevolution äusserte sich Lenin nicht direkt zur Frage der Vermeidbarkeit von Kriegen zwischen kapitalistischen und kommunistischen Staaten. Seine diesbezügliche Haltung lässt sich jedoch ableiten. Lenin war nämlich der Überzeugung, dass der langfristige Erfolg einer nationalen proletarischen Revolution von der «Weltrevolution» abhängig sei. Mit anderen Worten: Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft in einem Land könne nur dann vollständig und endgültig gelingen, wenn auch der Rest der Welt – insbesondere die hoch entwickelten Industriestaaten Westeuropas und Nordamerikas – von der Revolution erfasst werde. Ein kommunistisch gewordenes Land müsse deshalb, wenn es eine Zukunft haben wolle, die Ausbreitung der Revolution vorantreiben, wenn nötig auch mit gewaltsamen Mitteln, sprich in Form eines offensiven «revolutionären Krieges».107 Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass Lenin die Ansicht vertrat, zwischen kommunistischen und kapitalistischen Staaten sei der Krieg unvermeidlich.
Unmittelbar nach der Oktoberrevolution, als Lenins Bolschewiki in einem Bürgerkrieg gegen die von den westlichen Alliierten unterstützten antibolschewistischen Kräfte um die Macht in Russland kämpfen mussten und als in Westeuropa revolutionäre Unruhen herrschten, erklärte Lenin, ein bewaffneter Konflikt zwischen dem Sowjetstaat und den kapitalistischen Mächten sei absolut unausweichlich.108 Er behauptete dies wohl hauptsächlich deshalb, weil er sich davon eine Stärkung der nationalen Einheit sowie der Kampfbereitschaft der sowjetischen Bevölkerung versprach. Bezüglich des Auslösers des behaupteten unvermeidlichen Zusammenstosses zwischen den beiden Systemen äusserte sich Lenin zunehmend vage: Einerseits hielt er – da er den «endgültige[n] Sieg des Sozialismus in einem Lande» weiterhin für «unmöglich» erachtete109 – nach wie vor an der Idee eines offensiven «revolutionären Krieges» durch den Sowjetstaat fest.110 Andererseits jedoch betonte er nun immer stärker die angebliche Absicht der Kapitalisten, einen «konterrevolutionären Angriff» auf den ersten sozialistischen Staat zu unternehmen: Die Existenz eines Arbeiter- und Bauernstaates stelle für die in den kapitalistischen Ländern herrschende «Bourgeoisie» eine zu grosse Bedrohung dar, als dass diese sich damit abfinden könne.111 Ein sozialistischer oder kommunistischer Staat unterstütze nämlich das Proletariat in den kapitalistischen Ländern indirekt und direkt in seinen revolutionären Bestrebungen und bewirke so letztlich den Sturz der dortigen «Bourgeoisie». Wolle die «Bourgeoisie» dies verhindern, müsse sie den kommunistischen Staat zerschlagen.
Ab 1922, als Russland sich in einer wirtschaftlichen Krisensituation befand und in den Industriestaaten Westeuropas die Revolution ausgeblieben war, änderte sich Lenins Haltung: Er erwähnte nun vermehrt die Möglichkeit eines länger dauernden Friedens zwischen der Sowjetunion und den kapitalistischen Staaten. Von der Notwendigkeit der Weltrevolution sprach er kaum mehr. Im Gegenteil: Wie oben ausgeführt, distanzierte er sich – zumindest offiziell – zunehmend vom Vorhaben eines offensiven «revolutionären Krieges». Immer mehr tendierten seine Äusserungen dahin, dass es für eine friedliche Koexistenz der Sowjetunion und der kapitalistischen Staaten nur noch einen möglichen